Beiträge von Shizar

    Shizar faltete die Hände und schwieg für einen langen Moment. Sie blickte zur Seite. Sich wohl bewusst, dass sie ihre Lage für den Augenblick kaum ändern konnte. Und doch ... könnte sie hinausgehen ... zurück zu ihrem Zuhause ...


    ... und vermutlich den Tod dabei finden.


    Sie stieß den Atem aus und hob die Schultern. "Eure Verbündeten haben mein Haus unberührt vorgefunden?"


    Shizar vermochte kaum, daran zu glauben, dass niemand ihrer Rückkehr geharrt hatte. Eine törichte Hoffnung ... sinnlos. Als würde ihr die Bestätigung, dass niemand auf sie gewartet hatte, dass die letzte Nacht ein Zufall gewesen war, ihr dazu verhelfen, wieder in ihr Leben zurückzukehren. Daran zu glauben, dass all das nicht mehr als ein Albtraum war, aus dem sie erwachen konnte.


    Dumm ... und doch ...

    Ein wenig Zeit ...


    Shizar schnaubte leise. Es war nicht so, dass sie sich jemals in ihrem Leben so frei hätte bewegen können, wie sie es gewollt hätte. Und doch war sie ihr eigener Herr gewesen. Etwas, das man nun nicht mehr behaupten konnte.


    "Ihr werdet verstehen müssen, dass ich es nicht gewohnt bin, jemandem zur Last zu fallen. Und in einem fremden Haus kann ich mich schwerlich frei bewegen. Ganz zu schweigen davon, dass ich es nicht gewohnt bin, dass Fremde mein Heim betreten und in all den Dingen wühlen, die zu berühren ich normalerweise niemandem gestatte."


    Ihre Geheimnisse. Bücher. Gegenstände. Es ging beileibe nicht um ihre Unterkleider. Wer Freude empfand, wenn er darin wühlte, sollte sie haben. Doch alles andere ... war etwas, das Shizar nicht einfach zu schlucken vermochte.

    Shizar war unruhig, als sie dem Diener folgte, der sie zur Bibliothek geleitete. Dazu gezwungen, den Tag in Untätigkeit zu verbringen, hatte nichts dazu beigetragen, ihre Nervosität zu mildern, im Gegenteil. Auch wenn sie mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden war, zerrte allein die Anwesenheit der Dienerschaft an ihren Nerven. Shizar hatte niemals viel Personal beschäftigt. Ganz zu schweigen davon, dass sie es zugelassen hätte, dass ein Mädchen ihr beim Ankleiden half und dabei das Mal auf ihrer Schulter entdeckte. Noch dazu das Wissen, dass Fremde in ihrem Heim gewesen waren ... ihre Habseligkeiten berührt hatten ...


    Wie sehr sie es verabscheute. Tatenlos zuzusehen. Zu erdulden.


    Shizar biss die Zähne zusammen, doch darüber hinaus drang nichts von ihren Gefühlen auf ihre Miene. Stattdessen erschien sie gelassen, als sie die Bibliothek betrat. Ihr Blick schweifte über die Bücher, ihre Hände waren verschlungen, als sie die Buchrücken musterte. Dann fand sie den Mann, der sich in der Bibliothek aufhielt. Klavius. Sie hatte ihn den Tag über nicht zu Gesicht bekommen. Im Gegensatz zu ihr war er offensichtlich beschäftigt gewesen. Und Shizar, die Frau, die es gewohnt war, niemals untätig zu sein und selbst über ihre Wege zu bestimmen, fühlte sich wie eine Gefangene.


    „Ihr habt nach mir rufen lassen?“, fragte sie, ohne Neugier in ihre Stimme dringen zu lassen. Zwar mochte ihr Inneres ein Wirbel aus Gefühlen sein, doch Shizar hatte der Welt zu lange eine Fassade zur Schau getragen, um sie jetzt fallen zu lassen. Sie legte den Kopf schief und betrachtete wieder interessiert die Bibliothek.

    Sie konnte nicht mehr tun, als abwarten. Und Shizar hasste es, abwarten zu müssen. In eine Rolle gedrängt, in der sie eine Zuschauerin war, nicht in der Lage, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, so wie sie es seit langer Zeit tat.


    Die Schattenmagierin erreichte das ihr zugewiesene Gemach und verfluchte sich für die Unsicherheit ihres Schrittes. Die Erschöpfung, die sie zu einem Lamm machte, das wehrlos auf die Schlachtbank zugeführt wurde, ohne dass sie noch die Kraft aufbrachte, sich dagegen zu wehren.


