Beiträge von Eleria Anuriel

    Eleria blickte überrascht zu dem Mann auf, der ihr gegenübersaß. "Soll das etwa eine Einladung sein, Arvanor Shet A'Kil?" Ihr Tonfall war neckend und ein leises Schmunzeln spielte um ihre Lippen.


    Tatsächlich war sie seit einiger Zeit der Gesellschaft ferngeblieben. Es stand ihr selten der Sinn nach den Bällen und Festlichkeiten, die sich gegenseitig an Dekadenz zu übertrumpfen versuchten. Und wozu sollte sie Feste besuchen? Die meisten Wesen reagierten mit Ehrfurcht auf ihr Erscheinen. Es war ihr kaum jemals möglich, als eine Sterbliche behandelt zu werden. Ihr Erbe machte es unmöglich, dass man sie als ihresgleichen ansah. Sie war ein Fremdkörper in ihrer Mitte, nicht mehr als das. Gespräche verstummten, Blicke wurden ängstlich. Man fürchtete, dass sie in dem Geist ihrer Beobachter zu lesen vermochte, was man über sie dachte.


    Auch das Erstarken Narions machte ihr Sorgen. Es war ihr nicht nach Feiern zumute, wenn der Gott des Feuers wieder in aller Munde war. Sie fürchtete um die Insel.


    Dennoch ... sie seufzte. "Aber Ihr habt recht, ich bin eine Einsiedlerin geworden, nicht wahr?" Beinahe meinte man, einen schwachen Hauch von Röte auf ihren bleichen Wangen zu entdecken.

    "Tatsächlich würde ich Eure Kinder gerne kennenlernen, Arvanor. Wir Ihr wisst, sind wir gewissermaßen verwandt."


    Elerias Lippen zeigten ein schmales Lächeln, ein Hinweis auf die ungeliebte Tatsache, dass Shirashai auch ein Teil ihres eigenen Blutes war.


    Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf das kleine Kästchen, aus dem Arvanor den weißen Kristall hervorbefördert hatte. Ihre Brauen wanderten überrascht empor, als sie den Stein entgegennahm und ihn nachdenklich in den Fingern drehte. Kleine Lichtflecken wanderten über ihr Gesicht und die Wände des Turmes, während sie ihn begutachtete.


    "Ein Blutstein, sagt Ihr? Ein gefährlicher Fund. Ich frage mich, wie er dorthin gelangt ist. Nein, Ihr habt gut daran getan, ihn zu vernichten. Ein solches Objekt würde ich nur ungern in den falschen Händen wissen."


    Sie musterte ihr Gegenüber prüfend und es war unschwer zu erkennen, dass sie an die Kreatur dachte, die einst seine Seele geteilt hatte.

    »Arvanor ... es ist lange her ...«


    Noch immer wandte sie dem Mann den Rücken zu und sah über die Stadt, wirkte sogar ein wenig abwesend. Dann drehte sie sich herum und ein Lächeln erwärmte die marmorgleichen Züge der mächtigsten Frau, die auf der Insel lebte.


    »Ich dachte schon, dass Ihr mich vergessen habt.«


    Die Jahre vergingen, ohne in ihrem Gesicht Spuren zu hinterlassen. Das göttliche Blut täuschte darüber hinweg, dass Eleria Anuriel schon viele Jahrhunderte auf dieser Welt zugebracht hatte. In dieser Hinsicht glich sie dem Mann, der nun vor ihr stand. Ein einfacher Mensch scheinbar und doch viel mehr als das.
    Sie wies auf eine Sesselgruppe, die zu ihrer Rechten aufgestellt war, schritt selbst hinüber, um darauf Platz zu nehmen.


    »Ich hoffe, dass sie nicht allzu viel von ihrer Mutter geerbt haben.«


    Ein bitterer Unterton schlich sich in ihre Stimme. Sie überspielte die Reaktion, indem sie Wein aus einer bereitstehenden Karaffe in zwei kristallene Kelche füllte und einen davon ihrem Gegenüber reichte.

