Beiträge von Ta'shara

    Sie sah und sah nicht; blickte in Silenes Augen und doch durch sie hindurch, wie durch einen eisigen Spiegel. Einzig die Worte der Seherin bewegten sich in ihr wie kleine Wellen auf einem dunklen See; plätscherten mal hier, mal dort gegen den Widerstand, der sich in Ta’shara regte.
    Vertrauen!? Wem hätte sie jemals vertraut außer sich selbst. Es ist möglich… wieder stießen die Worte an den Rand ihres Bewusstseins, schwappten hinüber und sammelten sich tief in ihr; dort, wo sie in der Nacht zuvor das Chaos hin verbannt hatte. Sie lauschte dem nach, begegnete dem Widerhall. Die junge Valisar schloss die Augen und ließ die Gedanken in sich wirken… möglich… sich einen eigenen Weg suchen … Gefäß… sich ausrichten … Brennan… Shirashai... sich ordnen … Vertrauen…
    Sie kalkulierte.
    Keine Frage; das Ergebnis war unsinnig. Ta’shara verließ ihren inneren Raum. Der Blick mit dem sie Silene begegnete war kalt, klar und entschlossen. Sie würde bleiben, wer sie war. So entschied sie.


    Bis sie mit einem Mal durch den Stoff ihres Kleides hindurch Wärme verspürte. Sie floss durch ihre Schulter und für einen winzigen Moment erreichte sie jene Stelle, an der sie gestern Nacht zum ersten Mal so etwas wie Seele gespürt hatte. Möglich… Sie senkte den Blick, sah sich selbst, ihre Wange in Brennans Hand gelegt. '...Du bist nur eine Halbvalisar, was ist, wenn der Fluch gar nicht so schwer auf dir lastet?...' Sie erinnerte sich seiner Worte und atmete tief durch. Noch immer war ihr Blick klar und entschlossen. Doch fehlte ihm die Kälte, als sie Silene erneut ansah.
    "Ein … Experiment."
    Das Wort war ihr vertraut. Der Vorgang war ihr vertraut. Ein Experiment war immer auch bis zu einem gewissen Grad kalkulierbar. Damit musste sie sich nicht sofort und gänzlich einem anderen Wesen ausliefern. So sagte sie sich. Sie blickte zu Brennan, betrachtete ihn, seine dunklen Augen, die markanten Züge, die aufrechte Haltung. Seine Ausstrahlung war enorm und füllte neben den beiden Valisar ebenbürtig den Raum. Ja. Ta’shara lächelte und nickte. Ihm traute sie zu, ihr bei dem, was kommen mochte zur Seite zu stehen und nicht davon zu laufen.

    Will ich das?
    Ta'shara wusste um ihr Inneres. Wusste um diese wilden Fluten. Noch kein Tag war vergangen, seit sie sie zurückgedrängt hatte! '...doch wagt Ihr nicht, alte bindende Seiten zu durchtrennen...'
    Da war Chaos, das einer Ordnung folgt. Aber wie kann das sein? Ihr Leben ist Chao, wenn sie sich nicht den geordneten Werten des Kodex überlässt. Und doch zweifelst du...


    Brennan. War er Chaos oder Ordnung? Oder beides?
    Ta'sharas Aug streifte flüchtig den Menschen und richtete sich erneut auf Silene. "Zeigt mir Sehende, was sich in mir verbirgt"
    Ta'shara fragte dies, obwohl sie ahnte, dass sie damit womöglich einen Weg beschritt, an dessen Beginn ein Tor hinter ihr ins Schloss fiele, das ihr eine Rückkehr unmöglich machen würde.

    Die kühle Berührung war es, die Ta'shara den letzten Anstoß gab. Zögere nicht!
    Fast war es, als hätte Silene die Worte laut ausgesprochen. Ein kurzes Aufblitzen in den Augen der Halbvalisar signalisierte der Wahrsagerin, dass auch Ta'shara die Verbindung spürte. Brennans Anwesenheit geriet zur Nebensache; kaum noch nahm sie ihn wahr. Und doch war sie sich seiner Nähe auf unbestimmte Weise bewusst.


