Der Palast der Nacht (alt)

  • "Nein, es gibt keinen Grund zur Furcht, denn die Nacht ist warm und samtig. Und ihr werdet unter ihren Sternen schreiten.“


    Ein warmes Gefühl kam in Deleila auf, als Shiarée diese Worte sprach. Ein Gefühl von Geborgenheit, wie die Valisar es für sehr lange Zeit nicht gespürt hatte, ein Gefühl, das ihr fremd geworden war, selbst als sie durch Miana ihre Gefühle wiedergefunden hatte.
    Diese Wärme, die auch aus dem Blick Shiarées sprach, dieser Stolz, erfüllte nun auch Deleilas Herz. Ein gutes Gefühl, wie sie befand und ein Lächeln fand den Weg auf ihre Lippen. Sie würde diesen Weg beschreiten dürfen, eine Chance bekommen können, sich zu beweisen und aufs neue einen Glauben zu finden. Wenn der mit ihrer Rache vereinbar war, um so besser. Und in jedem Falle konnte der Glaube eine Bastion um einen errichten und einen schützen und oftmals fand man auch Trost darin. Sie würde viel lernen müssen vermutlich. Doch ihr schien, als wäre Shiarée durchaus in der Lage und auch Willens, ihr dabei zu helfen und sie anzuleiten. Die Hände der Priesterin auf den Ihren fühlten sich warm und weich an und Deleila sah in diese katzenartigen Augen vor sich und konnte nicht anders, als weiter zu lächeln.


    "Dann möchte ich das.. lehrt mich und zeigt mir den Pfad, den ich zu gehen bereit bin." sprach sie dann sanft. Das Brennan in den Palast der Nacht gekommen war, war ihr nicht bewusst, zu sehr ruhte ihre Aufmerksamkeit derzeit auf Shiarée.

  • Die süßeste Melodie hätte in ihren Ohren nicht schöner klingen können als die Worte, die aus Deleilas Mund schlüpften. Sie würde ihr altes Leben abstreifen, wie eine Schlange ein zu eng gewordene Haut, und sich in die Arme der Dunkelheit werfen. Welch freudiger Tag dies doch war. Shiarées leise Ahnung vom Morgengebet, dass dieser Tag noch bedeutsames in sich trug, hatte keineswegs getäuscht. Aber hatte sie mit ihren Vorahnungen jemals wirklich falsch gelegen?


    Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung im hinteren Teil des Raumes wahr, doch da der Neuankömmling für sie nicht weiter von Belang schien, hielt sie ihre Augen fest auf die Valisar gerichtet. Ein langer Weg lag nun vor ihr, lag vor ihnen beiden, den es würde ihre, Shiarées, Aufgabe sein, dem frisch geschlüpften Kücken unter die Arme der Göttin der zu verhelfen. Und nicht zuletzt würde niemand anderes als sie selbst dafür sorgen müssen, dass Deleila stets in dem Glauben verweilte jeder ihrer Schritte würde sie näher zu ihrem Ziel, zur Rache, bringen.


    „Erhebt Euch nun.“ Ohne die Hände der Valisar los zu lassen stand die Priesterin von der Bank auf. Ihr Blick löste sich von den eisblauen Augen ihres Gegenübers und wandte sich erneut hinauf zu dem schönen Antlitz der Statue Shirashais. „Tretet vor die Göttin und tragt ihr Euer Anliegen vor. Sie wird Euch zuhören.“ Ermunternd nickte Shiarée Deleila zu und löste ihre Hände aus denen der anderen, nicht ohne Bedauern, hatten diese sich doch zart und weich in den ihren angefühlt. Nun jedoch war es an der Valisar, sich der Nacht zu offenbaren.

  • Langsam trat Deleila vor, bis vor die Statue der Göttin, vor welcher sie wieder auf die Knie sank.


    "Shirashai, Göttin der Nacht, auf der Suche nach einem Weg für meine Rache fand mein Schritt in dein Haus und hier, inmitten der Schönheit deines Palastes und deiner Gläubigen eröffnet sich mir ein Pfad, den zu gehen ich bereit bin, als angehende Priesterin." Für einen Moment überlegte sie, ob ihre Worte nicht überzeugend klangen oder irgendwie dumm, doch letztlich entschied sie sich dafür, weiter zu reden.
    "Hier bin ich nun und senke mein Haupt vor deiner Schönheit und Erhabenheit, um darum zu bitten, das ich in den erlesenen Kreis deiner Priesterinnen in die Umarmung der Nacht treten darf."