    Es war Nastranna, die dem Adeligen die Tür öffnete. Für einen Augenblick war Staunen in den Augen des silberhaarigen Elfenmädchens zu erkennen, dann trat sie mit einem Lächeln und einigen grüßenden Worten zurück und ließ ihn eintreten.
    Es hatte sich in all der Zeit nur wenig an der Einrichtung des Turmes verändert. Noch immer strahlte er eine unerwartete Gemütlichkeit aus, die nicht recht zu dem passen wollte, was man von der weißen Hexe im Allgemeinen behauptete. Es war ordentlich, erinnerte ein wenig an die Einrichtung elfischer Häuser, was nicht verwunderlich war, wenn man die Geschichte dieser Frau recht bedachte.
    Trotzdem schien sie sich nicht in den unteren Räumen aufzuhalten. Nastranna ging voran und führte Arvanor die endlos erscheinenden Treppen empor, bis sie nach einer Weile im oberen Bereich angelangt waren. Es war unwahrscheinlich, dass Eleria sich oft selbst diesem Weg aussetzte. Sicherlich würde sie über Möglichkeiten verfügen, auf schnellere Weise nach oben zu gelangen. Einem Besucher oblag dieser Vorteil jedoch nicht. Wer zu der weißen Hexe wollte, musste sich dieses Privileg erst mit der Kraft seiner Beine verdienen.


    Und tatsächlich, bis in die Turmspitze hinein ging es, bevor Nastranna die Tür öffnete, die in Elerias Allerheiligstes führte. Es war ihr Arbeitszimmer. Hoch oben, in luftigen Höhen, gewährte es einen Blick über ganz Nir’alenar und die Stadtgrenzen hinaus.
    Und dort stand sie, die weiße Hexe. In ein Gewand aus blauem Samt gekleidet, ließ sie die Augen über ihre Stadt schweifen, kehrte ihrem Besucher noch den Rücken zu. Das lange, schwarze Haar, das über ihren Körper floss, verbarg ihre Gestalt hinter einem Schleier, der an flüssige Seide erinnerte.

    Leise zog sich Eleria zurück, überließ den Nachtelfen seinen Eindrücken, die sein Herz nun so erfüllten, daß er alles um sich herum vergaß. In ihre Gedanken versunken, ließ sie sich auf einem der Sessel nieder, die vor ihrem Kamin standen, blickte hinaus über das erwachende Nir'alenar und weiter hinaus zu Orten, die nur sie selbst erkennen konnte.


    Ruhe kehrte im Turm der weißen Hexe ein, während Eleria über das soeben erlebte nachdachte, über die Pläne des Nachtelfen und die Auswirkungen, die diese auf sein Leben haben würden. Ein Wesen mehr, das sich gegen die Dunkelheit stemmen würde. Doch zu welchem Ergebnis, würde abzuwarten sein...

    "Ihr würdet euch wundern, was die Wesen Beleriars zu glauben fähig sind, Sicil. Und ihr seid nicht der erste Vertreter eurer Art, der sich einer solchen Aufgabe verschrieben hat. Die Nachtelfen werden von all jenen nicht gemieden, die sich der Wahrheit anstelle des Aberglaubens und der Vorurteile verschrieben haben und ihre Zahl ist höher, als man denken würde."


    Eleria lächelte milde und auf gewisse Weise auch ermutigend. Natürlich hatte er Recht - diejenigen, die einen Nachtelfen aufgrund ihres Makels ablehnen würden, waren in der Überzahl. Und sie würden eher schreiend vor einem von ihnen davonlaufen, anstatt sich helfen zu lassen.
    So nickte sie also zustimmend - sein Plan hatte durchaus einen gewissen Reiz und er würde ihn davon abhalten, in seinem Elend zu ertrinken und sich in die Dunkelheit fallen zu lassen.


    "Natürlich werde ich euch helfen, Sicil. Was immer ich für euch tun kann, soll geschehen. Geht hinaus und werdet zum Hüter und Helfer derjenigen, die eurer Hilfe bedürfen. Und vielleicht werdet ihr sogar Freunde finden - auch wenn ich euch warnen muss. Ihr werdet den Mächten der Dunkelheit ein Dorn im Auge sein. Und damit meine ich keineswegs allein Shirashai. Denn bedenkt, daß sie nicht der einzige Quell der Dunkelheit auf Niel'Anor ist. Manche Dunkelheit ist schwerer zu durchblicken und düsterer als eine Nacht ohne Mond und Sternenschein."


    Ja, der Weg des Nachtelfen würde nicht einfach sein. Er war steinig und voller Gefahren, denn es würde kaum viel Zeit in Anspruch nehmen, bis er damit den Plan einer der Mächte Nir'alenars durchkreuzen würde. Und sicher würden dann alle Mittel aufgebracht werden, um ihn zur Strecke zu bringen.