    Morgen.


    Morgen würde alles besser sein. Das schwor sie sich, als sie sich gegen die geschlossene Tür in ihrem Rücken lehnte. Ein kurzes Aufflammen ihrer Magie und Schatten krochen in das Schloss. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern wurde, dass jemand ihren Schlaf störte. Ebenso wie der Schatten, der auf dem Bett wartete. Der kleine Körper der Fee, mit der Shizar verbunden war.


    „Wache über meinen Schlaf, Dandara“, sagte sie ruhig. „Und weck mich auf, sobald eine Seele versucht, dieses Zimmer zu betreten.“


    Sie presste die Lippen zusammen und ließ sich auf das Bett sinken.


    „Morgen. Morgen werden wir sehen, wie wir uns unser Leben zurückholen. Und wie wir dafür sorgen, dass Sharinoe Daranday für alle Zeit die Finger von uns lässt.“


    Es klang wie ein Schwur.


    Ja, Morgen. Wenn die Kräfte in ihren Körper zurückgekehrt waren. Shizar ließ sich rückwärts auf das Bett sinken und schloss die Augen.

    "Ich bezweifle, dass sie mich jetzt noch als ihre Hohepriesterin haben möchte", erwiderte Shizar mit einem bitteren Lächeln. "Aber Shirashai schätzt es gewiss nicht, wenn man sich ihr entzieht. Allerdings weiß ich nicht, ob meine Wichtigkeit groß genug ist, um eine Göttin für lange Zeit zu beschäftigen. Doch ihre treue Dienerin wird mich in ihrem Namen gewiss mit Genuss zur Strecke bringen."


    Die Magierin stellte ihren Kelch ab. Spaß ... vermutlich konnte sie diese Einstellung nicht teilen, wenngleich sie verstand, warum es für Klavius eine interessante Jagd sein mochte. Für sie selbst ... nein, sie hätte darauf verzichtet, hätte man ihr die Wahl gelassen.


    Shizar nickte auf das Angebot ihres Gastgebers und strich die Falten ihres Rockes glatt. "Dann werde ich mich zurückziehen."


    Tatsächlich saß die Erschöpfung bleiern in ihren Knochen und der Wein trug dazu bei, ihren Schritt unsicher zu machen, als sie sich erhob. Shizar fluchte innerlich, aber ihr Gesicht war eine geschulte Maske, die nichts davon erkennen ließ, als sie sich auf die Tür zu bewegte.

    Shizar hob die Brauen. Die Frage überraschte sie. Andererseits ... war es vermutlich nicht abwegig, dass ein von Shirashai Verfluchter die Nähe zu ihrem Gefolge mied. Und tatsächlich nutzte die Stimme der Dunkelheit ihren Namen nicht offen. Nicht mehr. Es schadete der Aura, die sie um sich herum errichtet hatte.


    "Eine mächtige Familie von Shirashai-Anhängern, die sich in Nir'alenar eingenistet haben wie Würmer, die sich in einen faulenden Körper fressen", antwortete sie. "Sanduras, der Vater der hiesigen Stimme der Dunkelheit, regiert über den Tempel der Nacht von Ystrar. Seine Tochter Sharinoe bekleidet den Posten, den ich hätte einnehmen sollen und hat sich mittlerweile zur Herrin über alle Shirashai-Anhänger dieser Insel erhoben. Sie lässt sich als Tochter Shirashais verehren, als wäre sie tatsächlich von ihrem Blut - wenngleich sie es ebenso wenig ist, wie ich es bin. Ihr könnt davon ausgehen, dass sie heute Nacht ihre Finger im Spiel hatte. Sie schätzt es nicht, dass ich noch am Leben bin. Ich war die Auserwählte. Die Erste. Ich bin, was sie hätte sein sollen. Und sie akzeptiert nicht, dass ich keinen Wert auf ihre verfluchte Macht lege."


    Shizar presste die Lippen zusammen und leerte ihren Kelch in einem Zug. Allein die Erinnerung daran genügte, dass der Wein bitter schmeckte.

    Shizar blickte nachdenklich in ihren Kelch, während sie Klavius lauschte. Es klang so leicht ... als könnte es einen Weg geben, ihre Probleme zu lösen. Und dennoch ... müsste sie hier bleiben. Im Haus eines Mannes, der sie mühelos töten könnte, wenngleich er beteuerte, dass er es nicht tun würde. Sie biss sich auf die Unterlippe, dann setzte sie den Kelch an die Lippen und der Wein hinterließ Wärme in ihr.