    Natürlich würde sie nicht sofort eine Priesterin sein. Aber die Worte, so fand sie, waren gut gewählt. Es würde sich zeigen, ob sie der Göttin gefallen würden. Und Shiarée? Die Valisar wagte nicht, den Blick in Richtung der schönen Schwarzhaarigen zu wenden, um zu sehen, was diese wohl dachte. Ihr Haupt blieb vor dem Antlitz der Göttin, vor der Statue, gesenkt.

  • Stumm verharrt Shiarée hinter Deleila, als diese vor der Statue auf die Knie sinkt. Obwohl die Valisar leise spricht, dringen die feierlichen Worte doch bis an das Ohr der Priesterin. Ein Gefühl, dass sich wohl am ehesten als Stolz bezeichnen ließ füllte ihre Brust, Stolz darüber, dass die schöne bleiche Frau sich so schnell an Shirashais Brust geworfen hatte. Sie würde eine Zierde der Anhängerschaft sein, wenn erst ihre Rachegedanken durch bloße Hingabe zur Göttin ersetzt worden waren. Dies zu vollbringen würde Shiarées Aufgabe sein, und freilich keine leichte. Aber sie durfte nicht zweifeln, sondern musste auf die Stärke vertrauen, die ihre Liebe zur Nacht ihr beschert hatte.


    Nachdem Deleilas das letzte bedeutsame Wort gesprochen hat, verschwindet die Priesterin im Dunkel des hinteren Bereichs des Tempels, um sogleich wie aus dem Nichts wieder aufzutauchen, einen Krug mit Wein in der einen und einen kleinen dunklen Gegenstand in der anderen Hand. „Erhebt euch nun.“ Aufrecht steht Shiarée vor der knienden Valisar, die Stimme ebenso ernst wie bedeutungsschwanger. Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist verschwunden, stattdessen scheinen ihre Katzenaugen auch noch heller zu leuchten als zuvor.
    „Seid Ihr bereit, der Göttin Shirashai treu und ergeben zu folgen? Seid Ihr bereit, stets im Sinne der Göttin zu handeln? Seid Ihr bereit, das Band mit der Göttin tagtäglich enger zu knüpfen? Seid Ihr bereit, Eure Liebe auf niemanden zu richten als auf die Göttin selbst?“ Schwere Worte entschlüpften dem Mund der Priesterin und für einen Moment schien das einzige Licht im Tempel von ihr selbst, der Valisar und den Augen der Statue auszugehen. Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, verstummte sie für einen kurzen Wimpernschlag, der die Luft mit Totenstille zu füllen schien. „Seid Ihr bereit, eine schwere Aufgabe zu erfüllen, die Euch schließlich berechtigt, in den Dienst der Göttin zu treten?“


    Nein, man wurde nicht einfach so Priesterin der Shirshai, und der Weg dorthin war bestimmt von Leiden, die die Schwachen nicht ertragen konnten. Dies war das Ziel, denn die Göttin der Nacht duldete keine Schwäche in ihrer Gefolgschaft. Doch nun, da Shiarée der Entschlossenheit in den Augen der Valisar entgegen blickte war sie sicher, dass der Zorn in ihrem Herzen ihr all die Stärke verleihen würde, die nötig war, um den Pfad der Dunkelheit zu gehen.

  • Die Valisar erhob sich, in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung, die wohl jeder Katze Konkurrenz machen konnte.


    „Seid Ihr bereit, der Göttin Shirashai treu und ergeben zu folgen? Seid Ihr bereit, stets im Sinne der Göttin zu handeln? Seid Ihr bereit, das Band mit der Göttin tagtäglich enger zu knüpfen? Seid Ihr bereit, Eure Liebe auf niemanden zu richten als auf die Göttin selbst?“


    Stille schien um sie herum zu herrschen, nur die Worte der Frau vor ihr drangen an Deleilas Ohren.


    „Seid Ihr bereit, eine schwere Aufgabe zu erfüllen, die Euch schließlich berechtigt, in den Dienst der Göttin zu treten?“


    Bedeutungsschwer die Worte. Wie eine harte Last, die zu tragen nun Deleilas Pflicht war. Natürlich, was hatte sie erwartet? Man wurde nicht einfach so eine Priesterin. Es gab Pflichten, Aufgaben. Doch sie war hier und sie war bereit, zu tun, was nötig erschien.