    "Natürlich dürft ihr das... wann immer ihr wollt. Meine Tür steht euch offen, wenn die Nacht euch das Licht verwehren möchte."


    Elerias feine Brauen zogen sich über ihrer Nase zusammen, während sie versuchte, den verborgenen Sinn hinter den Worten des Nachtelfen zu erfassen. Sie hatte etwas in ihm ausgelöst, daran gab es keinerlei Zweifel. Doch um was genau es sich dabei handelte, konnte die Tochter Eriadnes noch nicht ergründen.
    Doch Sicil schien wie ausgewechselt. Die Melancholie und die Bitterkeit waren verschwunden und hatten etwas anderem Platz gemacht. Tatendrang und Begeisterung für etwas.


    Fasziniert beobachtete sie das Schauspiel, das vor ihren Augen abspielte, immer wieder erstaunt über die Kunstfertigkeit der Nachtelfen und das Talent, das Licht der Sterne in eine feste, schimmernde Form zu bringen. Eine Gabe der Liaril, die einzig ihre verlorenen Kinder damit beschenkt hatte, um ihnen etwas zu geben, das keines ihrer anderen Kinder zu vollbringen vermochte. Es war ein schwacher Trost für den ewigen Verlust des Lichtes, doch die Sternenmutter hatte es nicht vermocht, Shirashais Einfluß auf die Nachtelfen ungeschehen zu machen. Keine Gottheit Niel'Anors, und sei sie noch so mächtig, konnte sich einfach der Macht eines anderen Gottes widersetzen und Shirashai war eine der sechs Hohen. Ihr Fluch war nicht leicht zu brechen.


    Als der magische Vorgang beendet war, hielt der Nachtelf eine Maske in den Händen. Eine Maske, die sein Gesicht vollkommen verbarg und die, wie das Licht der Sterne selbst, über seinen dunklen Zügen funkelte und schimmerte, sie damit gleichsam auslöschte.
    Fragend blickte sie ihn an, noch nicht sicher darüber, wie sie diesen plötzlichen Wandel und seine Eingebung einzuordnen hatte. Es gelang ihr nicht sofort, darin etwas zu erkennen, das sie vorgeschlagen hatte.


    "Ihr möchtet euer Gesicht verbergen, Sicil? Wozu?"

    "Wenn ihr von dem Wunsch, zu helfen, beseelt seid, Sicil - warum bietet ihr eure Hilfe dann nicht all jenen an, die eurer Hilfe bedürfen? So viele Wesen dort draussen sind allein und ohne eine helfende Hand. Ohne jemanden, der für sie da ist und sie schützt. Warum nutzt ihr die Kraft eurer Klinge und eures Talentes nicht, um jenen zur Gerechtigkeit zu verhelfen, die niemanden haben, der für sie eintritt?"


    Eleria wandte sich von der Stadt ab und blickte den Nachtelfen aus ihren blauen, undurchdringlichen Augen an. Sie verstand seinen Wunsch ihr zu helfen - doch es gab kein Wesen auf Beleriar, das dies vermochte. Und überdies trug sie ihre Bürde aus freien Stücken und folgte damit dem Weg, den sie beschreiten musste.


    "Und Elaiya hat ihren Preis aus Liebe bezahlt. Aus ihrer Liebe zu euch und aus freien Stücken. Verratet nicht das, was sie für euch getan hat, indem ihr zu einem kalten, einsamen Wesen werdet. Euer Schicksal liegt allein in eurer Hand und folgt euren Entscheidungen."


    Wenige Schritte trugen sie durch den Raum zu dem Platz vor dem Kamin und beinahe liebevoll strich die Hand über die Lehne des Sessels, in dem sie an so vielen Tagen saß und der schon so manchen Besucher erblickt hatte. Der Nachtelf erinnerte sie an einen anderen Besucher, der eine ebenso zerrissene Seele sein Eigen genannt hatte und der vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls mit ihr in diesem Raum verweilt hatte. Sicil kannte ihn, nicht wissend, daß beide ein ähnliches Schicksal verband, daß beide von der gleichen Göttin heimgesucht worden waren, die ihr Leben beeinflusste.


    "Und glaubt mir, das Blut der Göttlichkeit fließt durch meine Adern - ich bin nicht leicht zu verletzen. Doch es gibt so viele Wesen, denen diese Gabe nicht geschenkt worden ist und die euch wirklich brauchen."


