Beiträge von Silene Sana'Santaly

    Silene begegnete dem leeren Blick des Mädchens ruhig, sodass er den vom Schiffsgeist angedachten Zweck der Einschüchterung wohl verfehlte. Einen Hauch schmaler wurden die eisigen Augen der Seherin, dann nahm sie sich einen Moment um sich mit zwei langen, weißen Fingern die Nasenwurzel zu massieren und die Augen zu schließen.
    Die Schmerzen in ihrem Kopf waren verschwunden, doch die übliche Klarheit hatte sie noch nicht zurückgewonnen. Konfrontiert mit zwei derart gereizten Parteien war ein klarer Geist genau das, was sie am dringendsten benötigte. Der Syrenia hatte unkluge Worte gewählt und sie hatte nicht den Eindruck, dass der Kapitän jetzt noch dazu gewillt war, zu verhandeln. Doch was blieb ihnen anderes übrig?


    „Nun.“, begann die Valisar, deutete mit einem Kopfnicken zu Ascan und sah dann das Kind wieder direkt an. „Er wird Ereike nicht bekommen. Niemand wird sie bekommen.“


    Die Valisar besann sich kurz auf das, was ihr ihre Ausbildung gelehrt hatte, auf ihre Erziehung und die Werte auf deren Basis sie ihr ganzes Leben aufgebaut hatte, doch dann begann sie tief in die Trickkiste des sehenden Volkes zu greifen. Niemand erhielt von den Göttern Fähigkeiten verliehen um sie dann ungenutzt zu lassen.


    „Ich glaube Euch, dass ihr Ereike behüten wollt… doch was könnt ihr dem Mädchen bieten?“, fragte sie mit einer Stimme, die an messerscharfe Winde erinnerte, die einem im Winter die Haut zu Eis erstarren ließen. Gleichzeitig war sie von bedrohlicher Dunkelheit getränkt, forderte absolute Aufmerksamkeit und auch in die kristallenen Augen war ein beunruhigender Farbton getreten. Ihre Gestalt, hochgewachsen und ehrwürdig schien noch mehr aus Eis und Schnee geformt als zuvor. Es war nur ein Schauspiel, doch es war ein gelungenes. „Ihr wollt ihr die Freiheit nehmen und bietet ihr im Gegenzug … was? Ein besseres Leben? Ihr überzeugt mich nicht. An Leben scheint es Euch selbst zu mangeln, wenn Ihr mir diese Einschätzung erlaubt.“


    Dem Befehl des Geistes keine Folge zu leisten war einfach gewesen für die Valisar, denn die einschüchternden Worte perlten spurlos an ihr ab. Nun würde sich umgekehrt zeigen, ob ihr falsches Spiel bei ihm Wirkung zeigen würde... vielleicht würde es ihnen auch nur wertvolle Zeit verschaffen ...


    „Sie kehrt nach hause zurück.“, forderte sie, mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Fast schien sich Zorn darin zu verbergen, doch es war nur ein Schimmer desselben in einer Stimme voller unangefochtener Autorität. Die Luft schien voller Spannung und knisternd zu Eis zu erstarren. Sie streckte eine Hand aus, als fordere sie das gelähmte Kind dazu auf, diese zu ergreifen. „Sie kommt mit mir. Jetzt.“


    Eine Sekunde verstrich, ohne das etwas geschah. Silene spürte, wie der feste Griff des Geistes etwas nachließ und einen Bruchteil eines Momentes sah sie in schreckensgeweitete Kinderaugen in einem kleinen, bleichen Gesicht.
    Dann schien die Hölle um sie herum loszubrechen. Ein aufbrausender Wind riss die Seherin fast von den Beinen und zerstörte ihr perfektes Erscheinungsbild. Die sorgfältig aufgerollten, gestapelten Taue flogen umher, wurden zu einem gefährlichen Wirrwarr aus Stricken im sich erhebenden Staub.

