Silene begegnete dem leeren Blick des Mädchens ruhig, sodass er den vom Schiffsgeist angedachten Zweck der Einschüchterung wohl verfehlte. Einen Hauch schmaler wurden die eisigen Augen der Seherin, dann nahm sie sich einen Moment um sich mit zwei langen, weißen Fingern die Nasenwurzel zu massieren und die Augen zu schließen.
Die Schmerzen in ihrem Kopf waren verschwunden, doch die übliche Klarheit hatte sie noch nicht zurückgewonnen. Konfrontiert mit zwei derart gereizten Parteien war ein klarer Geist genau das, was sie am dringendsten benötigte. Der Syrenia hatte unkluge Worte gewählt und sie hatte nicht den Eindruck, dass der Kapitän jetzt noch dazu gewillt war, zu verhandeln. Doch was blieb ihnen anderes übrig?
„Nun.“, begann die Valisar, deutete mit einem Kopfnicken zu Ascan und sah dann das Kind wieder direkt an. „Er wird Ereike nicht bekommen. Niemand wird sie bekommen.“
Die Valisar besann sich kurz auf das, was ihr ihre Ausbildung gelehrt hatte, auf ihre Erziehung und die Werte auf deren Basis sie ihr ganzes Leben aufgebaut hatte, doch dann begann sie tief in die Trickkiste des sehenden Volkes zu greifen. Niemand erhielt von den Göttern Fähigkeiten verliehen um sie dann ungenutzt zu lassen.
„Ich glaube Euch, dass ihr Ereike behüten wollt… doch was könnt ihr dem Mädchen bieten?“, fragte sie mit einer Stimme, die an messerscharfe Winde erinnerte, die einem im Winter die Haut zu Eis erstarren ließen. Gleichzeitig war sie von bedrohlicher Dunkelheit getränkt, forderte absolute Aufmerksamkeit und auch in die kristallenen Augen war ein beunruhigender Farbton getreten. Ihre Gestalt, hochgewachsen und ehrwürdig schien noch mehr aus Eis und Schnee geformt als zuvor. Es war nur ein Schauspiel, doch es war ein gelungenes. „Ihr wollt ihr die Freiheit nehmen und bietet ihr im Gegenzug … was? Ein besseres Leben? Ihr überzeugt mich nicht. An Leben scheint es Euch selbst zu mangeln, wenn Ihr mir diese Einschätzung erlaubt.“
Dem Befehl des Geistes keine Folge zu leisten war einfach gewesen für die Valisar, denn die einschüchternden Worte perlten spurlos an ihr ab. Nun würde sich umgekehrt zeigen, ob ihr falsches Spiel bei ihm Wirkung zeigen würde... vielleicht würde es ihnen auch nur wertvolle Zeit verschaffen ...
„Sie kehrt nach hause zurück.“, forderte sie, mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Fast schien sich Zorn darin zu verbergen, doch es war nur ein Schimmer desselben in einer Stimme voller unangefochtener Autorität. Die Luft schien voller Spannung und knisternd zu Eis zu erstarren. Sie streckte eine Hand aus, als fordere sie das gelähmte Kind dazu auf, diese zu ergreifen. „Sie kommt mit mir. Jetzt.“
Eine Sekunde verstrich, ohne das etwas geschah. Silene spürte, wie der feste Griff des Geistes etwas nachließ und einen Bruchteil eines Momentes sah sie in schreckensgeweitete Kinderaugen in einem kleinen, bleichen Gesicht.
Dann schien die Hölle um sie herum loszubrechen. Ein aufbrausender Wind riss die Seherin fast von den Beinen und zerstörte ihr perfektes Erscheinungsbild. Die sorgfältig aufgerollten, gestapelten Taue flogen umher, wurden zu einem gefährlichen Wirrwarr aus Stricken im sich erhebenden Staub.