    Ein leichtes Lächeln begleitete ihre Worte, während sie wieder auf dem Sessel nieder sank und den Nachtelfen dazu einlud, es ihr gleich zu tun und sich ebenfalls zu setzen.

    "Oh Sicil..."


    Die Magierin erhob sich von ihrem Sessel und trat an die Mauer ihres kristallenen Turmes, um nach draussen über die Stadt zu blicken, die sich zu allen Seiten von ihm ausgehend ausbreitete und über der die Stille der Nacht wie ein schweres, dunkles Tuch lag. Doch ihre Augen schienen weiter in die Ferne zu blicken, als der Nachtelf ihr zu folgen vermochte und es dauerte einen langen Augenblick, bis sie sich wieder zu ihm umwandte.


    "... niemand vermag es, die Bürde mit mir zu tragen, die auf mir lastet. Denn zu diesem Zweck wurde ich geboren und an dieses Leben gebunden, dessen Ende niemand vorherzusehen vermag. Es ist meine Aufgabe alles zu sehen, was auf dieser Insel geschieht. Jedes Leid zu erleben, jedoch auch die Freude, die ihr inne wohnt. Kein Sterbliches Wesen vermag es, dies mit mir zu teilen."


    Für einen Moment wanderten Elerias Gedanken in die Vergangenheit ihres langen Lebens, zu der Liebe, die sie erlebt hatte und die ihr genommen worden war. Zum Untergang Beleriars, den sie an der Seite ihrer Mutter erlebte, als die Götter auf Beleriar ihren eigenen Krieg ausfochten und der für immer Wunden auf ihrer Seele hinterlassen hatte.


    "Ein langes Leben birgt vieles in sich. Gewinn, Weisheit... und auch den Verlust. Und manchmal werden diese Wunden niemals geheilt, da sie zu tief sind, um sich schließen zu können. Doch sorgt euch nicht um mich."


    Ein Lächeln wischte für die Dauer eines Wimpernschlages die Melancholie von Elerias Gesicht, so als sei ein unsichtbarer Schleier gefallen.


    "Und wenn ihr etwas gut machen möchtet, dann gebt euch nicht der Dunkelheit und dem Selbstmitleid hin, sondern kämpft für das Licht in eurem Herzen. Das wäre mir mehr als genug und das größte Geschenk, das ihr mir machen könntet."

    Ruhig nahm Eleria die Statue des Nachtelfen entgegen und betrachtete sie für einen Augenblick, strich mit den Fingern über das seltsame Material, das sich kühl anfühlte. Wohl bemerkte sie, daß der Nachtelf die Dinge anders dargestellt hatte, als sie in Wirklichkeit waren und ein leichtes Lächeln spielte erneut um ihre Mundwinkel. Denn obgleich er sich in die Arme des Schattens werfen wollte, so vermochte er es dennoch nicht, seine Existenz in Leben aller Lebewesen zuzulassen.


    "Kein Sterblicher kann eine Gottheit töten, Sicil. Und es ist gut, daß wir es nicht vermögen, denn keiner von uns kann die Wege der Göttlichkeit ergründen und wie schnell wäre das Gleichgewicht verletzt? Denn so wie ihr Shirashai töten möchtet für das, was sie ist, so würde ein Anhänger des Schattens nur zu gerne das Licht Eriadnes aus unserem Leben verbannen. Und damit unsere Welt in ein Chaos stürzen."


    Mit einem leisen Wort beschwor die Erzmagierin eine kleine Kugel reinen, weißen Lichts, das über ihre Handfläche tanzte und das den Schatten der Büste auf den Boden zu ihren Füßen warf und ein dunkles Abbild ihrer Konturen erschuf.


    "Denn seht, ohne Schatten kann es kein Licht geben und ohne Licht keinen Schatten. Beide Elemente müssen existieren und im Gleichgewicht leben, so wie die Nacht den Tag ablösen muss, um uns Ruhe und Erholung zu verschaffen, wenn die Sonne am Tage gar zu heiß brennt. So ist es immer gewesen und so wird es immer sein."


    Ein weiteres Wort ließ die Kugel erlöschen und Eleria stellte die Statue auf dem Sims des Kamins ab, bevor sie sich wieder auf dem Sessel niederließ.