    Unberührt beobachtete Silene die Illusionen, welche der Geist des Schiffes um sie herum erschuf. Der Sturmwind der Erinnerung umwehte sie, zerrte kalt an ihnen und brachte den salzigen Geruch der Seeluft mit sich. Der Kapitän ließ die Valisar und den Syrenia an einer mächtigen Erinnerung teilhaben, die sich tief in dessen Gedächtnis eingegraben hatte, es durchweg beherrschte und sein gesamtes Wesen bestimmte. Sie wollte neben ihn an die Reling treten, einen Blick über die Brüstung in die tobenden schwarzen Massen werfen – doch der Geist gewährte ihr keinen weiteren Blick und Silene wusste nicht, ob es vor Schmerz und Bedauern war, oder aus Reue und Schuld.


    Vier, fünf seiner Männer bedarf es, um ihn vom splitternden Geländer fort zu zerren. Ein schrecklicher Laut, wie man ihn kaum aus dem Mund eines Menschen erwarten würde zeriss die Szene wie die Blitze in den dunklen Wolkenbergen um ihn herum. Man sah der schemenhaften Gestalt förmlich an, dass er sich viel lieber in die Fluten gestürzt hätte, als sich in die trügerische Sicherheit des Schiffsbauches zu retten.
    Hell und stolz tanzte die Gischtfalke auf den Wogen, doch bis auf einen letzten waren alle ihre Masten waren zerborsten und die Segel vom Sturm fortgerissen. Mit letzter Kraft gelang es den Matrosen, den tobenden Mann vom Deck zu schleppen.


    „Delinea.“, flüsterte die gebrochene Stimme des Kapitäns, halb zornig, halb verzweifelt. „Mein kleines, liebes Mädchen. Wenn ich es vermocht hätte, hätte ich ihr die Sterne über der Kuppel gestohlen, nach denen schon die Alten navigierten. Doch ich vermochte es nicht einmal, sie sicher nach Hause zu bringen.“


    „Geschäfte hatten mich Richtung Nir'alenar geführt. Delinea hatte so lange gebettelt, ich möge sie mitnehmen, bis sie schließlich mein Herz erweicht hatte und ich es ihr versprach. Ihre Mutter war selbstverständlich voller Sorge, sträubte sich, sie mit mir zur See fahren zu lassen … doch Delinea hatte ihre Mittel und Wege unseren Willen zu beugen. Man konnte ihr nur schwer einen Wunsch verwehren. Sie wollte die Nixen sehen, die in den Gewässern vor der Stadt lebten. Sie sprach von den wundersamen Bauwerken der alten Stadt, von all den Dingen, von denen sie gelesen hatte. Es versprach eine kurzweilige, rasche Seereise von Rosandrié aus zu werden ...“


    Der Geist war verstummt und es blieb nur das Knarren, das Rauschen und das Dröhnen, wenn eine Welle den Bug traf und sich über das Deck ergoss. In Silenes Augen spiegelte sich das unwirkliche Schauspiel, doch es schien keine Regung in ihr hervorzurufen. Dennoch erinnerte sie Erzählung des Kapitäns an etwas, das auch sie nicht losließ, etwas, das sie selbst wie ein Fluch verfolgte und das sie bis an ihren letzten Tag nicht loslassen würde. Die Seherin schloss für einen kurzen Moment die Augen und suchte nach den richtigen Worten.


    „Ich verstehe Euch.“, sprach Silene leise und dennoch fest entschlossen. Natürlich konnte sie nicht nachfühlen, wie es sein musste, einen solchen Verlust zu erleiden, eine solche Schuld zu tragen, doch sie verstand es. „Es gibt Dinge, die niemals verziehen werden können.“


    „Ihr Name ist Ereike.“ Die Valisar sah das Mädchen an und musterte deren erstarrte Gesichtszüge genau, dann sah sie aus dem Augenwinkel zu Ascan hinüber. „Sie wird vermisst und sie wird geliebt. Wenn ihr etwas zustoßen würde, gäbe es viele, die den gleichen Schmerz fühlen würden wie Ihr es tut. Die ihre Pflicht verletzt sehen würden, für dieses unschuldige Leben zu sorgen. Dadurch wird Eure Schuld nicht geringer und Euer Fluch nicht von Euch genommen, Kapitän der Gischtfalke.“

    Die grauenhafte Stimme war verklungen, doch die weiße Seherin wirkte nicht, als wolle sie der Stimme etwas entgegensetzen. Stattdessen war ihr eisiger, versteinerter Blick unverwandt auf das Mädchen gerichtet und sie rührte sich keinen Deut.