    Die junge Halbvalisar griff zu und zog die Steine. Langsam. Als wäre es wichtig, sich ihnen zu öffnen, sich deren Gegenwart und Bedeutung bewusst zu werden. Was für ein Unsinn! maßregelte eine weit entfernte Stimme sie. Mutter?
    Einen nach dem anderen.
    Der Reihe nach legte sie sie vor Silene auf den Tisch. Als sie die Berührung zum letzten Stein verlor, war es, wie ein Erwachen. Benommen betrachtete Ta'shara die Runen. Nichts. Nichts, was ihr bekannt wäre. Nichts, was sie verstehen würde.
    Sie blickte zu Brennan. Es waren nur Steine, oder nicht?

    "Ich suche nicht Trost, noch Mitgefühl! So wenig, wie Ihr." Schon in dem Moment, als sie den Blick der Valisar auf sich spürte, war ihr klar, dass diese Frau wusste, wovon Ta‘shara sprach. Doch war diese geblieben, zu dem der Fluch sie einst machte. Ta’shara wusste nicht recht, ob ihr das nun zu Gute kommen würde oder eher sich ins Gegenteil verkehrte. Noch zu gut erinnerte sie sich ihrer eigenen quälenden Eifersucht, als sie die Erlöste auf dem Ball erspürte.


    "Sechs an der Zahl", echote die Halbvalisar und war sich dessen kaum bewusst. Ihr Blick ging zu Brennan. Ein Paar eisblauer Augen verschmolz für einen winzigen Augenblick mit der tiefen Schwärze der Seinen und einen Moment lang schien es, als wolle Ta'shara sich daran festhalten. Denn sie spürte, wie sie in eine Art Bann geriet. Ein unangenehmes Gefühl, das sie nicht zulassen wollte, hieß es doch ein weiteres Mal Kontrolle zu verlieren.
    Ihre Frage hing in der Luft. sechs Steine…sechs Antworten? Gleich einem scharfen Schwert würden sie Wichtiges von Nichtigem trennen. Sechs… Ta'shara hatte keine Angst vor den Antworten, doch spürte sie deutlich Gefahr. Unsichtbar, lauernd.
    Ihre Hand wanderte nach vorne… ihre Finger ertasteten den ersten Stein.

    Sie spürte sein Zögern und sah ihn kurz an. 'Bleib!' Ihr Blick bat und befahl zugleich. Er war Teil meiner Selbst? … dieses 'Experimentes' geworden, seit er ihr die Nacht zuvor auf dem Ball begegnet war. Sie hatte die Kontrolle verloren. Wegen ihm? Das wusste sie nicht, aber irgendeine Rolle spielten er und Shirashai in ihrem Leben und sie würde herausfinden, welche. Deswegen war sie hier. Das wurde ihr in diesem Moment klar.


    "Meine Vergangenheit ist mir bekannt. Meine Erinnerungen zugegen. Meine Zukunft? Sie wird sich ergeben, so oder so." erwiderte Ta’shara kühl. In der Nacht hatte sie noch anders darüber gedacht, aber da war auch dieses Chaos noch deutlich zugegen. Jetzt spürte sie, dass es nur eines gab, das sie wissen musste. Mit leicht geneigtem Kopf betrachtete sie die Wahrsagerin. Wieder ein unergründliches Lächeln. Hast du je empfunden, was mich die Nacht heimgesucht? Ihre Hand lag noch immer auf der kühlen Marmorplatte. Sie setzte sich aufrecht und legte in schlangengleicher Anmut die andere Hand dazu.
    "Was mich interessiert, ist das, was gerade geschieht."


    In knappen Sätzen erklärte sie der Valisar die Umstände, die sie hergeführt haben. Sie erwähnte den Wein und ließ das Chaos der nächtlichen Attacke erneut lebendig werden. Doch war sie nun nicht unvorbereitet. Sie hielt das Untier im Zaum, ließ es nicht erneut vom Grund ihrer Seele nach oben brechen ans Licht. Es wäre … nicht gut.
    "Was hat das zu bedeuten?"