    Stille herrschte, Sekundenlang. Eisblaue Augen sahen in gelbe, erwiderten den Blick, der ihr entgegen gebracht wurde. Nicht viel war es, was Deleila als Erwiderung auf die Worte der Shiarée entgegen zu bringen hatte. Doch das, was sie sagte, war um so ernster und besiegelte den Pfad, den die ehemals lichte Gestalt zu beschreiten begonnen hatte. Noch immer war ihr Brennan nicht aufgefallen. Zu sehr war sie auf Shiarée und ihren eigenen, gerade begonnenen Pfad der Finsternis gerichtet.
    "Ich werde der Göttin dienen mit aller Kraft, die aufzubringen ich im Stande bin."


    Wenige Worte, doch die Bedeutung derer war umso schwerer. Dies war der Valisar bewusst. Sie wandte sich damit von ihrem alten Leben, ihrem alten Ich ab. Sie würde ein Wesen der Dunkelheit werden, welche sie liebevoll umarmen und in eine neue Gemeinschaft bringen würde. Für einen Moment dachte Deleila mit Bedauern an ihre alte Freundin Valea. Vermutlich wäre die Bardin entsetzt, wüsste sie vom Schwur der fühlenden Valisar und ihrem Bruch mit der Frau, welche sie befreit hatte.
    Erst jetzt, als Deleilas Augen für einen kurzen Moment sich von Shiarées Antlitz lösten und durch den Raum schweiften, erblickte sie für einen Moment Brennan unter den Gläubigen. Den Dunkeläugigen, welchem sie ihren Gang hierher erst zu verdanken hatte. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen oder machte es nur einen Hüpfer? Ganz gleich. Sie erlaubte sich nicht, länger zu ihm hinzusehen, auch wenn in ihren Augen ein Funken von Erkennen zu sehen war. Ihr Blick kehrte zu der Priesterin vor ihr zurück. Sie empfand weder Furcht, noch Reue. Nur Stolz, möglicherweise eines Tages zu diesen wundervollen, schönen Frauen gehören zu können, welche der Göttin der Nacht dienten.

  • Es hatte nur eines einzigen Satzes bedurft, aber die Bedeutung dieses Satzes wog schwerer als tausend Bücher. So waren die richtigen Worte dem Mund der Valisar entschlüpft und lockten gar das Lächeln zurück auf Shiarées blasses Gesicht. Nun war der erste Schritte getan, dieser erste Schritt, der so viel schwerer fiel als all die anderen. Langsam beugte die Priesterin sich vor um Deleila die Andeutung eines Kusses auch die Stirn zu Hauchen, die erste Stufe um das Band zwischen Shirashai und ihrer neuen Anhängerin zu besiegeln. Trotz all der Aufregung der letzten Minuten, die sich angefühlt hatten wie Stunden, war die zarte Haut unter ihren Lippen kühl. Wie alles an diesem Wesen.


    Nun war es an Shiarée, Deleila den Weinkelch zu reichen. „Trinkt einen Schluck. Viele andere Priesterschaften reichen Wasser, weil es rein ist, aber wir reichen Wein, weil er aussieht und schmeckt wie das Leben. Nein, nicht wie die Sünde, sondern wie das Leben. Trinkt und schmeckt Eure Göttin. Alle Geschmäcker vermischen sich in der Nacht, das Süße, das Saure und das Herbe. Die meisten Leute unterscheiden zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse. Aber die Nacht offenbart, dass in Wahrheit alles grau ist. Ihr werdet schon bald mehr sehen als andere.“


    Die Priesterin lächelte erneut, und es war ein wissendes Lächeln. Sie hob die linke Hand vor die Brust und öffnete sie. Auf ihrer flachen Handfläche lag etwas, das an einen Stein erinnerte. Klein, rund und schwarz, mit einer perfekten glatten Oberfläche, das Umgebungslicht vollständig zu verschlucken schien. „Nehmt es an Euch. Es wird Euch verraten, wenn Ihr am Ende des Pfades angelangt seid und eine wahre Priesterin der Nacht geworden seid.“ Mit der Übergabe dieses Symbols war die Zeremonie erst einmal beendet. Was folgen würde, würde ein langer Prozess des Lernens sein, des Lernens, was es bedeutete, ein Shirashai-Priesterin zu sein.


