Der Palast der Nacht (alt)

  • Immer wieder klangen die Worte der Yassalar in Deleilas Kopf als sie - eine vermummte Gestalt unter vielen anderen - auch wenn ihre weiße Kleidung wohl auffallen mochte - durch die Straßen eilte. Shirashai.. ein Name, den viele nur mit Furcht aussprachen. Was war daran? Was lag hinter dieser Furcht?


    Als der Tempel Shirashais in Sicht kam, wurden die Schritte der Valisar langsamer. Niemand verlangte von ihr, das sie gleich dieser Göttin huldigte. Aber sie wollte sich ansehen, wie der "Palast der Nacht" aussah.. wie die Leute sich dort verhielten. War es Zwang oder wahrhafte Verehrung, welche die Leute hinführte?


    Für den Moment fühlte Deleila sich wie eine Suchende. Eine Suchende nach der Wahrheit, nach ihrer Wahrheit? Eine Suchende auf der Suche nach dem Pfad ihrer Rache. Die eisblauen Augen blitzten auf, als sie zurückdachte an das, was Brennan mit ihr getan hatte. Stolz funkelte in ihren Augen. Furcht war etwas Unschönes - aber sie würde sich davon nicht bezwingen lassen.


    Ruckartig setzte sie sich wieder in Bewegung. Und betrat den Tempel Shirashais. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, trat sie gleich hinter der Tür zur Seite, um zunächst einmal den Blick schweifen zu lassen. Sie sah sich um, sah sich den Palast an und die Leute, die möglicherweise zu dieser Zeit noch hier waren. Schweigsam stand sie dort.. die weiß gekleidete, kühle Schönheit einer Valisar, gepaart mit der tiefen Wut in ihrem Inneren und der Sehnsucht nach Rache und danach, ihre Gefühle auszuleben.

  • Die weiß gekleidete Gestalt fiel auf. Unter all den schwarz gewandeten Anhängern der Shirashai war ihre Anwesenheit beinahe ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit, das blendend weiß und unweigerlich, die Aufmerksamkeit des Auges auf sich zog. Auch Sharinoe blieb sie nicht verborgen, doch im Gegensatz zu den anderen Anwesenden spürte sie, daß sich hinter der weißen Kapuze noch mehr verbarg. Ein Herz, das auf der Suche nach etwas war und in dem etwas brannte, das sie aus der Ferne noch nicht zu bestimmen vermochte.
    Doch noch hielt sich die Hohepriesterin der Shirashai im Verborgenen und beobachtete das Wesen nur, dessen Wunsch es offenbar war, gesehen zu werden. Der Dienst an Shirashai war für diese Nacht schon lange vorbei und all jene, die sich noch hier aufhielten, waren gewöhnlicherweise in ihre persönliche Zwiesprache mit der Göttin der Nacht vertieft und hatten persönliche Anliegen. So war auch Sharinoes Aufgabe für diese Nacht beendet und sie verblieb im Hintergrund, falls einer der Betenden ihren Rat und ihre Führung ersuchen wollte. Nahezu unsichtbar war sie in ihrem schwarzen Kleid, das das dämmerige Licht zu verschlucken schien und nur ihre weiße Haut verriet den Ort, an dem sie sich aufhielt.

  • Möglich, das die weiße Haut der Valisar ins Auge stach. Vielleicht aber auch nicht. Deleila löste sich von ihrem Standpunkt neben der Tür und machte einige Schritte nach vorn, um mehr von diesem Gebäude zu sehen. Sie fühlte sich eigentümlich. Fast so, als würde das Gebäude sie besonders in seinen Bann ziehen. Es war ein Gefühl, das sie lange nicht verspürt hatte und sie wusste das. Für einen Moment war sie versucht, ihre Kapuze zurück zu streifen, doch unterließ sie dies. Zwei weitere Schritte nach vorn folgten, wohl in Sharinoes Richtung, doch scheinbar hatte die Valisar die Hohepriesterin wirklich nicht bemerkt.