    Brennan geleitete sie in das Zelt. Im Inneren wirkte es viel größer als sein Äußeres vermuten ließ. Doch selbst die einladende Ausstattung täuschte nicht über den Anflug des unguten Gefühls hinweg, das sich ihrer bemächtigte, während Ta‘shara sich mit Brennan der verschleierten Frau näherte. Umsonst bemühte sie sich, einen Blick auf deren Gesicht oder in deren Augen zu werfen. Andererseits wusste sie ohnehin, was sie sehen würde…
    Ta’shara grüßte ihrerseits und ließ sich auf einem der dunkelblauen Polsterstühle nieder. Sehr bequem. Ihre Hand strich über die makellose Marmorplatte. Angenehme Kühle wanderte über ihre Fingerspitzen durch Arm und Schulter bis tief in ihr Herz und ließ sie beruhigt sich zurück lehnen. Ein Lächeln umspielte kurz ihre Lippen. Das war die Kühle die sie schätzte und kannte und die sie willkommen hieß. Ihr konnte nichts geschehen. Die vergangene Nacht war inzwischen so unwirklich, wie dieses Eiland unter freiem Himmel und glitzernden Sternen.
    Gewiss würde sie bleiben, was sie war, wer sie war. Und doch. Brennans gemurmelter Ruf nach dem Schutz Shirashais, weckte erneut eine Erinnerung, die sie lieber getilgt sähe.


    "Ta’shara Yerir", ergänzte sie Brennans Vorstellung und nahm den breitkrempigen Hut vom Kopf. "Wie mein Begleiter schon sagte. Wir möchten Eure Dienste in Anspruch nehmen."
    Es störte Ta’shara, dass sie nur Brennans Worte wiederholte. Aber etwas Besseres fiel ihr gerade nicht ein. Sie würde nicht gleich mit dem Vorhang ins Zelt fallen. Ohnehin war diese ganze Sache eine Schnapsidee!! Geboren aus der Unsicherheit der vergangenen Nacht. Doch nichts mehr war davon übrig, außer ihrem eigens geäußerten Wunsch, den sie nun nicht mehr zurück nehmen konnte.
    … Ta’shara blickte zu Brennan und seufzte leise. Nunja. Nun war sie einmal hier. Und zugegeben auch interessiert zu erfahren, in wie weit diese Valisar, Silene, tatsächlich Vergangenheit und Gegenwart deuten konnte, um daraus die Zukunft zu sehen.

    - Komme von Vogelhandel -


    Ta’shara lächelte noch immer. Sie spürte Brennans Ernst, auch wenn er dem Umstand, dass er verhältnismäßig viele Valisar um sich scharte, etwas Spaßiges abzugewinnen versuchte.


    "Vielleicht ist es deine Nähe zur Göttin…", überlegte die Halbvalisar und blickte in Brennans Augen. "Sie verleiht dir Stärke und Macht. Beides Eigenschaften, die dich am Umgang mit solchen wie mir nicht zerbrechen lassen. Möglich, dass es das ist, was wir spüren, obwohl…"
    Ta’shara schüttelte leicht den Kopf und lachte. "Obwohl das natürlich Unfug ist. Denn die Weissagerin kam nicht zu dir."


    Gleichzeitig überlegte die junge Frau, wie zufriedenstellend es doch war, dass Brennan sich nicht gleich auf sie eingelassen hatte. Denn sie war überzeugt, dass er ihr danach völlig egal gewesen wäre. Alles wäre seinen Weg gegangen, so wie seit vielen Jahren alles seinen Weg genommen und immer gleich geendet hatte. Sie zog Männer an, wie die Dunkelheit lichtscheues Gesindel... sie weckte Leidenschaft in den Männern und innerhalb einer Nacht verglühten sie darin. Jetzt war einiges verändert. Sie kannte sich nicht mehr aus; nicht so, wie es sein müsste.


    "Ah ja. Sehr gut", meinte Ta’shara und blickte hinaus. Gerade trat jemand durch den Eingang ins Freie. Eine Ashaironi. Kurz nickte Ta’shara zum Gruße, während sie und Brennan sich dem weißen Zelt näherten, dessen Eingang durch transparente Schleier verhangen war.
    Nur wenig später standen sie davor. Ein Blick ins Innere des Zeltes war nicht möglich. Die Besitzerin hatte die Schleier so geschickt angeordnet, dass ihre Transparenz sich aufhob.
    "Sehen und doch nichts erkennen", meinte Ta’shara und ihre Hand ging zu der kleinen Glocke. "Wenn das nicht passt?!"
    Es läutete hell.