    Shiarée musste unwillkürlich an ihre eigenen Ausbildung denken, obwohl sie viele Leben zurück zu liegen schien, und fühlte sich plötzlich sehr müde. Es war keine Rolle, die sie hier spielte, aber nichtsdestotrotz kostete es sie Kraft. So wirkte sie wieder eine Spur weltlicher als sie sich erneut an Deleila wandte, deren Worte so wohlgewählt gewesen waren. „Möchtet Ihr mich nun in meine Gemächer begleiten? Dort könnt Ihr ein wenig ruhen und alles weitere vorbereiten.“ Es war eine Frage, aber es war nicht als Frage gemeint gewesen. Die Valisar durfte nun keinesfalls sofort unter Ungläubige zurück kehren, nicht, so lange ihr Glaube nicht mehr gefestigt war. So würde sie sie an ihrer Seite behalten, ein Gedanke, der Shiarée trotz Sihrer einzelgängerischer Natur nicht unangenehm war.

  • Ein sachter Schauer rann durch Deleilas Körper, als sie den angedeuteten Kuss an ihrer Stirn fühlte. Sie kam nicht umhin, festzustellen, das Frauen immer noch sehr anziehend auf sie wirkten und vor allem DIESE Frau. Doch bereits mit dem Blick auf Shiarées Gesicht ermahnte die Valisar sich innerlich. Shiarée war nun ihre Mentorin, es würde nie etwas zwischen ihnen sein, außer dem, was sie nun verband - Deleilas Schwur und dem Glauben an Shirashai.


    Scheinbar ruhig öffnete Deleila die Hand, als Shiarée ihr einen dunklen Stein hinhielt, welcher förmlich alles Licht zu schlucken schien. Ehrfurcht war es, was die Valisar empfand, als sie auf den Stein hinab sah. Dann schloss sie die Hand darum und blickte erneut zu den katzenartigen Augen ihres Gegenübers hoch. Warum soll ich bei ihr schlafen? Nicht in meine Töpferei zurück? Ich kann doch meine Arbeit nicht so lange ruhen lassen. Doch.. kann ich. Ich habe genug zurückgelegt. Das hier ist viel wichtiger.


    Gedankengänge, welche man dem Gesicht der Valisar keineswegs entnehmen konnte. Doch das ihre Finger sich etwas unruhig über dem dunklen Stein bewegten, mochte man durchaus mitbekommen können, wenn man darauf achtgab.
    "Ruhe.. ja, eine gute Idee. Ich bin schon lange auf." meinte sie etwas leiser. Sie wollte nicht irgendwie schwach wirken, denn das war sie nicht. Wäre sie schwach gewesen, so hätte sie wohl letzten Endes nicht überlebt, nachdem Narion die Valisar verflucht hatte.
    Noch einmal wandte Deleila kurz den Blick in die Richtung, in der Brennan saß und ein Lächeln zog über ihre Züge. "Geht voran, ich folge euch." Eigentlich unnötig, dies zu sagen. Doch sie tat es, schlicht um zu zeigen, das ihr die ganze Sache mehr als Ernst war. Sie war nicht aus Spass her gekommen, das alles hatte einen Sinn gehabt. Dies war Deleila nun klar.
    Und so wartete sie, bis Shiarée sich in Bewegung setzte, um ihr dann mit geschmeidigen, leisen Schritten zu folgen.

  • Stillschweigend hatte Brennan die zeremonienartige Zusammenkunft Deleilas und Shiarées beobachtet. Als Deleilas Blick auf ihn fiel, hielt er ihm stand und doch gab er ihr in keinem Moment das Gefühl des Erkennens. Ruhig sah er sie an - und erst, als er sich sicher war, dass die hübsche Valisar sich wieder Shiarée zuwandte, glitt ihm ein Lächeln über die Lippen.
    Shirashai kannte die seltsamsten Mittel und Wege.


    Brennan erhob sich. Bald schon würde er den Palast wohl wieder aufsuchen. Er wollte die Priesterin noch immer kennenlernen - und zu gerne wissen, was sie Deleila erzählt hatte.
    Der Vogelhändler erhob sich, schickte noch ein kurzes Gebet an seine Göttin und machte sich wieder in Richtung Ausgang auf.