    "Was verbirgt sich hinter all dem..?" Ehe es ihr bewusst wurde, hatte sie die Worte halblaut vor sich hin geflüstert. Ihr Blick nahm die Statue der Göttin in Augenschein. Sie wollte so vieles wissen, so vieles gab es, das sich seit dem Erlebnis mit Brennan in ihrer Seele tummelte, Abgründe, derer sie sich zuvor nie bewusst gewesen war.
    Mit einem Mal hatte sie das Verlangen danach, sich niederzuknieen vor der Statue dieser dunklen Göttin, welcher so viele Böses nachsagten.
    Und das tat sie dann auch. Inmitten all der schwarz gekleideten Gestalten kniete sie sich hin. Sie wusste nicht wieso.. in ihrem Kopf jedoch wirbelten die Gedanken, die unzähligen Fragen und der Wunsch nach Rache, der sie hergetrieben hatte. Aber auch der Wunsch, Brennan zu verstehen, zu verstehen, was der Mann mit den dunklen Augen an dieser Göttin fand.

  • Sharinoe beobachtete das Schauspiel aus dem Dunkel heraus und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Die Haut so blass wie die Haut einer Valisar, daran konnte kein Zweifel bestehen. Kein anderes Volk Niel'Anors besaß diese frostige Hautfarbe, die mit der unterkühlten Schönheit einer marmornen Statue einher ging. Wie überaus ungewöhnlich war es, daß ein solches Wesen den Beistand Shirashais suchte. Denn Valisar kümmerten sich gewöhnlicherweise wenig um das Wirken der Götter und wenn sie es tat, erwählten sie gemeinhin nicht Shirashai.
    Doch diese Valisar schien anders zu sein. Womöglich ein Halbwesen? Die Frucht einer Verbindung, die dem reinen Pflichtgefühl entsprungen sein mochte? Denn Sharinoe spürte, daß starke Emotionen von dem Wesen ausgingen. Emotionen, die es zu verschlingen trachteten. Emotionen, die Shirashai nutzen konnten.
    Langsam und leise trat die Hohepriesterin aus den Schatten und ließ ein mildes Lächeln um ihre Lippen spielen, das sie für gewöhnlich nur jenen zeigte, die Rat und Trost bei der Göttin der Nacht suchten. Ihre Stimme war leise, ein leichtes Flüstern nur, das Deleilas Ohren wie ein sanfter Windhauch berührte.


    "Du suchst etwas, mein Kind. Und Shirashai kann Dir helfen, Deinen Weg zu finden, wenn Du Dich mir anvertrauen möchtest..."

  • Langsam hob die Valisar den Kopf, als die leise Stimme so sanft an ihr Ohr drang. Die eisblauen Augen musterten Sharinoe von unten her.. jener so typisch kühle Ausdruck der Valisar zunächst, welcher dann wich und einem kaum merklichen Lächeln Platz machte.


    "Ja, ich suche etwas.. doch vermag ich euch nicht genau zu sagen was..." begann sie leise, die Frau vor sich genau musternd. "Ich weiß nicht, ob ich pure Rache suche.. oder ob ich Antworten suche auf die Anhänglichkeit jenes faszinierenden Mannes mit den dunklen Augen.. Anhänglichkeit zu.. Eurer Göttin.. " Fast wie von selbst, durchaus fasziniert sah sie kurz an der Statue empor, welche die Göttin zeigte, ehe ihr Blick zur Hohepriesterin zurückkehrte. "Suche ich einen neuen Weg zu leben, nachdem all das was ich war, zweimal verändert wurde? Könnt ihr mir sagen, was ich suche?"


    Leise war ihre Stimme, zu leise, um von anderen vernommen zu werden, doch mochte jedes Wort der schönen Valisar gar zu deutlich an Sharinoes Ohren dringen.

  • "Ein verirrtes Herz auf der Suche nach Erlösung. Du bist an den richtigen Ort gekommen, mein Kind. Denn die Nacht wird Dir Trost und Erleichterung verschaffen, während die Schönheit der Sterne Deinen Schmerz verblassen lässt. Komm, vertrau mir Deine Sorgen an."