    "Die Gegensätze aller Elemente bestimmen unser Leben. Die Ruhe der Erde gleicht die Unbeständigkeit des Windes aus und verwurzelt uns auf dem Boden, während die Luft uns die Leichtigkeit gibt und den Atem des Lebens. Wasser löscht die Hitze des Feuers und stillt unseren Durst. Doch wenn das Wasser uns zu ersticken droht, so wird das Feuer uns wärmen und das Wasser vertreiben. Und auch wenn in meinen Augen die Traurigkeit wohnt, so kann es ohne sie doch keine Freude geben.
    Ihr könnt nicht das eine aus eurem Leben verbannen, ohne das andere überwiegen zu lassen und das Gleichgewicht zu stören. Und so ist es auch mit dem Licht und der Dunkelheit. Beides muss nebeneinander leben und keines davon darf die Oberhand gewinnen."


    Für einen Augenblick schwieg die Erzmagierin und erlaubte es dem Nachtelfen, seine eigenen Gedanken zu verfolgen. Es war nicht schwierig, den Gedanken und die Folgen einer Störung des Gleichgewichtes weiterzuspinnen und sie erlaubte es ihm, selbst darüber nachzudenken, was sein Wunsch zur Folge haben müsste, würde er wirklich erreichen, wonach er strebte.


    "Würdet ihr denn wirklich das ewige Licht der Sonne dem Wechsel von Tag und Nacht vorziehen, Sicil? Ihr müsst es zulassen, daß beides in euch lebt, doch ihr dürft keinem davon die Oberhand überlassen oder einen Teil von euch verleugnen. Der Schmerz wird ewig in eurem Herzen leben. Doch so wie euch das Licht der Sonne verweigert ist, so existiert er in jedem von uns auf eine andere Weise. Ihr seid nicht allein mit einer solchen Bürde."

    Beinahe tanzte ein amüsiertes Licht in Elerias Augen und für einen Augenblick schien es gar, als seien ihre Mundwinkel zu einem leichten Lächeln empor gezogen, das versonnen in ihr Inneres blickte und dort etwas sah, das nur für ihre Augen bestimmt war.


    "Seid euch versichert, Sicil, daß die meisten Wesen, die mich in meinem Turm aufsuchen, nur Sorgen und Nöte in ihrem Herzen tragen. Es muss euch also nicht leid tun, daß ihr sie über meine Schwelle gebracht habt. Und überdies ist es meine Aufgabe, die Sorgen und Nöte der Wesen Beleriars zu lindern, so ich es denn vermag."


    Das Lächeln verschwand von Elerias Zügen und ließ nur die Melancholie dort zurück, die stets in ihrem Herzen wohnte. Ein leichtes Kopfschütteln begleitete das Ende der Rede des Nachtelfen und anstatt ihn aus ihrem Turm zu entlassen, wies eine Geste auf einen der beiden Sessel, die ihren Platz neben dem Kamin gefunden hatten und die Eleria Ruhe und Trost spendeten, wenn sich die seltene Gelegenheit dazu bot.


    "Wenn ihr euch der Dunkelheit kampflos ergebt, so habt ihr den Kampf bereits verloren, bevor ihr euch ihm gestellt habt. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Feigheit in eurem Herzen so groß sein soll, daß sie dies einfach zulassen würde. Denn auch wenn das Licht so fern zu sein scheint, so wohnt es doch in eurem Herzen. Wie könnt ihr den Funken einfach auslöschen, ohne auch nur zu versuchen, ihn am Leben zu halten? Wie könnt ihr die Freundschaft so verraten, die euch entgegen gebracht worden ist und die euer Leben mit Sinn erfüllt hat?


    Wie könnt ihr euch dem Fluch der Dunkelheit hingeben, ohne auf Erlösung zu hoffen und damit alle Liebe, die in eurem Leben gelebt hat, mit Füßen treten?"


    Bei den letzten Worten war die sanfte Stimme der Erzmagierin hart geworden und ihre Augen waren gerade auf den Nachtelfen gerichtet und schienen in sein Innerstes zu blicken, ohne eine Barriere zu kennen, die sie aufzuhalten vermochte


    "Und warum glaubt ihr, daß der Jünger der Nacht soviel stärker ist, als ihr es seid, der soviel Leid ertragen hat? Seht ihr denn nicht, daß das Leid euch Stärke verliehen hat? Zweifelt nicht daran."

    "Warum wollt ihr so freiwillig in der Dunkelheit wandeln, nur weil sie euch verschlingen möchte, Sicil i Undómê? Was soll euch dazu zwingen, aus der Demütigung heraus ein Wesen der Finsternis zu werden, das sie willig umarmt und sich ihr ergibt? Was soll euer Herz verdunkeln, wenn ihr es nicht selbst tut?"