  • Amelie atmete tief durch. Zum zweiten Mal betrat sie den Palast der Nacht doch an jenem Tag war sie in Begleitung. Nun war sie allein und zögerte. Seit dem Gespräch mit Sharinoe hatte sich ihre Einstellung zur Göttin grundlegend verändert, denn sie wusste nun, dass sie willkommen war. Und dennoch legte sich eine leichte Gänsehaut auf ihre Arme, als sie durch die Tür trat. Sie kannte bereits den Eindruck des Tempels und sah sich, wie beim ersten Besuch auch, bewundernd um.


    Andächtig schritt sie durch den Altarraum, vorbei an den marmornen Bänken, in Richtung der Statue, die sie dieses Mal nicht mehr so nervös machte wie damals. Amelie mochte im Tempel kaum auffallen, denn sie hatte sich ihrem Vorhaben entsprechend in schwarz gekleidet und trug die Haare offen, sodass die Locken die freien Schultern bedeckten.


    Nach wenigen Schritten war sie bei der Statue der Göttin angelangt, der sie nun ihren Glauben schenkte. Für einen Augenblick betrachtete sie Shirashais Schönheit, bevor sie langsam in die Knie sank und den Kopf in Richtung Boden richtete. Die schwarzen Locken fielen rechts und links an ihr herab und bedeckten Amelies Gesicht wie ein Vorhang, während sie betete. Es war nicht das erste mal, dass sie ein Gebet zu Shirashai schickte, jedoch war es das erste Mal, dass sie sich dabei der Göttin so nah fand. Mit geschlossenen Augen betete sie, bat die Göttin um die Kraft, die sie brauchen würde, denn Amelie hatte einen folgenschweren Entschluss gefasst, welcher, wenn überhaupt, ausschließlich durch Shirashais Hilfe umgesetzt werden konnte.

  • Wiederum barfuß trat Shiarée in den Garten, der inzwischen in die tiefste Dunkelheit gelegt war, von ihrer Göttin über die Welt gelegt. Ihre Gedanken verweilten noch bei der schönen Valisar, bei ihrer Geschichte und für einen Moment kreiste ihr Geist nicht nur um Wege, ihren Schützling möglichst schnell möglichst tief in die Arme Shirashais zu treiben, sondern auch um die verflossene Liebschaft Deleilas. In gewisser Hinsicht, vielleicht mehr, als sie sich eingestehen mochte, fühlte sich die Priesterin deshalb mit ihr verbunden.


    Durch einen Nebeneingang schlüpfte Shiarée in den Palast der Nacht, wo die Göttin keinerlei Raum für derlei Gedanken ließ. Ihre Katzenaugen verengten sich im dämmerigen Licht der Kerzen und für einen Moment verweilte sie im hinteren Bereich des Tempels, während ihr Blick die Szenerie streifte. Eine Kapuze verbarg ihr Haar und einen großen Teil ihres schmalen Gesichts, nur die goldenen Augen leuchteten darunter hervor. Ein zartes Wesen, dass vor der Statue Shirashais kniete weckte die Aufmerksamkeit der Dienerin der Göttin der Nacht. Ein Hauch von Unsicherheit schien die Betende zu umgeben, jene Unsicherheit die von solchen Wesen ausging, die gerade erst unter den Schutzmantel der Göttin getreten waren. Lautlosen Schrittes trat sie an Amelie heran, nicht zu nah, um das Gebet nicht zu stören. Still verharrte Shiarée stattdessen im Hintergrund und wartete darauf, dass die Nymphe sich erhob.

  • Inständig hoffte die Nymphe, dass ihre Bitte erhört wurde und verharrte noch einige Augenblicke mit geschlossenen Augen, bis es ihr endlich gelang, die restlichen Fetzen der Verzweiflung abzuschütteln und sie aufsah, der Statue entgegen. Würde die Göttin ihr helfen? Wiederrum vergingen einige Augenblicke, in denen Amelie so verharrte.


    Schließlich erhob sie sich langsam, strich sich die Haare zurück und drehte sich um zum Gehen, die Augen gesenkt. Noch einmal atmete die Nymphe tief durch und richtete den Blick nach vorne. In Gedanken versunken ging sie vorwärts und nahm die dunkle Gestalt, die in ihrer Nähe stand erst zu spät wahr und so erschrak die Nymphe, als diese plötzlich vor ihr stand.


    "Verzeihung", ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Dann trat sie an ihr vorbei, um zu gehen. Langsam und zögerlich waren ihre Schritte über den marmornen Boden in Richtung der Tür, durch die sie herein getreten war. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte sie gerade einer der Priesterinnen gegenüber gestanden? Vielleicht hätte sie einen guten Rat für sie? Die Nymphe blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Der Duft der roten Rosen, der sie in diesem Moment umgab, erinnerte Amelie an den anderen Grund, weswegen sie an diesem Tag den Weg zu Shirashais Tempel gefunden hatte. Ob ihr die Priesterin helfen konnte?