    Sharinoes Stimme war leise und einschmeichelnd, es war schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen, als sie nach Deleilas Hand griff und sie auf die Beine zog, um sie zu einer der Bänke zu geleiten, die den Altarraum bestückten. Die Schönheit des Tempels wirkte ähnlich einlullend wie Sharinoes Stimme, die stets von einer sanften Macht begleitet zu werden schien. Beinahe fühlte es sich an, als ob die Mauern des Palastes der Nacht verschwunden waren und dem echten Nachthimmel Platz gemacht hatten, der sich bis in die unendlichen weiten des Universums erstreckte. Die Welt um sie herum schien zu verschwimmen und verschwand, bis die Existenz anderer Lebewesen kaum mehr zu spüren war.
    Sharinoe wankte keinen Augenblick in ihrem Ausdruck milder Güte, auch wenn ihr Kopf sich mit der Unwahrscheinlichkeit einer fühlenden Valisar beschäftigte. Denn sollte sie nicht die wahre Liebe gefunden haben und niemals einsam sein?

  • Sie fühlte sich beinahe wie in Watte gepackt, während sie Sharinoe zu den Bänken folgte. Der Nachthimmel schien mit einem Mal unendlich nah und Deleila sah sich um, als sähe sie die Welt gerade mit neuen Augen, fast wie ein Kind, das seine Umgebung nicht kannte.
    Langsam wandte sie ihr Gesicht wieder der Frau neben sich zu.


    "Mein Leben war einst von Ruhe und Liebe geprägt.. doch Narions Zorn riss uns alle, die Valisar, aus diesem Leben.. verdammt dazu, ohne Gefühle zu wandeln.." Der Beginn ihrer Erzählung mochte jedem Wesen bekannt sein, war doch bekannt, was die Valisar waren und warum.
    "Es war ein trauriges Leben.. nur die Sehnsucht nach den Gefühlen, die wir einmal hatten.. aber es war auch ein Leben, in dem niemand uns verletzen konnte. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte Mileana niemals gefunden.. sie liebte mich wahrhaftig und löste meinen Fluch.. wahrscheinlich liebt sie mich immer noch.. aber ich habe sie verlassen... dies war die zweite Veränderung. Ich sehe nicht mehr aus wie einst.. doch ich habe meine Gefühle wieder. Um welchen Preis? Für welchen Zweck? Ich will Rache haben und weiß nicht ob ich sie je bekommen werde.. ich empfinde Wut, wenn ich daran denke, das man mich in dunkle Schiffe lockt, nur um mir Angst zu machen.. aber ich bin auch neugierig.. ich will wissen, warum der Dunkeläugige das gemacht hat.. und was die Göttin.. so anziehend macht.. für ihn und all diese Wesen hier."


    Es war ein Versuch zu erklären, was in ihr vorging, etwas wirr vielleicht, aber zumindest ausgesprochen gegenüber Sharinoe. Der Blick der eisblauen Augen senkte sich etwas, hinab zu den Händen Sharinoes, in deren Einer noch immer Deleilas hellhäutige Hand ruhte.

  • "Erzähl mir von dem Dunkeläugigen, mein Kind. Was hat er Dir angetan?"


    Der Ausdruck auf Sharinoes Zügen blieb gleichmäßig gütig, doch innerlich zogen sich ihre Brauen zusammen, während sie Deleilas Worten lauschte. Demnach hatte ein Anhänger der großen Göttin der Nacht sie auf ein Schiff gelockt um ihr Angst zu machen? Sharinoe konnte sich kaum vorstellen, daß dies sein Ziel gewesen war und sie war neuierig, die verworrene Rede zu ergründen.


    "Und wenn es Rache ist, nach der Du dürstest, dann sag mir, an wem Du Dich rächen möchtest und ich sage Dir, wie Shirashai Dir dazu verhelfen kann."


    Die Hohepriesterin hatte ihren eigenen Verdacht diesbezüglich und sie hoffte ernsthaft, daß es nicht der Gott des Feuers war, an dem die Valisar sich rächen wollte. Denn im Grunde waren Shirashai und Narion stets Verbündete gewesen und der Schatten und das Feuer waren niemals weit voneinander entfernt. So bestand wenig Hoffnung, daß die Priesterschaft der Nacht auch nur einen Finger rühren würde, um ein solches Gesuch zu unterstützen. Doch zunächst würde sie Deleila aufmerksam lauschen.

  • "Wir trafen uns auf dem Maskenball und verabredeten uns am Hafen. Er zeigte mir ein altes Schiff, nachdem ich ihm gesagt hatte, das ich all meine Gefühle auskosten und neu ergründen will.. dort unten.. begann er mir Angst zu machen, doch vielleicht bin ich zu dumm, zu begreifen, was er mich damit lehren wollte.. ich zürne ihm nicht.."