    Elerias Schritte waren zu leise gewesen, als daß Sicil sie hatte vernehmen können, während er blind in seinen Gedanken verstrickt durch ihren Turm gewandert war. Nun vernahm er das sanfte Raschen der blauen Seide, die ihren Körper verhüllte und die gleich einer Schleppe über den Boden strich.


    "Denn auch wenn ihr nicht frei sein mögt, so zu handeln, wie es euch gefällt, so sind eure Gedanken doch stets die Euren und es liegt an euch, was ihr aus dem Fluch zu machen versteht, der euch an die Nacht bindet."


    Mit diesen Worten trat sie schließlich in sein Blickfeld, auch wenn sein gesenkter Kopf und seine knieende Haltung verhinderten, daß er den traurigen Blick ihrer blauen Augen zu sehen vermochte, die auf seiner Gestalt ruhten. Elerias Präsenz erfüllte den Raum mit einer beinahe spürbaren Macht, die in der Luft zu vibrieren schien, doch es war keine Wut darin spürbar. Nur die tiefe Traurigkeit, die ihr Herz erfüllte, nun, da sich dieses Wesen dem Ruf der Nacht hingeben wollte.


    "Und seid gewiss, hätte ich euch niederstrecken wollen, so wäret ihr niemals bei lebendigen Leib über meine Schwelle getreten."

    "Meine Tür wird euch nicht verschlossen bleiben, Sicil i Undómê. Und nun zögert nich mehr und sucht die Dame eures Herzens auf. Man sollte die Liebe niemals allzu lange warten lassen, sonst kommt sie vielleicht nicht mehr zurück."


    Mit diesen Worten entließ die Erzmagierin den Nachtelfen aus ihrem Turm und wandte sich zu der Stadt um, um das erwachende Leben darin zu betrachten. Wie lange war es her, daß sie selbst ihre große Liebe verloren hatte? Sie gedachte ihm an jedem Tag und die Wunde in ihrem Herzen war niemals verheilt und hatte es mit einem nie endenden Schmerz zurückgelassen.
    Ja, sie hoffte, daß der Nachtelf seine Liebe nicht zerstören würde - in dem Versuch etwas zu ändern, das nicht in seiner Macht lag.
    Elerias Gedanken wanderten in die Ferne, während sie, wie an jedem Morgen, ihre Wache hielt.

    Die Erzmagierin ließ ihre tiefen, blauen Augen auf dem Nachtelfen ruhen und gab ihm Zeit den Anblick der Morgensonne in sich aufzunehmen. Erst als er sie ansprach, regte sich Eleria und ein Lächeln spielte über ihre Lippen.


    "Warum so bitter, Sicil i Undómê? Habt ihr die Fähigkeit verloren euch über das zu freuen, was euch geschenkt wird? Das solltet ihr nicht, denn auch wenn euer Leben unter einem Fluch begonnen worden ist, so ist es doch an euch, es glücklich zu gestalten.


    Denn Shirashais Fluch ist nur für jene eine Strafe, die ihr Leben als eine solche empfinden. Sie hat keine Freude daran, wenn ein Wesen nicht darunter leidet. Eure Bitterkeit belohnt und erfreut die Göttin der Nacht - denkt daran, wenn ihr wieder in die Welt hinaus zieht."


    Tatsächlich war dies eine unumstößliche Tatsache - Shirashai erfreute sich an dem Leiden ihrer Flüche. Nichts war eine größere Strafe für sie, als wenn ihr Tun fehl ging und keinen Effekt hervor rief. Doch dieser Nachtelf hier war so in seiner Bitterkeit gefangen, daß ihre Worte wohl an ihm abprallen mussten wie an einem eisernen Panzer.


    Als Sicil Eleria die Statuette reichte, nahm sie diese mit einer Neigung ihres Kopfes entgegen - sie bestand aus reinem Mondlicht - jenem Material, das nur für Nachtelfen greifbar war. Sie war wunderschön gearbeitet - ein besonderes Talent, das man nur selten fand.


    "Seid euch meines Dankes gewiss... und wenn ihr eine Dame um Verzeihung zu beten habt, dann solltet ihr niemals damit zögern - ich bin mir sicher, daß sie schon sehnsüchtig auf euch wartet und in großer Sorge ist."