  • Einen Augenblick verharrte die Nymphe noch vor der Statue, dann erhob sie sich und eilte beinahe eilig davon. Doch Shiarée spürte, dass sie noch nicht gehen wollten. In ihren Anfangstagen schämten sich viele neue Kinder Shirashais ihres Glaubens, waren sie doch so viel schlechtes über die Göttin gelehrt worden. Man sah es an den Blicken, wie sie sich neugierig und doch furchtsam in den Tempeln umsahen, daran, wie ihr Auftreten stets etwas Gehetztes enthielt, wenn sie sich an diesen Orten bewegten.


    So folgte sie Amelie ruhigen Schrittes, um rechtzeitig da zu sein, wenn sie hier gebraucht werden würde. Und tatsächlich... sie blieb stehen und wandte sich dann um. Ein kleines Lächeln zerrte am Mundwinkel der Priesterin, was sie jedoch vor der Tempelbesucherin verborgen hielt, indem ihr Kopf gesenkt blieb. Erst als ihr Gesicht wieder so ausdruckslos war wie das der Statuen in den Häusern der Andersgläubigen, hob sie den Kopf und blickte die Nymphe an. Der Duft von Rosen schlängelte sich in ihre Nase und für einen kurzen Moment musste Shiarée an den Garten vor dem Haus der Priesterinnen denken und an die Valisar, die jetzt in ihrem Heim schlief.


    Dann nickte sie leicht mit dem Kopf und wies Amelie so an, ihr zu folgen. Sie führte sie in eine der entlegeneren Ecken des Palast und ließ sich dort auf einer marmornen Bank nieder. Einige Kerzen standen zur rechten und zur linken ihres Sitzplatzes um auch diese Nische zu erhellen. Der goldene Schein fing sich in Shiarées Augen, als sie Nymphe ansah. „Wonach verlangt es Euer Herz?“

  • Abwartend beobachtete Amelie die Priesterin, als diese sich ihr näherte und fragte sich, ob ihre Verzweiflung nach außen hin so deutlich sichtbar war. Oder warum sonst war sie ihr gefolgt? Amelie sah in ihr Gesicht, als die Priesterin sie ansah. Sie war wirklich hübsch, wie es über die Shirashaipriesterschaft schon so oft berichtet wurde.


    Als sie der Nymphe andeutete, ihr zu folgen, ging sie ihr nach, in eine abgelegene Ecke, in der sie sich bestimmt ungestört unterhalten konnten. Amelie tat es ihr nach und nahm auf der marmornen Bank Platz, vernahm die Worte der Priesterin. Wonach ihr Herz verlangte? Ihr Herz verlangte nach Stärke, Verehrung und vor allem danach, endlich nicht mehr verletzt zu werden. Was ihr Herz aber im Moment am meisten verlangte, war die Zuneigung einer bestimmten Person. Sein Name stach wie ein Dolch in ihrer Brust und sie wagte nicht, ihn auszusprechen. "Mein Herz begehrt mehr Stärke und Kraft", setzte die Nymphe an. "Zu oft wurde ich in meinem Leben verletzt und enttäuscht. Das soll sich ändern. Alle sehen in einer Nymphe nichts mehr als ein leichtes Mädchen..." Amelies Augen blitzten gefährlich auf, als sie sprach. "Jemand sagte einmal zu mir, ich solle stets der einzige leuchtende Stern am Himmel sein". So oder so ähnlich waren seine Worte gewesen, und genau das wollte Amelie auch sein. Sie wollte der einzige Stern sein, der für Brennan leuchtete, ohne eine Ta'shara auf der anderen Seite neben ihm. Sie seufzte auf, wusste sie doch nicht, welcher der beiden Namen ihrem Herzen einen größeren Stich versetzte. Sie war bereit, alles dafür zu tun, was wohl die Entschlossenheit in ihren Augen verriet.