    „Es gibt jemanden“, sagte sie schließlich. „Die Frau, die von den Daranday aus dem Tempel der Nacht vertrieben worden ist. Sie war die Hohepriesterin und sie hat gewiss noch eine Rechnung offen. Allerdings ...“, sie zögerte und sah auf, dem Mann in die Augen, der ihr gegenübersaß, „... hat sie sich bislang all meinen Versuchen widersetzt, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie man Zugang zu diesen Geheimnissen erlangen kann, mag sie es sein. Ich zweifle nicht daran, dass sie noch immer Macht besitzt.“


    Shizar seufzte und lehnte sich müde zurück. Tatsächlich waren all ihre Bemühungen ins Leere gelaufen. Die Priesterin war glitschiger als ein Aal und auf der Hut.

    Shizar hob die Brauen, überrascht über die Aufforderung, mit der sie gewiss nicht gerechnet hatte. Sie beugte sich zu ihrem Glas und nahm es wieder auf, nippte daran, während sie versuchte, das Gehörte einzuordnen. Ihre Finger tippten auf ihren Oberschenkel, dann hob sie die Schultern und stieß ein Seufzen aus.


    "Ich bin bislang nicht in der Lage gewesen, das Mal auf meiner Schulter zu tilgen. Wie kommt Ihr auf den Gedanken, dass ich Euch nützlich sein kann?"


    Es war nicht, dass es sie nicht reizte. Ein Geheimnis ... wenngleich es zu dicht mit der Mutter der Nacht verwurzelt war, als dass es keine Gänsehaut auf ihren Armen hinterlassen hätte. Und gewiss ... Shirashai und ihrem Gefolge die Laune zu verderben war ein Gedanke, der ihr gefiel. Dennoch ... zweifelte sie daran, dass sie etwas finden konnte, das bei einem solchen Unterfangen dienlich sein würde.


    Sie lehnte sich zurück und musterte Klavius unter halb gesenkten Lidern. "Aber ich würde nur ungern dabei zusehen, wie Ihr ein armes Kaninchen tötet. Ich habe eine Schwäche für hilflose Kreaturen."


    Es war ein halbes Einverständnis. Zumindest konnte man es als solches auslegen.

    Shizar zog die Stirn in Falten, während sie den Worten des Mannes lauschte, der entspannt vor ihr saß. Sie versuchte zu verstehen, zumindest dies war an ihren Zügen abzulesen. In ihrem Kopf wiederholten sich die Szenen, die sich in der Gasse abgespielt hatten. Der Moment, in dem der vermeintliche Händler zu Boden bestürzt war. Ohne eine Wunde oder die Einwirkung von Magie. Ihr Blick glitt zu dem Wein in der Hand des Schwarzhaarigen, zurück zu seinem Gesicht. Sie erinnerte sich an Worte. Zusammenhänge, die einen Sinn ergaben. Ein Fluch ... keine Magie. Ein Fluch ...


    Sie schluckte. „Ich gebe nicht vor, zu verstehen, was Ihr seid oder was Ihr getan habt. Aber ich werde mich hüten, Euch zu berühren.“ Sie wies mit dem Kinn auf den Wein. „Und dennoch trinkt Ihr ebenso wie ich.“


    Eine Feststellung, in der eine Frage lag. Sie unterdrückte ein Schaudern bei dem Gedanken daran, was eine Berührung des Mannes mit ihr tun könnte. Shizar verschränkte die Hände in ihrem Schoß. Sie zitterten nicht, aber die Temperatur in dem Raum schien gesunken.

    „Wirke ich auf Euch wie eine Frau, die nicht weiß, wie man ein Geheimnis wahrt?“, fragte Shizar kühl und fixierte Klavius. „Ich habe mein Leben damit verbracht, mich den Blicken einer Göttin zu entziehen und dem Fluch zu entkommen, der mich zeichnet. Was immer Ihr seid, schreckt mich nicht. Ich bin nicht so dumm, tödliche Geheimnisse offen auf der Zunge zu tragen und sie an den Meistbietenden zu verschachern.“


    Sie rührte sich nicht. Beinahe wirkte sie wie eine Statue. Shizar mochte wissen, wie man Männern ihre Geheimnisse entlockte - in den Laken oder mit einem Versprechen, das sie nicht einzuhalten gedachte. Aber sie war weder töricht noch verblendet genug, ihre Künste an einer Kreatur einzusetzen, deren Macht sie nicht einzuschätzen vermochte. Selbst wenn diese Nacht ihr die Geduld dazu gelassen hätte.