    Tief in ihrem Inneren regte sich etwas. Etwas, das sie an die Valisar von gestern Nacht erinnerte. Ta’shara hielt den Blick gesenkt und starrte zu Boden. Nur ihr Herz schlug wild und wütend gegen ihre Brust, beinahe im Gleichklang mit den ratternden Rädern. Sie kämpfte gegen diese unbarmherzige Sehnsucht und versuchte sie wieder zurück zu drängen… weit zurück zu jenem Ort in ihr, an dem sie zwar um diesen Schmerz wusste, wo er ihr aber nichts anhaben konnte.
    Nach ein paar Augenblicken, die ihr wie die Ewigkeit erschienen, antwortete sie.


    "Nun, dieser Umstand allein verleiht ihr die Fähigkeit, anderen gänzlich unvoreingenommen deren Zukunft weis zusagen. Es zeichnet sie in besonderem Maße aus. Eine kluge Berufswahl für eine von uns." meinte die junge Frau nüchtern.
    "Ich habe kein Problem damit, falls du das befürchtet hast." Ta’sharas Stimme klang leichthin und als sie wieder aufblickte lag ein Lächeln auf ihren Zügen. Doch sie spürte, dass es längst nicht so sicher war, wie sie es beabsichtigt hat. Schlimmer noch: sie spürte, dass sie diese unguten Gedanken der Nacht nicht mehr ganz und gar auslöschen konnte. Sie fühlte es. Ein kleiner Schmerz. Winzig, wie der Stich eines Insektes. Aber das Gift breitete sich aus...


    "Faszinierend, nicht? Innerhalb eines Tages triffst du gleich auf drei Valisar. Vielleicht solltest auch du in Erwägung ziehen, dir weissagen zu lassen..."


    - gehe zu Silenes Zelt -

    "In Ordnung. Soll sie wegen mir die restlichen Lebensmittel behalten." Es war ihr reichlich egal, wer die Sachen bekäme, nur wegwerfen wollte sie sie nicht. "Wenn es dann sonst nichts mehr zu tun gibt hier, können wir uns auch auf den Weg machen."
    Ta’shara drehte sich zu Brennan um, ohne sich dem Druck seiner Hand zu entziehen. So nah bei ihm konnte sie seinen Duft atmen. Sie lächelte. "Komm. Nicht dass der Kutscher sein Mahl beendet und losfährt. Dann müssen wir am Ende auf eine nächste Droschke warten."


    Sie hatte es tatsächlich eilig. Sie wollte diesen verrückten Besuch hinter sich bringen. Denn völlig verrückt kam es ihr im Moment vor, da sie selbst wieder Herrin über ihr Dasein war und das Chaos der Nacht weit entfernt schien. Was versprach sie sich bloß von einer Wahrsagerin, was sie nicht längst wusste? Sie, eine Valisar durchströmt vom Blute der Ashaironi. Es gab nichts, was ihr je schaden könnte. Ganz gleich, was die Zukunft brachte. Aber gut. Sie hatte sich entschieden und sie schloss auch nicht gänzlich aus, dass sie einen Nutzen davontragen würde.
    Ta'shara ging zum Bett und entnahm der Hutschachtel seinen Inhalt: einen schwarzen Hut mit eleganter weiter Krempe. Er schirmte ihren eigenen Blick geschickt gegen den anderer Neugieriger ab. So konnte sie beobachten und auskundschaften, ohne selbst dabei beobachtet zu werden.