  • Der einzig leuchtende Stern... Die Priesterin musste ein wissendes Schmunzeln unterdrücken. War dies nicht der Wunsch, den alle weiblichen Wesen (und insbesondere Nymphen) hegten? Nichtwillens zu begreifen, dass der einzig leuchtende Stern immer Shirashai selbst sein würde, denn nichts kam ihrer Schönheit und Stärke gleich. Doch Shiarée glaubte zu wissen, dass es hier um etwas sehr viel spezielleres ging. Der faulig-süße Geruch von Eifersucht lag in der Luft.
    „Manchmal...“ Shiarée machte eine bedeutungsschwangere Pause und blickte ihrem Gegenüber fest ins hübsche Gesicht... „ist es vonnöten, die anderen Sterne zum Erlöschen zu bringen, um selbst am hellsten zu strahlen.“ Dies war weniger endgültig gemeint, als es sich zuerst anhören mochte, und so fügte sie mit einem kleinen Lächeln im Mundwinkel hinzu: „Dazu ist manchmal nur ein kleiner Trick nötig. Seid Ihr bereit, Euch der Göttin und meiner selbst anzuvertrauen?“

  • Für einenMoment hielt Amelie inne. Auslöschen? In der Tat konnte das die Lösung ihres Problemes sein. Doch nein ... Es war zu absurd. Niemals könnte Amelie tun, worüber sie gerade nachgedacht hatte und wischte diese Idee schnell wieder beiseite, als die Priesterin fortfuhr und ein anderer Gedanke sie beschäftigte. War sie bereit, sich Shirashai anzuvertrauen? "Ja", erklärte sie ihrem Gegenüber entschlossen, hatte nicht lange zum Überlegen gebraucht.
    Nun schien sie endlich die Möglichkeit zu haben, ihrer angebeteten Göttin näher zu kommen. Shirashai hatte Amelies Leben verändert, seit sie zum ersten Mal den Palast der Nacht betreten hatte und die Nymphe war bereit, ihr zu vertrauen. Erwartungsvoll begegnete sie dem Blick der Priesterin. Was würde sie ihr zu sagen haben?

  • Shiarée hatte keine andere Antwort erwartet. Einen Wimpernschlag lang zögerte die Nymphe noch, dann gab sie schließlich ihre Zustimmung. Die Entschlossenheit sprach aus ihren hübschen Augen. Die Priesterin nickte zustimmend, lächelte jedoch nicht. „Unsere Göttin gewährt jedem ihre Gnade, der darum bittet.“ Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause, die sie nutze, um mit ihren goldenen Augen den Palast zu überblicken. Es war ruhig zu dieser Tageszeit. Stille lag über den wenigen Betenden und für einen Moment erinnerte sich die Priesterin daran, wie sehr dieser Ort sie fasziniert hatte, als zum ersten Mal hierher gelangt war. Wie musste er auf jemanden wirken, der nicht in den Diensten Shirashais stand?


    Shiarée riss sich aus ihren Gedanken und blickte wiederum in Amelies Gesicht, das eine gewisse Erwartung an kommende Geschehnisse spiegelte. „Tretet nun vor die Göttin und tragt ihr euer Anliegen vor.“ In einer katzenhaften Bewegung erhob sich die Priesterin und machte eine Geste, die ihrem Gegenüber bedeutete, voran zu gehen.

  • Im Stillen bewunderte Amelie die Anmut, mit der die Priesterin gesegnet war, beobachtete Shiarée, als diese sich erhob. Zögerlich tat die Nymphe es ihr gleich und achtete auf die Worte der Priesterin. Ein leichter Zweifel spiegelte sich in Amelies Augen, als Shiarée sie dazu aufforderte, der Göttin ihr Anliegen vorzutragen. Es war viel, was die Nymphe begehrte, dessen war sie sich bewusst. Würde die Göttin Amelies Wünsche ohne Weiteres erfüllen? Doch dies konnte nur heraus gefunden werden, wenn ein Versuch unternommen wurde.


    Für einen kurzen Moment spiegelte sich Skepsis in Amelies Augen wider doch dann folgte sie der Geste Shiarées und bewegte sich abermals in Richtung der Statue und blieb vor dieser stehen. Einen Moment lang bedachte sie das Antlitz der Göttin mit zögerndem Blick, dann sank sie abermals vor ihr in die Knie, schloss die Augen und bat sie im Stillen darum, ihrem Herzen mehr Kraft zu verleihen und es unempfindlicher gegen die Schmerzen zu machen, die ihm stets aufs Neue zugefügt wurden.