    Für einen Moment unterbrach Deleila ihre Erzählung und legte den Kopf schräg, wodurch eine der lockigen Strähnen in ihr Gesicht fiel.
    "Ja, ich will Rache.. doch.. es ist merkwürdig. Ihr wisst sicher um die Geschichte der Valisar.. und lange wollte ich Rache an... Narion. Aber das hat sich gewandelt in der letzten Zeit... auf einmal möchte ich Rache.. an denen die keinen Finger gerührt haben als Narion uns verfluchte." Gegen Ende wurde ihre Stimme immer leiser und unsicher legte sich der Blick aus den eisblauen Augen auf Sharinoe.
    Für sich musste Deleila feststellen, das diese düstere Frau eine unbeschreibliche Schönheit und eine starke Faszination auf sie ausübte - genauso wie Brennan es immer noch tat.


    Noch fühlte sie sich unsicher auf dem Pfad den sie eingeschlagen hatte, doch irgend etwas in ihr verlangte, das sie diesen Weg ging. Es fühlte sich so richtig an.

  • Sharinoe spürte das Verlangen, das in Deleilas Inneren loderte. Und sie spürte ebenso, daß sie nur allzu bereit war, auf den Pfaden Shirashais zu wandeln und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Ja, eine Valisar musste in ein tiefes Loch stürzen, nachdem der Fluch, der ihr Leben zuvor bestimmt hatte, gebrochen war. Und vielleicht war es gar besser, den Fluch des Narions niemals brechen zu wollen. Sie sah ein Wesen vor sich, das nach einer neuen Perspektive suchte und das dabei unweigerlich von der Dunkelheit angezogen wurde.
    Sharinoe lächelte. Ein gütiges Lächeln in den Augen Deleilas - doch tief in ihrem Inneren entsprang es nicht ihrer Herzensgüte, sondern dem Wissen, das sich bald ein neues Wesen in die Reihen von Shirashais Kindern eingliedern würde. Es war ein frohlockendes Lächeln, denn die Göttin der Nacht wäre sicherlich entzückt über eine Valisar in ihren Reihen.


    Doch zuerst galt es, Deleila auch von diesem Pfad zu überzeugen.


    "Shirashai kann Dir helfen, mein liebes Kind. Alles was Du tun musst, ist, ihr all Deine Wünsche und Dein Verlangen mitzuteilen und sie wird Dir ihr Ohr schenken und Dir dazu verhelfen, Deine Träume zu verwirklichen. Du musst ihre Hilfe nur annehmen."


    Hier zögerte Sharinoe und brach den Satz ab und schwieg - es war wohl noch zu früh, Deleila mit den Kleinigkeiten vertraut zu machen, die ein solches Unterfangen mit sich bringen konnten. Und es war wohl kaum dienlich dabei, sie wirklich zu überzeugen.

  • "Und sie wird mir Hilfe bieten, obgleich ich zuvor lichteren Göttern diente... vor dem Fluch?"
    Noch war ein Funken Unsicherheit vorhanden, doch je länger die weiß gekleidete Valisar mit der Hohepriesterin sprach, um so mehr Sicherheit gewann sie wieder, um so mehr wurde sie wieder sie selbst, die Frau, die immer gewusst hatte, was sie wollte, selbst als man sie verflucht hatte. Immer hatte sie ein Ziel vor Augen gehabt.


    Wer seiner Gottheit mit vollem Herzen diente, der würde auch belohnt werden. So oder so ähnlich hatte der Satz geklungen, der ihr einmal beigebracht worden war. Wenn sie sich also genug anstrengte.. vielleicht würde sie Shirashai damit erfreuen?
    Einen Moment überdachte sie ihre eigenen, sich wild drehenden Gedanken, bevor sie den Blick wieder hob, um Sharinoe anzusehen.


    "Was muss ich tun?"

  • "Shirashai ist großmütig, mein Kind. Viele ihrer Gläubigen haben sich von anderen Göttern abgewandt, um in ihr Trost und Hilfe zu finden. Du bist nicht die erste, die unverhofft die Sehnsucht nach der warmen Umarmung der Nacht verspürt hat. Alles, was Du tun musst, ist Shirashai aus freiem Herzen treu zu dienen und ihren Weisungen zu folgen."