    "Die Frau von Nebenan…“, wiederholte die Halbvalisar und blickte kurz nachdenklich zu Brennan. "Es träfe sich gut, wenn sie auch meine Wäsche übernehmen könnte. Denkst du, das ginge? Ansonsten lasse ich Anweisung an meine eigene Bedienstete erteilen."
    Ta’shara lächelte. Auch für sie gab es gewisse Dinge, mit denen sie sich nicht beschäftigen wollte, wenn es sich vermeiden ließ. Interessanterweise fiel ihr erst in diesem Moment auf, wie sehr es sie tatsächlich stören würde, ihre Wäsche selbst waschen und mangeln zu müssen. Sie hatte sich noch nie mit dem Gedanken auseinandergesetzt. Solange sie denken konnte, gab es jemanden der diese Arbeit erledigt hat. Ta'shara strich sich durch die Haare. Sie war verwirrt.
    "Helfen. Ich, ehm… ja. Nein. Nein. Der Koffer ist ja schon hier oben."
    Sie blickte sich um, legte den Hutkarton auf dem Bett ab. "Oder doch." Ta’shara drückte Brennan eine der Taschen in die Hand. "Hier sind die Zutaten für das Seesternragout… In der anderen Tasche sind weitere Lebensmittel. Sie wären verdorben bei mir. Wenn du nachsehen würdest, was wir selbst brauchen können? Den Rest werde ich verteilen…" Sie ließ offen, was sie damit meinte.


    "Kann man die Wahrsagerin, von der du gesprochen hast, den ganzen Tag über aufsuchen oder nur zu bestimmten Zeiten?" Ohne es zu merken sprach Eile aus ihren Worten. Sie wollte den Besuch hinter sich bringen. Der Gedanke daran löste die ganze Zeit über etwas in ihrem Kopf aus, das sie nicht kannte. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es sich gut oder schlecht anfühlte, weil sie es nicht kannte. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Der Luftzug verfing sich in ihren Haaren. "Können wir gehen, bitte?"

    Ta'shara sah es eigentlich als überflüssig, sich für Brennans Kompliment zu bedanken; wusste sie selbst doch sehr genau, dass sie korrekt gekleidet war. Und dass sie mit ihrem eigenen Geschmack den seinen treffen würde, wusste sie seit gestern abend auch. Ähnlich wie sie hatte er ein Faible für dunkle Kleidung. Zumindest der Inhalt seiner Truhe ließ darauf schließen.
    Dennoch lächelte sie Brennan an und bedankte sich, während sie hinter ihm die Treppe nach oben ging. Sie würde also in seinen Räumen wohnen. Neben ihm schlafen. Das Lager mit ihm teilen? Ein Ziehen in ihrer Brust ließ sie seufzen. Nein. Wohl nicht. Er hatte sie eben nicht geküsst.
    Ta'sharas sämtliche Sinne und ihr Verstand arbeiteten schnell und präzise und ihr entging keine Regung Brennans. Sie wollte wissen, was ihm wichtig war, um sich auf ihn einstellen zu können. Sie würde mit ihm, einem Menschen, zusammenleben. Das hatte sie bisher noch nie getan. Nicht einmal für ein paar Tage. Sie duldete eigentlich keinen Menschen um sich, es sei denn zum Zwecke der körperlichen Liebe.
    Nur dieses grauenvolle Chaos, das die Nacht zuvor über sie hereingebrochen war, war der Grund, dass sie nun hier war. Dass Brennan selbst eine Rolle dabei spielen könnte, kam ihr nicht einmal ansatzweise in den Sinn.


    "Wie weit bist du mit deinen Tieren?"
    Ta'shara beantwortete Brennans Frage mit einer Gegenfrage und hob sein Hemd auf. "Hast du eine Reinemachfrau? Jemand, der dir deine Sachen wäscht oder machst du das selbst?" Beifläufig legte sie das Hemd über einen Stuhl. "Ich habe keine Eile. Wenn du noch Zeit brauchst, richte ich mich derweil ein." Ein kleines Lächeln spielte um Ta'sharas Lippen. Sie dachte kaum noch darüber nach, wann es dahin gehörte und wann nicht. "Ich könnte dir auch bei deinen Vögeln helfen, wenn du möchtest."

    Etwas war seltsam. Verändert. Eigentlich wollte sie gehen, aber Brennan küsste sie und irgendwie dachte sie in dem Moment, es sei richtig. Alles sei richtig. Der Kuss. Die Art, wie er sie hielt. Wie eine ferne Erinnerung. Weit, weit weg aber gut. Sie war fast bereit, sich dem weiter zu überlassen, doch schon im nächsten Moment schob sich ein Nebel darüber, ließ alles verblassen und letztlich verschwinden.
    Brennan ließ sie los und lächelte. Sie lächelte.
    "Ich werde es ihm sagen. Eine zusätzliche Krabbe."


