Anmerkung: Dieser Thread spielt etwa 10 Monate in der Vergangenheit.
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"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse
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Ein schmaler Streifen Sonnenlicht drang durch den vergitterten Spalt, hoch oben in der Mauer. Das blasse Licht verkündete einen weiteren Morgen, der sich hinter den Mauern, weit über ihrem Kopf, auf die dunkle Stadt ergoss, doch reichte das Licht kaum aus, um die dunkle Gefängniszelle zu erhellen. Aus unruhigen Träumen erwacht, zählte Uera den 456. Morgen seit dem Tag, an dem sie den bisher einschneidendsten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Oder war auch dies nur ein grausamer Wink des Schicksals gewesen, das ihr eine Lektion erteilte und wollte, dass sie daran wuchs?
Die Erinnerung an diesen Tag war seit dem etwas verblasst, doch Uera rief sie sich täglich in den Sinn, damit sie kein Detail jemals vergessen würde. Träge erhob sie sich von ihrem Lager, mühte sich, ihre mageren Glieder zu strecken, von denen sie jedes einzelne deutlich spürte, und sie begann an diesen einen Tag vor mehr als einem Jahr zurückzudenken.
Ablehnung war ihr nicht unbekannt gewesen, doch nach den vielen Wochen der erfolglosen Suche nach einem Schmiedemeister in Caraska, der sie lehren wollte, hatte sie genug davon erfahren. Sie hatte ihre Suche endgültig aufgegeben, wollte weiterziehen, Richtung Küste, Richtung Meer ... doch die dunkle Stadt mit ihren schwarzen Häuserwänden, hatte sie in ihren Bann gezogen, hielt sie aus unerfindlichen Gründen länger fest, als sie gedacht hatte. In den vergangenen Jahren hatte sie viele Städte gesehen, viele Orte, an denen sich die Trockenen in ihrem Reichtum suhlten und viele Orte, an denen die Armut zum Himmel schrie – doch kein Ort war vergleichbar gewesen mit Caraska.
Niemand verließ das Haus ohne Waffe. An vielen Tagen zog man im Morgengrauen einen Toten aus einem der Abwasserkanäle. Nahezu jeder hatte in seinem Leben schon gestohlen, geraubt oder gemordet. So gut wie nie verschwand der Geruch nach Schattentabak gänzlich aus der Luft und mit ihm der Geruch nach Ruß und Asche aus den vielen Schmieden.
Hier, in ihrer Zelle, roch sie nichts davon. Prüfend tasteten Ueras Finger über ihre Unterlippe, deren Schwellung verriet, dass sie gestern aufgesprungen war. Sie ging auf einen Eimer sauberen Wassers zu, den sie sich gestern verdient hatte, ließ sich davor auf die Knie sinken. Es war kaum eine nennenswerte Menge, doch es reichte zumindest aus, um ihre Haut zu benetzen, ihre Kiemen zu befeuchten, das unangenehm raue, spannende Gefühl zu lindern, dass ihren ganzen Körper überzog. In diesem Verlies trocknete ihre Haut nicht so schnell aus wie an der freien Luft, schon gar nicht so rasch wie bei der Arbeit an der Esse, doch sie war fern von jedem Wasser und es hatte sie schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr umspült.
An jenem Tag vor vielen Monaten war sie zum letzten Mal geschwommen, erinnerte sie sich mit einem Stich im Herzen, im relativ klaren Nass eines Kanals, der rauschendes Flusswasser an ein Wasserrad spülte, mit welchem eine stampfende Hammerschmiede betrieben wurde. Der Abend und die Nacht waren rasch über die Stadt hereingebrochen und dann, wenn in anderen Städten das Leben erstarb, schien es Caraska es genau anders herum zu sein. Die Straßen waren gut gefüllt, genau wie die Tavernen, Bordelle und auch die Häuser in denen der Konsum des Schattentabaks geradezu zeremoniell stattfand. Uera hielt sich von diesen Häusern fern. Alleine der schwache Geruch des verbrannten Krautes, der vielen wie ein Parfum anhaftete, war schon genug, um ihr Kopfschmerzen zu bereiten und so hatte sie sich diesen Häusern niemals mehr als absolut nötig war genähert.
Stattdessen hatte sie sich an leichte Beute gewöhnt. Niemandem konnte so leicht sein ganzes Hab und Gut gestohlen werden, als den Berauschten. Und wenn die gut betuchten Damen und Herren ihrer Sucht nachgingen, war zumeist keine Seele mehr zuhause und wachte über ihr Eigentum. So hatte sie sich an jenem Abend auf dem Weg zu einem Anwesen gemacht, dass sie schon vor längerem entdeckt hatte und das eine gute Ausbeute versprach. Es war das Haus einer der vielen Waffensammler Caraskas und dafür, dass er so einige Schätze besaß, erschien ihr sein Haus nur spärlich bewacht. Die Vorfreude auf reiche Beute hatte Uera damals zu ungeduldig gemacht, zu unruhig und vor allem: unvorsichtig.
Mit einem bitteren Ausdruck in Ueras Gesicht, schöpfte sie mit den Händen Wasser aus dem Eimer, füllte ihren Mund, durchspülte ihre Kiemen mit dem kühlen Nass, ließ es kontrolliert wieder aus ihnen ausströmen, ehe sie sich wieder der staubigen Luft verschlossen.
Ein erlösendes Gefühl, das wohl nur ein Meereslebewesen fern seiner Heimat kennen konnte.