    Niemals zuvor hatte sie etwas derartiges mit eigenen Augen gesehen und auch wenn sie mit Bestimmtheit wusste, was hier vor sich ging, brauchte sie einen langen Moment um das weitere Vorgehen zu überdenken. Die Seherin konnte die Bedrohlichkeit und die dunkle Macht des Geistes nicht fürchten, doch auch sie war nicht vollständig unempflindlich gegenüber der unwirklichen Stimmung. Sich der Tatsache bewusst, dass dieses Geisterwesen über Fähigkeiten verfügen musste, die jenseits ihrer Befürchtungen lagen, ließ sie ihren Geist zur Ruhe kommen um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
    Nach einigen ruhigen Atemzügen, in denen auch der Geflügelte zu ihrer Erleichterung nichts unternahm, stand sie endlich auf, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sodass sie auf das Kind hinabsehen konnte. Mit langsamen, genau bemessenen Schritten näherte sie sich, bis sie auf einer Höhe mit Ascan war.


    Mit einem festen Blick, der aus den Tiefen ihres erkalteten Herzens zu stammen schien, begegnete sie kurz dem schreckensweiten Blick des Syrenia, während in den farblosen Iriden ihrer eigenen Augen rein gar nichts zu lesen war. Auch die schwere Waffe in seinen Händen hatte sie nicht übersehen und so bewegte sie den Kopf sachte, ein Kopfschütteln andeutend.
    Dann fokussierte sie sich wieder völlig auf die Kindergestalt. Da es völlig unsinnig war in den leblosen Augen des Kindes nach einer Reaktion zu suchen, starrte die Seherin auf den Punkt zwischen ihren Augen. Der Herr des Schiffes brauchte die Augen des Kindes nicht um die Valisar und den Syrenia wahrzunehmen, doch sie wollte sehen, wie fest sein Griff um die Seele des Kindes lag.


    "Warum.", wisperte Silene mit ungewohnt spröder Stimme und sprach damit einen Gedanken aus, den sie sich bereits selbst beantwortet hatte. "Warum bleibt das Kind?"


    Für einen langen Moment geschah nichts. Keine Antwort erklang und auch der kalte Wind nahm weder ab noch zu. Kalt fügte die Valisar hinzu: "Warum nicht ich?"

    Der Abstieg gestaltete sich leichter als erwartet – zu leicht. Die hölzernen Streben der Leiter seufzten unter Silenes Füßen und der Staub, der vom Boden aufwirbelte, als sie aufsetzte, trieb Tränen in die Augen der Seherin. Doch nichts von dem, was Silene für möglich gehalten hatte, trat ein.

    Die Dielen hielten stand, bogen sich nur leicht durch, als sie sich langsam durch den dicht mit Spinnweben tapezierten Raum bewegte. Der Raum lag in vollkommener Dunkelheit – lediglich das klaffende Loch im oberen Deck ließ einen Hauch von Licht nach unten dringen und half der Valisar dabei, sich zu orientieren.


    Mit beiden Händen die alten Weben durchtrennend, die sich überall klebrig und staubig an ihre schwarze Kleidung hefteten und sich in ihrem Silberhaar verfangen wollten, lauschte sie nach der Stimme des Syrenia, die unweit erklang.
    Er musste sie gefunden haben. Doch etwas stimmte nicht, und die bleierne Stille, die sich mit einem Mal über das Schiff senkte, trug bedeutend zu diesem Eindruck bei. Der Kopf der Seherin füllte sich erneut mit stechenden Kopfschmerzen, doch unfähig, Furcht oder Panik zu verspüren, setzte Silene ihren Weg ungerührt fort, verharrte keinen Augenblick.