    Auf Elerias Gesicht wechselten sich die Gefühle ab - Wut zeichnete sich darauf ab, Ärger, Mitleid. Ihre unergründlichen Augen, die schon so vieles gesehen hatten und in denen die Weisheit vieler erlebter Jahre stand, ruhten auf dem Nachtelfen. Die Erzmagierin von Nir'alenar schüttelte langsam den Kopf und ließ den Blick für einen Augenblick auf der Stadt ruhen, in der das Leben erwachte bevor sie sich wieder zu ihm umwandte.


    "Nein, ich kann euch nicht hier behalten, doch ich verwehre es euch nicht, hierher zurück zu kehren, wenn ihr Sehnsucht nach dem Licht der Sonne habt."


    Sie schwieg für einen Augenblick, um dem Nachtelfen die Gelegenheit zu bieten, das Licht in sich aufzunehmen, dann sprach sie mit einer milden Strenge in der Stimme weiter.


    "Aber kommt zur Vernunft, Sicil i Undómê. Ihr wollt euch in einen Krieg stürzen, den ihr nicht gewinnen könnt und der nur Unglück über euch und jene die ihr liebt bringen kann. Das Auge Shirashais ruht nicht mehr auf euch und es wird nicht mehr zurückkehren. Ihr wart ein Spielzeug, eine kurze Zerstreuung, nicht mehr als das.
    Wollt ihr wirklich die Aufmerksamkeit einer Göttin auf euch ziehen? Ihre Wut? Wozu? Sie wird den Fluch nicht von euch nehmen und auch nicht von eurem Volk.


    Nein, Shirashais Aufmerksamkeit ist nur kurz, ihr Interesse erlischt schnell. Wollt ihr sie wirklich wieder auf euch ziehen? Ist es das wert?"


    Eleria spürte noch immer, daß sich Shirashai in der Stadt aufhielt - nicht weit von hier im Park... und sie wusste auch, wer sich bei ihr befand. Es war jener, der vor langer Zeit ebenfalls zu ihr kam, um ihre Hilfe zu erbitten. Ein kurzes Gebet wanderte zu Eriadne empor und die weiße Hexe schloß für einen Augenblick die Augen, während eine helle Träne über ihre Wange rann und im Licht der erstarkenden Morgensonne glitzerte.


    Bitte Mutter, laß ihn widerstehen. Laß nicht zu, daß er ihr noch einmal verfällt und in ihre Fänge gerät...

    "Tretet ein, Sicil i Undómê. Und fürchtet das Licht der Sonne nicht, es wird euch nicht verletzen, solange ihr in meiner Nähe weilt."


    Elerias Stimme klang ruhig und erhaben. Sie legte sich um Sicil wie das wärmende Licht der Sonne und linderte seine Angst. Die weiße Hexe bewegte sich nicht und dies war auch nicht notwendig, denn ihre Präsenz füllte den ganzen Raum aus wie ein strahlendes Licht. Eleria Anuriel war die Tochter einer Göttin und man spürte ihre Herkunft in jeder ihrer Bewegungen, in jedem ihrer Worte.


    "Ich habe gespürt, daß Shirashai in der Stadt wandelt und ich habe gesehen, was sie getan hat. Doch fürchtet euch nicht - ihre Aufmerksamkeit ist flüchtig wie der Schatten, der vom Sonnenlicht vertrieben wird. Eure Freunde sind in Sicherheit, wenn ihr klug handelt."


    Die Erzmagierin blickte den Nachtelfen voller Mitleid an, während das Licht der Sonne immer stärker wurde und den Turm in sein Licht tauchte. Wie grausam musste es sein, unter dem Fluch der Shirashai zu leben? Wie viele Nachtelfen hatte sie erlebt, die daran verzweifelt waren. Es waren zu viele...

    Eleria wartete. Sie sah, wie sich der Nachtelf die Stufen hinauf bewegte und sie spürte sein Staunen darüber, daß sie ihm freien Einlaß gewährt hatte. Aber was sollte sie fürchten? Warum sollte sie ihm den Einlaß verwehren?
    So stand sie also nun in dem Kaminzimmer, eine Hand auf die Rückenlehne ihres Sessels gelegt, ruhig wie die Marmostatue, der sie so sehr ähnelte und wartete auf den Nachtelfen.
    Einige gemurmelte Worte schirmten das Innere des Turmes ab und hielten die neugierigen Blicke aus dem Inneren des Kristallturmes fern.
    Der Nachtelf musste das Sonnenlicht im Inneren dieses Turmes nicht fürchten, denn der Kristall war ein Geschenk von den Kindern des Mondes gewesen und er trotzte dem Fluch der Göttin der Nacht.