    „Also offenbart es oder behaltet es für Euch, wenn Ihr glaubt, dass ich nicht mit Eurem Geheimnis umzugehen vermag. Es liegt bei Euch, ob Ihr mir Vertrauen schenkt.“

    „Gewiss“, gab Shizar ironisch zurück. „So wie ich Interessen besitze.“


    Und natürlich antwortete er nicht. Nicht direkt.


    Shizar hob die Schultern und lehnte sich auf dem Sessel zurück. „Ob ich vertrauenswürdig bin, kann ich Euch nicht beantworten. Wenn ich Eure Frage bejahe, kann es ebenso eine Lüge sein. Ihr werdet es also selbst herausfinden müssen. So wie ich herausfinden muss, ob meine Geheimnisse bei Euch sicher sind oder ob noch in dieser Nacht meine Jäger aufkreuzen und mich aus dem Schlafgemach entführen, das Ihr mir überlassen habt. Worte sind Asche, nicht mehr. Es liegt keine Garantie darin. Also werde ich die Taten abwarten müssen - so wie Ihr.“


    Ihre Haltung blieb still. Shizar faltete die Hände und legte sie in ihrem Schoß ab. Keine Spur von Unruhe. Ihre Worte waren Feststellungen. Überzeugungen. Schließlich hatte sie nichts mehr zu verlieren.


    „Und muss man etwas getan haben, um den Zorn der Göttin der Nacht zu wecken? Ich würde geboren, das genügt“, gab sie trocken zurück. „Ein Abkömmling einer Familie, die Shirashai treu ergeben war und deren Eltern es trotzdem gewagt haben, sich ihr entgegenzustellen. Es heißt, auf der Oberwelt gäbe es viele Hohepriesterinnen von meinem Blut. Allerdings lege ich keinen Wert darauf, ihnen auf ihrem Weg zu folgen. So wenig, wie mein Ersatz Wert darauf legt, dass ich ein langes Leben besitze.“

    „Nun, womöglich habe ich nicht damit gerechnet, einen Schatten zu besitzen“, gab Shizar spitz zurück und beugte sich nach vorn, um den Kelch abzustellen.


    Tatsächlich hätte sie es tun sollen. Sie hatte sich zu sehr auf Dandaras Magie und Morwys’ sicheres Netz verlassen. Und es war ein gewaltiger Fehler gewesen. Allerdings war es zu spät, sich Vorwürfe dafür zu machen. Es war geschehen. Sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen.


    Die Schattenmagierin atmete aus und setzte sich wieder zurück, um Klavius zu mustern. „Und wie könnt Ihr mir helfen, Klavius? Indem Ihr meinen Feinden auflauert und sie mit einer einzigen Berührung zur Strecke bringt?“


    Eine Frage schwang darin mit, verborgen zwischen den Worten und dennoch nicht zu überhören: Was seid Ihr? Wer seid Ihr? Sie hatte es bereits laut ausgesprochen und keine Antwort erhalten. Womöglich würde es auch jetzt nicht geschehen.

    Shizar schlug die Augen auf und musterte ihren Gastgeber, der die Zeit gefunden hatte, sich neu anzukleiden. Tatsächlich - in dieser Umgebung und diesem Licht wirkte er wie ein Adeliger, der gedachte, sich seinem Gast zu widmen. Keineswegs wie ein Nachtschatten, der sich in den Gassen des Seeviertels herumtrieb. Nun … vermutlich hatten sie dies gemein.


    Die Magierin hob eine Braue und ihr Zeigefinger tippte auf den Rand ihres Weinkelches. „Es ist ein merkwürdiges Versteck, inmitten des Adelsviertels gelegen und vermutlich für aller Augen sichtbar. Aber nein, es fehlt mir an nichts, ich danke Euch.“


    Wenn man von ihrem Zuhause und ihrem Leben absah, das sie in dieser Nacht verloren hatte. Shizar schwenkte unruhig den Weinkelch. Sie würde einen Weg finden müssen, zu ihrer Villa zurückzukehren und zumindest all jene Dinge an sich zu bringen, die für sie unverzichtbar waren.