  • Während Amelie auf Knien zu Shirashai betete, verschwand die Priesterin für einen kurzen Moment im hinteren Bereich des Tempels, der nur der Anhängerschaft der Göttin zugänglich war. Als sie zurückkehrte, hielt sie in jeder ihrer porzellanfarbenen Hände ein kleines, kristallenes Fläschen, eines von hellblauer und eines von zartrosaner Farbe. Stumm verharrte sie hinter Amelie und wartete ab, bis diese ihr Gebet vollendet hatte. Entschlossenheit lag im Blick der Nymphe, obwohl Shiareé spürte, dass ihr der Umgang mit der Göttin noch wenig vertraut war.


    Als sie sich schließlich vom marmornen Boden des Palast erhob, wies die Priesterin Amelie erneut an, ihr zu folgen. In einem nicht einsehbaren Winkel des Tempels hielt sie der Nymphe schließlich die Fläschen entgegen, jedes zwischen zwei Fingern. Das spärliche Licht, das durch die Fenster in den Raum fiel, fing sich in den Flakons und warf kleine Lichtflecken auf Stein und Haut.
    Shiareé hielt das rosa-farbenen Gefäß ein wenig höher und blickte Amelie bedeutungsvoll an: „Diese Tinktur wird alle Gefühle, die jemand dir gegenüber hegt, verstärken. Nutze sie weise, denn dies betrifft auch alles Negative.“ Dann hob sie das andere Fläschchen: „Diese Tinktur wird dafür sorgen, dass die anderen Sterne, die dir deinen Platz am Himmel streitig machen, für eine Weile weniger hell strahlen.“


    Shiarée wartete darauf, dass ihr Gegenüber die Flakons entgegen nehmen würde. Tatsächlich war die erste Flüßigkeit nichts weiter als ein Mittel, dass den Betroffenen in einen Rausch versetzte. Und das zweite Wässerchen führte dazu, dass der Geschädigte für eine Weile sein Heim nicht mehr verlassen würde, weil ihn Bauchschmerzen plagten.

  • Das Gebet zu Shirashai beendet, erhob sich die Nymphe und wandte sich um, erwartend, was die Priesterin ihr nun zu zeigen oder zu sagen hatte. Als diese ihr bedeutete, ihr zu folgen, schritt Amelie ein weiteres Mal über den marmornen Boden, kein Geräusch ihrer leichten Schritte verhallte im Palast, denn in diesen Mauern war sie darauf bedacht, keinen unnötigen Laut erklingen zu lassen, erfüllte sie die Göttin doch mit großem Respekt.


    In einer abgelegenen Ecke kamen beide Frauen zum Stehen und Amelies erwartungsvolle Augen waren konzentriert auf die Priesterin gerichtet, was diese ihr nun zeigen wollte. Nicht lange dauerte es, als zwei verschieden farbige Fläschcehn zum Vorschein kamen. Eines gefüllt mit einer zartrosafarbenen Flüssigkeit, das andere hellblau. Was sollte das sein? Diese Tinkturen sollten Ihre Probleme lösen können? Skeptisch blickte sie Shiarée entgegen.


    Als die Priesterin jedoch sprach und den Inhalt der Fläschchen erklärte, huschte für einen kurzen Augenblick ein gewinnendes Lächeln über das zarte Gesicht der Nymphe, als sie sich das Ergebnis vorstellte.


    "Ich danke Euch vielmals! Doch bitte sagt, wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?" Eine fast kindliche Vorfreude durchflutete das Herz Amelies, während sie eine Antwort abwartete.

  • Mit schweren langen Schritten trat Brennan Targo auf den Tempel Shirashais zu.
    Als seine Zehenspitzen in die Dunkelheit der Schatten abtauchten, hielte kurz inne, griff sich unter sein Hemd und holte das Medaillon seiner Göttin hervor. Er trat weiter in die Dunkelheit des Palastes, während seine Lippen einen ehrfürchtigen Kuss auf das wertvolle Kleinod hauchten.


    Es dauerte nicht lange, bis sich die dunklen Augen an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnt hatten und nach wenigen Sekunden hatte Brennan schon einen Priester der Schattengöttin ausgemacht.


    Er grüßte den in dunkle Kleidung gehüllten Mann, nannte ihm den Namen seines Mentors in Shay'vinayar und erklärte, dass er gerne die Hohepriesterin Sharinoe sprechen würde. Gleichzeitig drückte er dem Mann eine Schriftrolle in die Hand, die das schwarze Siegel des Nachtpalastes aus seiner Heimatstadt trug.

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