    Nein, Eleria war nicht wirklich in das Buch vertieft, das auf ihrem Schoß lag und ebenso wie sie wusste, was in der Stadt geschehen war, so wusste sie auch, was dem Nachtelfen geschehen war. Eleria sah alles, was in der Stadt vor sich ging und Shirashais Anwesenheit war wie ein dunkler Tintenfleck unter der Kuppel spürbar. Ihre Tante machte sich niemals die Mühe, ihre Anwesenheit zu verbergen, zu sehr liebte sie es, Eleria damit zu reizen und heraus zu fordern. Und tatsächlich - obgleich Eleria nichtmachtlos war, floß das Blut der Götter nur zur Hälfte in ihren Adern. So war sie also stärker als alle Sterblichen dieser Welt - aber ihre Macht war eingeschränkt.
    Die Erzmagierin von Nir'alenar legte seufzend ihr Buch beiseite und erhob sich von ihrem Sessel. Nur eine Handbewegung von ihr ließ die Tür des blauen Turmes aufschwingen und das Licht von innen heraus dringen. Nastranna war zum magischen Spektakel gegangen, um sich die Darbietungen der Magier anzusehen und so war Eleria allein mit der weißen Katze, die mir einem protestierenden Maunzen von dem Sessel hinab sprang, auf dem sie zuvor an Elerias Seite geruht hatte.

    Ein Gebäude, das sicher das Stadtbild von Nir'alenar prägt ist der gläserne Turm der Eleria Anuriel, der genau in der Mitte der Stadt zwischen allen Vierteln steht.
    Der gläserne Turm glitzert im Licht unter dem Meer und spiegelt das blaue Wasser wieder. Saphire leuchten um die Spitze des runden Turmes herum und werfen ein bläuliches Licht auf seine Umgebung. Durch den Turm kann man in das Innere blicken und die Magierin bei den meisten Tätigkeiten beobachten, die sie darin ausführt. Aus dem Inneren heraus sind die Wände magisch und lassen Eleria an jeden Ort in der Stadt blicken, den sie zu sehen wünscht.
    Der Turm verläuft jedoch nicht gerade nach oben, sondern wird in der Mitte schlanker und nach oben und unten hin breiter. Die Fenster sind mit Gittern verziert, die verschiedene, verschnörkelte Muster zeigen und lassen Luft in sein Inneres, wenn Eleria dies wünscht.
    Die Erzmagiern lebt hier mit ihrem Lehrling, einer jungen Magierin, die auf den Namen Nastranna hört und die Eleria im täglichen Leben zur Hand geht. Im Grunde handelt es sich hierbei schon lange nicht mehr um eine Beziehung zwischen Schülerin und Meisterin, sondern eher um eine tiefe Freundschaft und ein Vertrauensverhältnis, das für die oftmals einsame Magierin sehr wichtig geworden ist.
    Im Inneren ist der Turm gemütlich eingerichtet, mit Polstersesseln, wertvollen Stühlen und stilvollen Holzmöbeln. Ein Kamin, in dem immer ein kleines, magisches Feuer lodert, sorgt dafür, dass es selbst an Wintertagen nicht zu kalt wird. Eleria und ihr Lehrling verwenden, wenn sie ungestört sein wollen, von Zeit zu Zeit einen Unsichtbarkeitszauber, der dann über dem Turm liegt und sie vor neugierigen Blicken schützt. Ein solcher Zauber schützt auch ihre Schlafzimmer und schirmt diese somit vor allzu neugierigen Blicken ab.
    Das Dach des Turmes besitzt runde Fenster, aus denen man die ganze Stadt überblicken kann und ist somit der einzige Bereich, der nicht eingesehen werden kann. Dies ist auch nicht unwichtig, da Eleria hier ihre magischen Studien betreibt und einige Dinge aufbewahrt, die nicht für die Öffentlichkeit einsehbar sein sollten. Entsprechend ist dieser Bereich durch sehr starke Schutzzauber gesichert, die nur von Eleria selbst außer Kraft gesetzt werden können.
    Um den Turm herum gibt es einen kleinen Garten, der von einem Zaun geschützt wird, in dem Eleria allerlei Pflanzen großzieht. Ein kleiner Springbrunnen plätschert hier den ganzen Tag und Elerias weiße Sternenkatze Luria springt meist darin umher oder schläft auf einer weißen Holzbank, die zum verweilen einlädt.