    Die Schattenmagierin nagte an ihrer Unterlippe und hob dann die Schultern. Eine anmutige Bewegung, so wie beinahe jede ihrer Gesten es war. „Allerdings werde ich Euch nicht lange zur Last fallen. Ich muss mich um meine Angelegenheiten kümmern und dies wird mir nicht möglich sein, wenn ich mich verstecke wie ein scheues Kaninchen, das im Unterholz hofft, dem Fuchs zu entgehen.“

    Ein Feuer loderte im Kaminzimmer und seine Wärme erfüllte den großzügigen Raum. Shizar ließ zu, dass sie in ihre Glieder floss und den Frost daraus vertrieb. Es mochte das Erbe ihres Vaters sein, das sie Kälte nur schwer tolerieren ließ. Das Ashaironiblut in ihren Adern, das die Hitze des Südens gewohnt war, die Shizar nicht kannte. Jetzt saß sie nahe den Flammen in einem der ledernen Sessel und besah sich ihre Umgebung.


    Es hatte nicht lange gedauert, bis das angekündigte Mädchen erschienen war, um sich ihrer anzunehmen. Ein hübsches blondes Ding, still und pflichtbewusst. Keine der Dienstbotinnen, die darauf aus waren, das Bett ihres Herrn zu wärmen und jede Konkurrenz beäugten wie ihre persönliche Feindin. Doch Shizar mochte sich täuschen. Vielleicht wirkte sie so desolat, dass sie nicht mehr wie eine ernstzunehmende Konkurrenz wirkte. Nach dieser Nacht würde es sie nicht verwundern.


    Das Mädchen hatte ihr geholfen, die Spuren der Nacht zu beseitigen, bevor es sie hinabgeführt hatte. Ihr Haar besaß wieder seinen dunklen Schimmer und fiel wie ein Schleier über ihre Schultern, ihre Wangen und Lippen waren nicht länger aschfahl. Als wäre sie der eitle Gast im Hause eines ebenso eitlen Adeligen. Doch nichts war weiter von der Wahrheit entfernt.


    Sie verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln und ließ den Blick über die Wände gleiten. Die kristallenen Lampen, die Portraits von Fremden. Niemand darauf ähnelte dem Herrn dieses Hauses. Nicht, dass sie es erwartet hätte.


    Die Schattenmagierin lehnte sich mit einem Seufzen zurück und schloss die Augen. Es mochte leichtsinnig sein, doch sie glaubte nicht, sich in Gefahr zu befinden. Ein Kelch Rotwein ruhte in ihrer Hand. Ein Diener hatte eine Karaffe auf dem edlen Holztisch abgestellt. Vergessen ... für eine Weile. Selbst wenn sie nicht ernstlich vorhatte, sich zu betrinken, bis sich ihre Zunge löste.

    Shizar folgte dem Diener durch das Herrenhaus, während sie ihre Umgebung in sich aufnahm. Fragen brannten auf ihrer Zunge. Aber sie zweifelte nicht daran, dass die Dienerschaft kein Wort über die Lippen bringen würde, wenn sie auch nur eine davon äußerte. Dies zumindest glaubte sie über ihren Gastgeber zu wissen. Wer gegen seinen Willen sprach, würde nicht lange in diesen Mauern leben. Falls die Diener überhaupt wussten, dass er mehr war als ein gewöhnlicher Adeliger. Vermutlich glaubten sie, dass er nicht mehr als ein Angehöriger des Adels war, der sich des Nachts gern in der Stadt herumtrieb. Nicht, dass es wenige davon gegeben hätte.


    Sie unterdrückte ein Seufzen und sah sich um. Nichts ließ daraus schließen, dass dies mehr als das Haus eines reichen Bewohners der Stadt war. Von den aufgestellten Büsten bis hin zu den Gemälden an den Wänden, die auf sie hinabsahen. Besaßen sie tatsächlich Augen? Ab und an konnte Shizar sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sie beobachtet wurde.


    Schließlich führte der Diener sie eine breite Treppe hinauf, die offensichtlich zu den Gästezimmern des Hauses führte. Magische Lampen an den Wänden tauchten den Gang in ein warmes Licht und ein kurzes Aufblitzen von Heimweh zuckte durch ihren Geist. Ihr Zuhause, das ihr nicht mehr offen stand. Denn ohne Zweifel würden sie dort bereits auf sie warten. Alles, was sie besaß … was sie war … verloren.