    „Geist dieses Schiffes. Höre meine Worte.“, sprach die Seherin leise, als sie nur noch wenige Schritte von dem Loch trennten, durch das Ascan gestürzt war. Sie setzte ihren Fuß vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorne. „Wir kommen als ungebetene Eindringlinge … doch wir verlangen nicht viel. “


    Laut ächzte das Holz auf und die Seherin erstarrte. Die Finsternis, die aus dem Loch im Boden zu quellen schien, war von einem eigenartigen Leben erfüllt, streckte sich lang und kriechend nach ihr aus. Es war zu dunkel um Details auszumachen, doch Silene war sich sicher, dass diese Schatten bereits auf sie zu bewegten, ihr immer näher kamen.
    „Wir möchten nur das Mädchen wieder nach Hause bringen, das ist alles.“, erklärte Silene, diesmal lauter, sodass auch der Syrenia ihre Worte vernehmen konnte. „Gib sie frei.“
    Im selben Moment zerbarst mit einem hellen Splittern der Boden unter ihren Füßen.


    Inmitten eines Haufen aus trockenen Holzsplittern, wehenden Spinnweben und umhüllt von einer Staubwolke, landete die Seherin unsanft auf ihrer Seite, hustend. Das Gesicht der Valisar war unbewegt wie eh und je, doch das staubige, in Unordnung geratene Haar nahm Silene die kühle Perfektion und ließ sie geradezu lebendig wirken.
    Lediglich auf die Hände gestützt, fanden ihre hellen Augen sogleich die zusammengekauerte Gestalt Ereikes. Dieser Geist raubte ihr die Fähigkeit klar zu sehen … unter normalen Bedingungen wäre ihr ein derartiges Missgeschick vermutlich nicht geschehen und auch jetzt, wo sie dem Mädchen gegenüber saß, konnte sie sich nicht auf ihren sehenden Sinn verlassen. Doch eines war der Valisar auch ohne Zuhilfenahme ihrer Hellsicht bewusst: der Geist hatte Ereike in seiner Gewalt.
    Zerzaust und voller Staub wogte das feuerrote Haar des Kindes im nicht nachlassen wollenden kalten Luftstrom, der hier unten herrschte. Silene hatte keine Augen für den Syrenia, den sie im selben Raum wusste, denn starr lag ihr Blick auf den Lippen des wie versteinert wirkenden Mädchens, die mit einem Mal begannen, sich zu bewegen.


    „Sie … bleibt bei mir ...“, sprach es aus dem kleinen Mund, doch die Stimme mit der sie sprach gehörte nicht ihr. Es war eine Stimme wie ein schwerer Fels, der über Kieselsteine bewegt wurden. Ein Klang wie die dröhnende Brandung an nadelspitzen Klippen.

    Still schenkte Silene den Worten des Syrenia Gehör, keineswegs überrascht von der Düsternis die aus ihnen sprach. Nur für einen kurzen Augenblick hatte sie von dem Schmerz gekostet, den diese junge Seele mit sich trug, doch es hatte genügt. Dieser Ausdruck, der in Ascans grauen Augen aufleuchtete, wirkte wie eine Erinnerung an die wenige Stunden zurückliegenden Momente in ihrem Zelt – als sich die selben, zu zwei Punkten zusammengezogenen Pupillen auf die Seherin gerichtet hatten. Die Gefahr, welche dieser Blick barg war unübersehbar und auch wenn Silene nicht wissen konnte, was hinter diesen Augen geschah und welche Gedanken sich in seinem Kopf formten, so ahnte sie doch, dass diese kaum friedlicher Natur waren.


    Sie reagierte zu langsam, obwohl der ausgesprochene Bann augenblicklich von ihr abfiel als Ascan kaum zwei Armlängen vor ihren Augen in den Boden einbrach, verfehlte ihre reflexartig ausgestreckte Hand die des Syrenia um Weiten.
    Zur Vorsicht gemahnt tastete sie sich langsam an das klaffende Loch im Holz vor, gerade nahe genug um einen flüchtigen Blick hinab zu werfen, doch alles was sie dort unten erkennen konnte, war ein trüber Schimmer zwei Decks unter ihr, wo das helle Haar des Syrenia aufleuchtete. Den Geräuschen und dem herzhaften Flüchen nach zu urteilen, war sein Sturz mehr als schmerzhaft ausgefallen, doch nun hustete er und war ganz offensichtlich bei Bewusstsein. Ohne Zweifel hatte er sich verletzt und so fragte sie nicht danach, blickte lediglich hinab und versuchte zu sehen, worauf Ascan so unsanft gelandet war.
    Eine störende Spannung hatte sich zwischen Silenes Schläfen eingenistet und im selben Moment, in dem sie nach der anderen Präsenz dort unten tastete, füllte ein dumpfes Rauschen ihre Ohren. Kein Zufall. Der Geist dieses Schiffes hatte seine Ungeduld geäußert und den Prozess beschleunigt, in dem er Ascan hatte stürzen lassen, dessen war sich Silene absolut sicher. Jetzt hatte er Ascan zweifelsohne genau dort, wo er ihn wollte.