    Sharinoe lächelte sanft. Die Valisar war so verzweifelt, daß sie sich nur zu gerne in Shirashais Arme werfen wollte. Sie war dazu bereit, jedes ihrer Worte zu glauben und in sich aufzusaugen, als sei sie ein Schwamm. Doch sie schien unsicher, was sie tun musste, um Shirashai zu gefallen und es konnte keinesfalls schaden, ihr dabei ein klein wenig Hilfe zu gewähren. Diese neu erwachte Zuneigung zu der dunklen Göttin war noch viel zu frisch, um sie sich selbst zu überlassen.
    Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Palast der Nacht unverhofft Zuwachs bekommen, von der Göttin selbst gesandt - ein Umstand, der keineswegs häufig vorkam und der auf ein spezielles Interesse hinwies. Und die Hohepriesterin hielt es für eine großartige Idee, Deleila der Weisung ihrer neuen Priesterin anzuvertrauen, um Deleilas Willen Shirashai zu dienen, nicht versiegen zu lassen. Er musste genährt und gestärkt werden, damit er weiterhin wachsen und gedeihen konnte.
    Ein kurzes Nicken in die undurchdringliche Dunkelheit, die Shiaree und die privateren Räume des Tempels auf magische Weise verbarg. Mehr bedurfte es nicht, um zu verdeutlichen, was Sharinoe im Sinn hatte.

  • Durch der Schleier der Dunkelheit hindurch verborgen hatten Shiarées goldene Augen jede Bewegung im Tempel der Shirashai verfolgt. Es waren zumeist die üblichen, in schwarzem Tuch verborgenen Anhänger ihrer Göttin gewesen, die in stillem Gebet zu ihr sprachen, sie um Hilfe anflehten oder ihr ihr innersten Selbst anvertrauten. Doch dann hatte eine Gestalt den Raum der Nacht betreten, deren weiße Gewänder ihre Augen, die die Dunkelheit so liebten, beinahe geblendet hatten. Ein Schwall der Emotionen füllte die Luft um die Valisar herum, so untypisch für ihr Volk und für jeden im Raum greifbar. Natürlich hatte Sharinoe eine Chance gewittert und natürlich hatte die Hohepriesterin Recht behalten.


    Shiarée Augen ruhten nun ganz auf den beiden, wie sie sich auf einer der schwarz-schimmernden Bänke niedergelassen und verfolgen jedes Wort. Dieser bestimmte Ausdruck in den Augen der schönen Frau, beinahe ein Abbild von Shirashai selbst, war ihr inzwischen vertraut und er rief den Hauch eines Lächelns auf den Lippen der Priesterin hervor. Still wartete sie auf ein Zeichen, die Hände auf dem Schoss gefaltet. Diese Position ließ sie fast sittsam wirken, ein Anblick, der bei einer Anhängerin der Göttin der Nacht mehr als merkwürdig anmutete.


    Schließlich kam das erwartete Zeichen. Anmutig erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und trat durch die Dunkelheit. Ihre Schritte verursachten keinen Ton, lediglich das weiche Schleifen ihres Gewandes auf dem Marmorboden verriet, dass sie sich näherte. Anstatt jedoch direkt an die Hohepriesterin und die Valisar heranzutreten wanderte Shiarée einmal um die Sitzreihe herum. Nun stand sie hinter dem weißen Leuchten und legte der Frau behutsam die Hand auf die Schulter. Langsam senkte sie ihr Haupt, so dass ihre tiefroten Lippen beinahe das Ohr das Valisar berührten. „Fürchtet Euch nicht, mein Kind. Ich werde Euch helfen die Gunst der Göttin zu gewinnen.“ Leise war Shiarée Stimme, kaum mehr als ein Flüstern und ebenso sanft die Berührung, so dass man unsicher sein konnte, ob ihr Anwesenheit etwas anderes war als bloße Einbildung.