    Sie saß bereits in der Droschke und überlegte immer noch, warum Brennan sie schnell wieder bei sich wissen wollte. Sie würde wohl nie verstehen, was Menschen zu manchen Worten bewegte während ihr Verhalten anderes vermuten ließ.
    Andererseits hatten sie auch noch einiges vor heute. Und so schien es verständlich, dass sie nicht allzuviel unnötige Zeit in einer Droschke verbrachte.


    Ebenso wenig unnötige Zeit verbrachte sie bei sich zu Hause. Sie beeilte sich, zu baden, sich für den Tag passend zu kleiden und alles Nötige einzupacken. Dem Kutscher hatte sie Anweisung erteilt, zu warten.
    Am Ende stand sie mit zwei Taschen, einem Hutkarton und einem Schrankkoffer da und betrachtete sich ein letztes Mal im Dielenspiegel: ein dunkelbrauner, figurbetonter, langer Rock. Schwarze Stiefeletten. Eine ebenfalls schwarze, taillierte Bluse. Der Ausschnitt zeigte gerade so viel von ihrem Dekolltée um noch schicklich zu sein ohne vulgär zu wirken. Eine Valisar hatte immer ein Auge für das, was tragbar war.
    Sie nickte und rief den Kutscher ihr zu helfen.
    Pünktlich wie verabredet hielt dieser gegen Mittag wieder vor dem Vogelhandel. Wie am Morgen bimmelten die Glöckchen. Ta'shara stieg aus, betrat den Laden und wartete.

    Ta’shara sah das belustigte Funkeln in Brennans Augen, doch wusste sie es nicht seinen Worten zuzuordnen. Ihr wollte nicht verständlich werden, was so amüsant daran sein sollte, dass Kalli sich schreckhaft benahm. Dennoch erwiderte sie Brennans Lächeln, betrachte ihn, wie er da stand, gegen den Türrahmen gelehnt und nickte, als er glaubte, die Droschke vorfahren zu hören. Die junge Frau ging zum Fenster und blickte hinunter auf die Straße.
    "Du hast wohl Recht. Zumindest steht da eine Droschke gleich vor deiner Ladentür", antwortete sie.
    Im gleichen Moment läutete es. Ta’shara lächelte als sie sich hin zu Brennan bewegte.
    "Danke", meinte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
    "Gibt es etwas, das ich mitbringen soll?"

    Ta’shara zuckte zusammen, als es laut von unten heraufschallte. Auch Kalli schien erschrocken zu sein und hielt es wohl für angebrachter, sich nach draußen zu flüchten. Kurz blickte die junge Frau dem Raben nach, wie er anmutig seine Schwingen ausbreitete und erhob sich dann, um sich frisch zu machen und anzuziehen. Durch eines der geöffneten Fenster drangen Stimmen zu ihr. Sie konnte Brennans darunter erkennen. Was gesprochen wurde, blieb jedoch ihrer Vermutung überlassen.


    Als Brennan wenig später wieder die Wohnung erreicht hat und sie über die bestellte Droschke informiert, war Ta’shara bereits angezogen. Gerade strich sie sich mit den Fingern ihr Haar glatt.
    "Oh. Vielen Dank. Das ging ja schnell. Was war das für ein Knall gerade eben?" Sie blickte Brennan an. "Kalli hat‘s vertrieben. Sie ist durch eines der Fenster davon gflogen."