    Sie presste die Lippen zusammen, als der Diener eine vertäfelte Holztür öffnete und sie mit einer Verneigung in den Raum entließ, in dem sie bleiben sollte. Ein großzügiges Bett mit seidenen Kissen und Decken auf einem kostbaren Teppich. Bestickte leichte Vorhänge in dunklen Juwelenfarben gewährten eine gewisse Abgeschiedenheit. Eine Frisierkommode. Samtene Sessel und ein Diwan. Ein Tischchen, auf dem eine Karaffe stand, die höchstwahrscheinlich Wein enthielt. Kristall, gewiss. Hohe Fenster, hinter denen sie zweifellos das Adelsviertel von Nir’alenar finden würde, wenn sie die schweren Vorhänge öffnete. Nicht überraschend. Nicht ungewöhnlich. Sie hatte nichts anderes erwartet.


    „Ich danke Euch“, sagte Shizar und der Diener verabschiedete sich mit dem Versprechen, ihr das Mädchen zu senden, das sich ihrer annehmen sollte. Nun … sie selbst hätte es bevorzugt, allein zu bleiben.


    Shizar seufzte und ließ sich auf den Diwan sinken, während sie die Karaffe und die zugehörigen Kelche musterte. Vielleicht sollte sie sich betrinken, bis sie einschlief … oh, sie war keineswegs hungrig. Es würde keinen Unterschied machen. Aber es würde die nagende Verzweiflung in ihrem Inneren betäuben. Zumindest für eine Weile, bis sie wieder nüchtern war. Und wach.


    Sie schüttelte den Kopf, ein schiefes Lächeln im Gesicht, das eine bittere Note besaß. Am Rande ihres Blickfeldes bewegten sich die Schatten, als Dandara sich ebenfalls auf dem Diwan niedersinken ließ. Die Fee blieb stumm, doch über ihr Band spürte Shizar dieselbe Verzweiflung, die auch sie erfasst hatte.

    Shizar streifte den Stoff wieder über ihre Schulter und wandte sich zu dem Mann um, der nachdenklich wirkte. Gewiss, er hatte das Erbe ihres Vaters entdeckt. Oh, wie sehr sie sich bemüht hatte, es vor fremden Augen zu verbergen. Doch jetzt … war es sinnlos. Warum nicht noch mehr offenbaren, wenn ihr Geheimnis ohnehin in die falschen Hände gefallen war? Sie würde nie mehr Shizar aus dem Geschlecht der Lyadar sein.


    „Warum sie mich gezeichnet hat, weiß ich nur zu gut“, antwortete sie schließlich. „So wie ich weiß, was ich hätte sein sollen. Vielleicht hat sie meine Eltern damit strafen wollen, weil sie sich ihr verweigert haben.“


    Die Schattenmagierin stieß den Atem aus und ließ die Finger noch für einen Moment auf ihrer Haut ruhen. Unbewusst krümmten sie sich, als könnte sie das Zeichen von ihrer Haut kratzen. Doch auch dies … zwecklos. Sie wusste es zu gut.


    „Aber glaubt mir, ich bin des Handelns mit den Göttern müde. Ich würde kaum mehr erreichen, als ein Übel gegen ein anderes einzutauschen. Aber ich will frei sein. Ungebunden. Nicht länger von einem fremden Willen gesteuert. Und niemandem verpflichtet.“


    Ihre Stimme klang hart und ihre Augen funkelten wie kalte Steine. Doch Shizar sagte nichts mehr, als die Kutsche vor einem Haus anhielt und die Tür geöffnet wurde. Es war gewiss nicht das, womit sie gerechnet hätte. Aber sie hütete sich davor, noch einmal ein Urteil über den Mann zu fällen, dem dieses Haus gehörte. Sie würde fehlgehen, ohne Zweifel.


    Wortlos ließ sie sich von dem Pagen aus der Kutsche helfen und musterte die Fassade des Hauses. Dann nickte sie. Sie besaß kaum eine andere Möglichkeit. Und sie wollte nichts mehr, als den Straßen und dieser verfluchten Nacht zu entkommen.