  • Es war ein leiser Schreck, welcher die weiß gekleidete Valisar durchfuhr, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte und sie eine weitere Stimme vernahm. Beinahe hätte sie aufgelacht über die Bezeichnung "Kind", als sie langsam den Blick hob und die eisblauen Augen sich auf die Person legten, welche hinter ihr stand. Vermutlich hatte sie schon weitaus mehr Jahre gesehen als diese Frau, dennoch schwieg Deleila. Es gab jetzt keinen Grund für derlei Hohn und sie hatte sich selten über Personen lustig gemacht oder das, was jene sprachen.


    Die Musterung dauerte noch einen Moment an, in dem Deleila das Erscheinungsbild der neu hinzugetretenen Priesterin in sich aufnahm, ehe sie nochmals zu Sharinoe sah. "Ich danke euch." sagte sie dann leise, bevor sie sich leicht drehte, um die andere Priesterin wieder anzusehen und zu nicken, bereit, zu tun was jene sagte, um zu finden, wofür sie hergekommen war. Kein Gedanke an Mileana, kein Gedanke an ihre alte Freundin Valea, kein Gedanke an das Leben, das sie all die Jahre geführt hatte. Sie wollte Rache, an irgendwem. Und wenn sie sich eben nicht an Narion rächen konnte, dann an jemand anderem. Mit Hilfe dieser Göttin würde sie mehr erreichen können, als sie sich früher je erträumt hatte.
    Abwartend ruhte ihr Blick nun auf Shiarée.

  • Kalte blaue Augen blicken sie an, ein Blick genährt von Gefühlen. Wiederum drängt sich Shiarée die Frage nach der Geschichte der schönen Valisar auf, die Frage, wie sie den Fluch Narions bewältigt haben mag. War er es, an dem sie Rache wünschte? Allzu offensichtlich erschien diese Schlussfolgerung angesichts der Geschichte ihres Volkes. Bedächtig richtete sich die Priesterin auf, schritt um die Bank herum um sich schließlich neben Deilala nieder zu lassen, jedoch nicht dort, wo zuvor Sharinoe gesessen hatte, sondern auf der anderen Seite. Sorgsam faltete sie die Hände auf ihrem Schoß, ließ ihre Augen kurz darauf ruhen, um dann in das leuchtend weiße Gesicht der Valisar zu blicken.


    „Mein Name ist Shiarée. Mir hat die Göttin ihre Gunst erwiesen und sie wird sie auch Euch erweisen.“ Shiarée wandte das Gesicht ab und blickte nun empor zu der Statue von Shirashai selbst, so schön, dass es den Betrachter fast schmerzte. Der Schein der schwarzen Diamanten ihrer Augen fing sich in denen der Priesterin und gab ihnen einen sonderbaren Glanz. Während sie weiter sprach wandte die Priesterin weder den Blick ab, noch blinzelte sie. „Eure Rachegelüste sind in alle Winde zerstreut, sie irren unsicher umher wie Schneeflocken im kalten Nachtwind. Sie wissen nicht wohin und es fehlt in ihnen an Kraft. Die Göttin wird Euch helfen, doch es ist eure Aufgabe, herauszufinden, wem Euer Hass gebührt. Nur dann werdet Ihr stark genug sein, der Göttin einen Beweis eurer Treue zu erbringen und ihr Geschenk zu empfangen. Konzentriert Eure Gefühle.“ Die Stimme der Priesterin war leise wie stets gewesen, doch ihre Worte durchtränkt von der Kraft, die Shirashai nur ihren Anhängern zuteil werden ließ. Shiarée kannte ihre Aufgabe und sie hatte erkannt, dass der Zorn der Valisar stark genug war, um alles zu tun, um die Gunst der Göttin zu erringen.


    Schließlich löste sie den Blick von der Statue. Das Funkeln der Diamanten schien noch einen Wimpernschlag lang in ihrer Iris nachzuglühen, als sie ihren Kopf wieder zu Deleila wandelt. „Sagt mir, wen hasst Ihr mehr als alle anderen?“

  • Deleilas Blick folgte dem der Priesterin, an der beeindruckend schönen Statue hinauf, den Schein der schwarzen Diamanten betrachtend, ehrfürchtig fast.
    Doch die Frage der Priesterin dann ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken, den Blick wieder zu Shiarée wenden.
    Ein Gefühl von Zorn und Hilflosigkeit wallte in ihr auf, so stark, das sie es einfach nicht zu unterdrücken vermochte. Ein Gefühl der Wut, auf zwei Wesen, welchen sie einst gedient hatte. Sie hatten nicht geholfen. Sie hatten zugesehen, wie Narion die Valisar verflucht hatte und sie hatten nichts getan, um den Fluch aufzuheben, hatten die Valisar ohne Gefühle weiterleben lassen, mit dieser tiefen Sehnsucht, mit der Einsamkeit.
    Sie brauchte nicht zu überlegen. Die Gedanken schossen im Bruchteil einer Sekunde durch ihren Sinn und als sie Shiarée ansah, klang ihre Stimme dunkel, fast heiser vor unterdrückter Wut.