    "Ich danke dir."schickte Ta’shara Brennan hinterher und folgte ihm mit ihren Blicken, bis er aus dem Raum hinaus war. Sie goss sich noch etwas von dem Kaffee nach und überdachte ein weiteres Mal diese Situation. Nicht dass sie einen Zweifel hegte, einen Fehler zu begehen – eine Valisar beging nie einen Fehler. Zumindest keinen gefühlsbedingten Fehler. Aber sie überdachte, diesmal ohne die Wirkung des Weines, das Erleben der vergangenen Nacht, das sie letztlich nicht unwesentlich in ihrer Entscheidung beeinflusst hatte.
    Und seltsam. Jetzt, da sie allein war, war es ihr nicht recht. Irgendetwas störte sie an dem Zustand, aber sie vermochte nicht zu erklären, was es war. Eine Ahnung von …Gefahr? kam auf sie zu; so unvermittelt, wie der Rabe, der sich ihr näherte. In einem ersten Reflex zuckte sie zurück, schalt sich aber schon im nächsten Moment eine Närrin. Ein Rabe! Nichts weiter als ein Rabe namens Kalli. Das Tier musterte sie aufmerksam. Sie würde ihm die Gurgel umdrehn, sollte es auf den Gedanken kommen, sie anzugreifen.


    "Hallo Kalli. Bist du neugierig? Was bringt dein Mensch für eine Fremde mit hierher, hm?" Die junge Frau blickte suchend über den Tisch und fand noch ein kleines Stück des getrockneten Fleisches. Wie Brennan eben legte sie dem großen Raben das Stück hin und wartete, ob das Tier die von ihr dargebotene Nahrung nehmen würde.

    "Ah." meinte die junge Frau, stützte nun ihrerseits den Kopf auf die Hand und betrachtete Brennan. "Ja. Ich bin schön." Sie sagte das, ohne einen Funken von Überheblichkeit. "Du auch. Das klingt seltsam, nicht wahr?" Wenn ein Wort auch kein Empfinden in ihr auszulösen vermochte, so verfügte die Halbvalisar doch über ein gewisses Gespür für die Wirkung eines Wortes an sich. 'Hübsch' oder 'schön' im Zusammenhang mit dem Aussehen eines Mannes passte nicht. Sie wusste nicht warum, aber es passte nicht. Nicht richtig jedenfalls. Andererseits kannte sie auch kein entsprechendes Wort, das das Aussehen eines Mannes akkurat beschreiben könnte ohne kitschig zu wirken. 'Gutaussehend' kam dem nahe, war aber zu allgemein und eher nichtssagend. Trotzdem benutzte sie es mangels einer passenderen Beschreibung. Bisher hatte sich ihr noch kein Anlass geboten, ein solches Wort verwenden zu wollen. Also hatte sie auch nicht danach gesucht. Vielleicht sollte sie das tun?! Aber was zerbrach sie sich überhaupt den Kopf über so einen Unsinn? "Du bist der erste Mensch, zu dem ich so etwas sage." Fast klang es wie eine Entschuldigung.


    Ta’shara langte nach dem Käse und überdachte Brennans Frage. Im Geiste ging sie die Geschäfte durch, ihren Haushalt, überlegte, was sie an Verderblichem dort hatte… sie würde es mitbringen oder verteilen. Akribisch wägte die junge Frau Vor-und Nachteile eines Umzugs gegeneinander ab und nickte dann. Sie lächelte Brennan an. Er hatte sie gerne um sich. Das hatte den Ausschlag gegeben. "Ich denke, das lässt sich einrichten, eine Weile bei dir zu bleiben. Isst du Seestern-Ragout? Könntest du jemanden nach einer Droschke schicken? In dem Kostüm von gestern möchte ich nicht durch die Stadt laufen.“
    Ta'shara biss ein Stück ihres Brotes ab. Viel Hunger hatte sie nicht. Hatte sie eigentlich nie. Ihr reichte für gewöhnlich der Kaffee am Vormittag. "Ich denke, ich werde wieder herkommen, wenn ich soweit alles fertig habe. Wäre es dir gegen Mittag recht?"

    Ta'shara erwiderte Brennans Lächeln und folgte seiner einladenden Geste während der Mann ihr einen Becher dampfenden Kaffees vorsetzte. Tief sog sie den Duft ein. Nicht, dass es in ihr ein Wohlgefühl wecken würde. Aber sie hatte das schon oft bei den Menschen beobachtet. Für sie roch es einfach nur nach starkem Kaffee. Ein guter Kaffee, wie sie meinte. Aromatisch und ausgewogen. Brennan bewies auch hier seinen außerordentlich guten Geschmack.