    Aufgeben … nein, sie hatte niemals aufgegeben. Sie hatte um dieses Leben und ihre Freiheit gekämpft. Und trotzdem … gab es Dinge, die sie verdammten. Die Schattenmagierin legte den Kopf schief und musterte den Mann, während sie seiner Geschichte lauschte. Es war eine Geschichte, wie sich zu viele um die Göttin der Nacht und ihre Taten rankten. Von Leid, verursacht durch Eitelkeit und Hass. Viele mochten sich von ihr angezogen fühlen, doch Shizar hatte zu genügend dieser Geschichten gehört. Ihr Verstand hätte niemals so verdreht sein können, sich der Göttin der Nacht anzuschließen, selbst wenn der Großteil der Lyadar-Familie es getan haben mochte. Die Dummheit ihrer Vorfahren war dennoch zu ihrem Verhängnis geworden.


    Es war seine Geschichte. Sie hegte keinen Zweifel daran. Sie hatte bestürzt sein sollen … aber wann immer die Göttin der Nacht das Spielfeld betrat, blieben Trümmer zurück. Trotzdem … mochte es erklären, warum er in dieser Nacht zu einer der Spielfiguren auf Shirashais Spielfeld geworden war. Nicht für sie allein … Shizar stellte es fest und es hinterließ einen leisen Stich in ihrer Brust, den sie verdrängte.


    »Ihr müsst mich nicht herausfordern«, sagte Shizar schließlich. »Ich bin nicht närrisch genug, auch nur in die Nähe des Tempels zu gehen, solange ich bei klarem Verstand bin.«


    Sie fixierte den Mann mit ihren silberhellen Augen. »Ich bin sicher, dass Shirashai diesen Jungen auf ihre Weise gezeichnet hat. Aber dennoch … er konnte seinem Schicksal entkommen. Ich werde es niemals können. Nicht, solange das hier mich mit ihrem Brandmal zeichnet.«


    Shizar streifte den Mantel und den Ausschnitt ihres Kleides über ihre Haut und entblößte ohne Scham ihre Schulter. Die leichten Schuppen darauf, die ihr Ashaironierbe offenbarten. Und … den Silberstern der Göttin der Nacht, den keine Magie hatte auslöschen können. Ein blasses Zeichen, das im Dämmerlicht der Kutsche glühte wie der Mond.


    »Ihr habt auf alles eine Antwort. Aber habt Ihr auch darauf eine Antwort, Klavius? Wie man der Göttin der Nacht entkommen, wenn sie ihr Zeichen in die Haut eines unschuldigen Kindes gebrannt hat?« Sie sah über ihre Schulter zu dem Mann auf der anderen Seite der Kutsche.

    Shizar schnaubte und blickte zur Seite. Ein Atemzug hob ihre Brust, senkte sie, als sie ihn wieder ausstieß. Ihr ganzes Leben war ein Gebilde, das sie mit eigenen Händen aus den Scherben ihres Geburtsmakels errichtet hatte. Vielleicht ließ sich ein neues Leben errichten, doch …


    „Ganz gleich, wie oft ich neu beginne. Sie werden mich wieder finden.“ Es klang bitter, aber es war die unausweichliche Wahrheit. Etwas, das sie erst jetzt vollkommen begriff. „Vielleicht sollte ich mich auf die Schwelle des Shirashai-Tempels legen und dort abwarten, bis …“


    Sie brach ab und biss sich auf die Zunge. Zu viel. Sie hatte zu viel gesagt. Wie eine Närrin. Etwas, das Shizar niemals in ihrem Leben gewesen war. Ihre Finger ruhten auf der unteren Kante des Fensters, trommelten unruhig darauf. Dann schüttelte sie den Kopf. Ihr Blick glitt zu dem Mann, der ihr gegenüber saß und ihre Augen verengten sich, als sie ihn musterte … an die ungewöhnliche Farbe dachte. An den Ball des Fürsten … ja. Sie kannte diese Augen. Und sie erinnerte sich an den Tanz. Sie hatte in dieser Nacht nicht mit vielen Männern getanzt. Jetzt, da sie ihn ansah, fand sie Ähnlichkeiten. In der Form seiner Lippen, der Farbe seiner Haut. Sie erinnerte sich … auch wenn sie wenige Worte gewechselt hatten. Wie ironisch, einem Mann in den Gassen zu begegnen, den sie für einen dieser unerträglich von sich eingenommenen Adeligen gehalten hatte …


    „Das seid Ihr gewesen?“ Ihre Lippen zuckten, beinahe amüsiert. „Welch seltsamer Grund, eine Frau vor ihren Häschern zu bewahren. Wenn ich eine schlechte Tänzerin gewesen wäre, hättet Ihr mich also meinem Schicksal überlassen?“