    "Lilliande, Yanariel und alle ihre Priesterinnen."


    Die ihren Worten nachfolgende Stille, egal wie kurz oder lang sie währen mochte, kam Deleila vor wie ein Paukenschlag am Ende eines guten Musikstückes.

  • Shiarée hätte laut aufstöhnen mögen. Statt all der leichten Opfer, die Deleila hätte wählen können, und bei denen die Göttin sich möglicherweise noch zu einer Handlung herabgelassen hätte, war ihr Hass auf Lilliande und Yanariel und dem nicht genug, dazu sollten auch noch alle ihre Priesterinnen mit in den Abgrund gerissen werden. Angesichts der Geschichte der Valisar mangelte es ihr an Verständnis für diese Wahl nicht, aber die dunkle Priesterin gab sich nicht der Illusion hin, dass sich Shirashai ganz gleich, wie viele Opfer man ihr auch bringen würde, dazu hinreißen lassen würde den Zorn der anderen Göttinnen auf sich zu ziehen. Aber diese Gedanken blieben sorgsam hinter einem zustimmenden Nicken verborgen.


    Noch immer ruhten Shiarée Katzenaugen auf dem weißen Gesicht, erkunden den Hass, der selbst dem lieblichsten Antlitz zu erschrecken vermochte. Überzeugung spricht aus den Zügen der Valisar, die erschreckend einfache Überzeugung, ein Rachenfeldzug würde ihr ihr Seelenheil zurück bringen. Sie selbst jedoch glaubte zu wissen, dass nur der feste Glaube an den Sinn des eigenen Handelns dies jemals bewerkstelligen würden.


    „Die Göttin wird sich Eurer Rache annehmen. Doch zuerst verratet mir, strebt ihr danach, eine ihrer Dienerin zu werden, so wie ich selbst? Möchtet Ihr euer ganzes Leben Shirashai zu Füßen legen?“ Ein Lächeln umspielte ihren Mund und gab Hinweise darauf, wie sehr Shiarée ihr Dasein als Priesterin schätzte.

  • Eine längere Pause folgte den Worten der Priesterin. Deleila sah nachdenklich aus. Wenn sie diesem Pfad folgte, wenn sie gar die Möglichkeit hatte, zu werden wie diese Frau.. würde es möglich sein? Sie würde ihr ganzes, altes Leben beiseite legen, abstreifen, wie eine Schlange ihre alte Haut abstreifte.
    Der Blick der eisblauen Augen kehrte zu Shiarée zurück, ehe die Valisar wieder leise sprach.


    "Wäre es denn möglich, das ich jenen Pfad beschreite, den auch ihr geht, werte Priesterin?" Da schwang ihre Unsicherheit neuerlich in ihrer Stimme mit, obgleich der Gedanke, so zu werden wie Shiarée oder gar die charismatische, schöne Frau, welche sie zuerst begrüßt hatte, doch sehr reizte.
    Ja, eigentlich zog es sie fast schon magisch an, als ihre Gedanken in diese Richtung wanderten. War sie wirklich bereit, ihr altes Leben ganz hinter sich zu lassen und zu werden, was ihr möglicherweise bestimmt war, nachdem sie nun ihre Gefühle wieder hatte?
    Ihre schlanken Finger, die zuvor noch nervös miteinander gespielt hatten, ruhten nun erstaunlich ruhig auf Deleilas Schoss. Eine innere Ruhe, eine merkwürdige Ruhe, die sie sich selbst nicht zu erklären vermochte. Oder vielleicht doch? Zunächst erwartete die weißhaarige Frau eine Antwort der Priesterin. Merkwürdigerweise glaubte sie nicht, das Shiarée sie anlügen würde, trotz allem, was die Wesen in der Stadt sich hinter vorgehaltener Hand an Vorurteilen über die Anhänger der dunklen Göttin zuflüsterten.