    Sie legte ihren Kopf etwas schief, ganz so, wie der Rabe es tat, und musterte das Tier interessiert. "So bist du das also. Kalli. In der Hierarchie der geliebten Wesen in Brennans Leben ganz oben zu finden. Bist am Ende auch du eine Göttin?“ Sie lächelte Kalli an, ohne zu wissen, ob es den Vogel überhaupt interessierte oder ob er nicht vielleicht ebenso wie sie kein Gespür für Gefühle hatte. In unbestimmter Weise fühlte sie sich dem Tier verbunden und es war ihr immerhin wichtig, Brennan wissen zu lassen, dass sie seinen Raben... mochte? Nein. Sie sah Intelligenz in den schwarzen Augen des Tieres, ebenso, wie sich in Brennans Augen Intelligenz widerspiegelte. Deswegen respektierte sie Kalli. Deshalb hat sie die Nacht bei Brennan verbracht. Aber zu sagen, dass sie deshalb jemanden mochte, ginge wohl zu weit. Ta’shara blies in ihren Kaffee und nahm einen Schluck. Heiß! Aber aromatisch!


    Ihr Blick fiel noch einmal auf Kalli, ehe sie sich zu Brennan drehte. "Wird sie uns begleiten heute?" Wie selbstverständlich bezog die Valisar den schwarzen Vogel mit ein, der da mit am Tisch saß und alles genau beobachtete, ganz so, als gehöre er ehedem dazu. Im Geiste begann sie, den Tag zu planen.
    "Ich nehme an, du hast keine Tagesgarderobe für mich hier parat?... Begleitest du mich zu mir nach Hause oder treffen wir uns später wieder?"
    Ta'shara betrachtete Brennan. Die Art und Weise, wie er sie offen und ohne jede Scheu ansah war ihr fremd. Die Menschen nahmen eher Reißaus, wenn sie hinter ihre wahres Ich gekommen waren. Das hier kannte sie nicht. Das alles kannte sie so nicht.
    "Was ist? Warum siehst du mich so an?"

    Ta’shara war allein im Raum, als sie nach einem traumlosen Schlaf endgültig erwachte. Der Duft von Kaffee stieg ihr in die Nase. Das war gut. Zu einem Morgen gehörte ein anständiger, starker, schwarzer Kaffee. Die junge Frau setzte sich im Bett auf, streckte sich und wollte eben die Decke zurückschlagen, als sie inne hielt und lauschte. In einem der Zimmer hörte sie Brennan hantieren, was nicht weiter ungewöhnlich war, denn es war schließlich sein Heim. Doch hatte sie so früh am morgen nicht mit Besuch gerechnet. Nochmals lauschte sie. Doch ja. Brennan unterhielt sich mit jemandem und während sie aufstand und ans offene Fenster trat, überlegte sie kurz, ob er gestern einen Besuch erwähnt hat. Aber ihr fiel nichts ein. Einen Moment noch verharrte sie still, atmete tief die kühle Morgenluft und ließ ihren Blick über die Straße und die angrenzenden Häuser schweifen. Sie war lange nicht in der Stadt gewesen. Nur die ältesten würden sich ihrer vielleicht noch erinnern, wenn überhaupt. Sie ging unauffällig durchs Leben. So unauffällig zumindest, wie es ihr möglich war. Sie war eine Einzelgängerin. Ohne Grund verbrachte sie ihre Zeit nicht mit anderen.


    Und doch war sie heute morgen nicht in ihrem eigenen, sondern in Brennans Bett erwacht… ohne irgendeinen besonderen Grund. Sie drehte sich um und folgte den Geräuschen, bis sie in dem Durchgang zu Brennans Küche stehen blieb und sich nach dem vermeintlichen Besucher umsah. Aber da war niemand. Niemand außer einem Raben, der auf Brennans Schulter saß und sie aus intelligenten, schwarzen Knopfaugen aufmerksam musterte.
    Kalli. Das musste das Tier sein, von dem Brennan die Nacht erzählt hat und dessen Gemälde im Wohnzimmer hing.
    "Guten Morgen." wünschte sie, blieb jedoch, wo sie war. "Kann ich einen Kaffee bekommen, bitte?"