    Shizar antwortete nicht auf der Stelle. Das Klappern der Kutschenräder füllte das Schweigen zwischen ihnen, während sie ihre Gedanken sortierte. Es fühlte sich an, als wäre die Kuppel über ihrem Kopf eingestürzt und hätte sie unter sich begraben. Ein passender Vergleich, denn ihr Leben erschien ihr wie ein Trümmerhaufen. Zermalmt von der Macht einer Göttin, der sie in Wirklichkeit nichts zu geben hatte. Es nährte den Hass in Shizars Innerem. Hass auf die Göttin der Nacht, die sich den grausamen Scherz erlaubt hatte, das verfluchte silberne Mal auf ihrer Haut zu hinterlassen. Als hätte sie gewusst, dass ihre Eltern den Göttern des Lichts dienten. Als hätte sie sie dafür bestrafen wollen.


    Shizar hatte zum Fenster geblickt. Jetzt sah sie den Mann an. Ihren Retter, dessen Mantel sich an ihre Haut schmiegte und sie wärmte. Sie wollte den Kopf darüber schütteln, aber sie tat es nicht. Es war skurril. Verrückt. Alles an dieser Nacht. Von einer Kreatur gerettet zu werden, die ohne Reue Leben stahl ...


    »Vermutlich spielt es keine Rolle, ob Ihr eine Gefahr für mich darstellt«, sagte sie matt. »Mein Leben liegt ohnehin in Scherben.«


    Und sie bezweifelte, dass sie diese Scherben wieder zusammensetzen konnte.


    »Nichts, was Ihr tut, könnte mich noch verstören.« Jetzt schüttelte sie den Kopf und biss sich auf die Unterlippe und das Licht ihrer Silberaugen wurde hart wie ein Diamant. »Würdet Ihr versuchen, mir zu schaden, würde ich mich zur Wehr setzen. Wer von uns am Ende gewinnt … wissen die Götter. Vermutlich besitzt Ihr mehr Erfahrung darin, Eure Beute zu schlagen.«


    So wie es alle Raubtiere taten. Shizar selbst war niemals ein Raubtier gewesen. Vielleicht eher die Schlange, die das Erbe ihres Vaters in ihr hinterlassen hatte. Vielleicht ein Rabe, der beobachtete und sein Wissen hortete wie einen Schatz. Nicht ... tödlich.


    „Warum habt Ihr mich beobachtet?“, fragte sie schließlich und ein Hauch der alten Schärfe lag in ihrer Stimme.

    Er hatte sie beobachtet? Wann? Wie oft? Wie oft waren seine Augen auf sie gerichtet gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Shizar konnte nicht verhindern, dass ein kalter Schauer über ihrem Rücken rann. Sie zog den Mantel dichter um ihren Körper, verwirrt über die Galanterie, die nicht zu jemandem passen wollte, der sich unter der Stadt bewegte und dort Respekt einforderte.


    Klavius ... sie wiederholte den Namen im Gedanken, aber sie hatte ihn nie zuvor vernommen. Zudem konnte er jedem Volk angehören. Keine Rückschlüsse. Nichts. Ein Geheimnis mehr, das ihr nicht zu ergründen gelang. Die Schattenmagierin biss die Zähne zusammen. Es wurde wenig besser, als die Kutsche in Sicht kam und vor ihnen hielt. Eine edle Kutsche. Es sollte ihre Neugier wecken. Sie dazu verleiten, ihm Fragen zu stellen. Das Spiel zu beginnen, das sie meisterhaft beherrschte, um ihm zu entlocken, was sie zu wissen wünschte. Doch sie fühlte sich betäubt. Matt. Das Entsetzen war aus ihren Adern geflossen und hatte bleierne Müdigkeit zurückgelassen. Shizar bemühte sich nicht, es zu verbergen.


    Sie stieg in die Kutsche ein und ließ sich auf der Sitzbank nieder. Ihre Finger zitterten und Shizar krampfte sie fester in den Stoff des Mantels, um sie daran zu hindern. Sie nickt auf die Frage des Fremden. Klavius, erinnerte sie sich.


    „Ja.“ Sie zögerte. Dann ... welchen Sinn hatte es noch, etwas verbergen zu wollen? „Ihr könnt mich Shizar nennen.“


    Es kam gepresst über ihre Lippen. Niemand hatte diesen Namen je mit dem Mädchen in Verbindung gebracht, das von ihren Eltern vor ihrem Schicksal verborgen worden war. Doch jetzt ... jetzt war alles anders.