  • Ein leiser Hauch des Triumphes mischte sich mit einer Priese Stolz. Sollte es ihr, Shiarée tatsächlich gelungen sein, diese strahlende Valisar auf den geheimnisvollen Pfad der Dunkelheit geführt zu haben? Würde sie so denn bald an ihrer und Sharinoes Seite wandeln? Die Entschlossenheit und Feierlichkeit in Deleilas Stimme ließ kaum daran zweifeln daran, dass ihre Entscheidung ernst war, bitter ernst. Obgleich dies sicher nicht Shiarées Verdienst war, würde die Gunst der Göttin wohl doch die ihre sein. Doch bevor sie diesen allzu erfreulichen Gedanken weiter auskosten konnte ermahnte sie sich selbst zur Ruhe. Zu viel gab es noch zu tun, bevor es so weit war. Und dann waren da ja auch noch die Rachegelüste der Valisar.


    „Der Pfad der Göttin steht jedem offen, der es wagt ihn zu beschreiten.“ Sanft legte Shiarée ihre warmen, weichen Hände auf die Deleilas, die nun so ruhig in deren Schoß ruhten. „Die meisten fürchten sich zu sehr vor Dunkelheit, aber in Euch wohnen Mut und Kraft.“ Unverwandt lag ihr Blick auf dem hellen Gesicht mit den ebenmäßigen, stolzen Zügen und den sanft geschwungenen Lippen und wohl noch berauscht von der Aussicht, bald wieder Shirashais Gunst zu steigen, konnte Shiarée sich kaum daran erinnern, dass ihr jemals etwas so anmutig erschienen war. „Und gibt es einen schöneren Moment des Tages als den, in dem die Dunkelheit zärtlich das Licht umschließt?" Sie wartete nicht erst eine Antwort ab. "Nein, es gibt keinen Grund zur Furcht, denn die Nacht ist warm und samtig. Und ihr werdet unter ihren Sternen schreiten.“ Und mir zu neuer Achtung verhelfen. Auf dem Gesicht der Priesterin zeigte sich nun ein warmes Lächeln.

  • Natürlich war es die Neugierde gewesen, die Brennan abermals in den Palast der Nacht getrieben hatte. Shiarée sollte sie heißen. Eine neue Priesterin.


    Es war nichts besonderes, dass sich ein neuer Priester in einem der Tempel niederließ, dennoch versuchte Brennan immer wieder, die neuen Gesichter schnellstmöglichst zuordnen zu können. Durch den Palast der Nacht hatte er schon so viele Verbindungen knüpfen können und jeder neue Priester bedeutete auch neue Kontakte. Zudem waren Shirashais Priesterin nunmal immer ein Augenschmaus, was kaum zu verachten war.


    So betrat Brennan lächelnd den Palast der Nacht und sah sich um. Kein unbekanntes Gesicht konnte er erkennen. Aber weit vorne stand Sharinoe. Brennans Herz sprang. Sharinoe zu sehen war immer wieder eine wunderbare Erfahrung.


    Im gleichen Moment sah er jedoch die Person, mit der Sharinoe sprach. Weißes Haar! Haut wie Schnee.. Eine Valisar! Nun hatte Brennan bereits mit einigen Valisar Bekanntschaft gemacht, doch bei dieser Person war er sich ganz sicher, dass er sie kannte. Deleila. Der Maskenball. Das Schiff.


    Brennan nahm in einer der hintersten Reihen Platz und blickte nach vorne. Sharinoe verließ die Valisar und stattdessen nahm eine andere Frau bei ihr Platz. War das die neue Priesterin? Aufmerksam beobachtete der Vogelhändler die beiden Frauen und bemühte sich darum, den Schein zu wahren, dass er nur ein weiterer Betender wäre. Doch das Lächeln, dass auf seinem Gesicht ruhte, kam nicht von religiöser Entzückung, sondern aus Freude, dass sein Plan, die Valisar mit anderen Emotionen bekanntzumachen schneller Früchte getragen hatte, als er selbst geglaubt hätte.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!