    "Seid vorsichtig, was auch immer Ihr vorhabt zu tun.", warnte sie den Geflügelten, auch wenn er diesen Ratschlag mit Sicherheit nicht benötigt hätte und wich vor dem Abgrund zurück. Das wäre nicht nötig gewesen., sprach die Valisar in Gedanken, als sie sich vorsichtigen Schrittes aber zügig auf den Abstieg zubewegte, wobei sie sich stets mit einer Hand an der Vertäfelung der Wände absicherte.

    Willkommen auf meinem Schiff., dröhnte es wie als Antwort darauf durch ihre Gedanken und der Luftzug, der ihr nun aus den Tiefen des Schiffes entgegenschlug, hatte eine geradezu stürmische Qualität. Die Gewissheit, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte, brannte sich noch tiefer in ihr Bewusstsein ein und sie konnte nicht entscheiden, von wem die größere Gefahr ausging – von dem misstrauischen Syrenia mit seiner goldenen Schusswaffe oder von diesem Geist, in dessen Fänge sie sich verstrickt hatten, ohne dass es einen Ausweg gegeben hätte.

    Ascans Stimme traf Silene wie ein Windstoß in ihrem Rücken, von einer unwirklichen Tiefe erfüllt, gerade so, als befänden sie sich in einer Kathedrale und nicht in einem beengten Gang mit hölzerner Akustik.

    Nur wenige Schritte trennten sie noch von dem Abstieg in die staubige Finsternis des Schiffes, doch aus den Metern wurden Meilen und mit einem Mal schien ihr nichts abwegiger, als auch nur einen Schritt weiterzugehen. Mit einem Impuls gleich einem Nadelstich direkt zwischen ihre Schulterblätter spürte sie, wie sich die Waffe auf ihr Rückgrat richtete.
    Silene wusste was er tat, wusste, welcher Macht er sich bediente um sie inne halten zu lassen, doch sie konnte dem nichts entgegensetzen, folgte scheinbar willenlos auch seiner Aufforderung, sich herumzudrehen. Dem Syrenia zugewandt, sah sie ihn geradeaus an, mit silberblauen Augen die so fern, kalt und hell schienen wie ein Stern am Firmament jenseits der Kuppel.
    Aus dem Dunkel ins Licht hineinsehend, erschien ihr Ascans Gestalt scharf umrissen und finster. Geradezu drohend überragten ihn seine schattendunklen, zusammmengefalteten Schwingen. Kein einziger Blick streifte die Schusswaffe, deren Lauf direkt auf sie gerichtet war und kein Funken Furcht konnte sich in Silenes kaltem Herz einnisten.

    Ihrer Natur folgend, las die Seherin in seinen Augen, erkannte die kalte Entscheidung in ihnen, den Abzug zu drücken und ihrem Leben hier und jetzt ein Ende zu setzen, sollte sich all dies als falsches Spiel herausstellen. Sie bewegte sich auf dünnem Eis, dessen war sie sich sicher.
    In Silenes Geist stellte sich ein sanftes Verständnis ein, denn sie konnte nachvollziehen, wie er auf den Gedanken kam, sie könnte ihn in einen Hinterhalt führen. Es ergab durchaus Sinn, doch selbstverständlich war es nicht so. Er kannte ihre einzige und wahre Absicht bereits, denn Silene hatte sie ihm bereits offenbart, aber er glaubte ihr nicht, weil er ihr nicht vertraute und er hatte auch keinen Anlass dazu. Welchen Grund gab es schon, einer Valisar zu vertrauen, die ohne Scham und Reue lügen könnte?

    „Ihr wisst warum wir hier sind. Um Ereike zu finden und in Sicherheit zu bringen.“, antwortete die Valisar und langsam drehten sich ihre leeren Hände offen und ohne einen festen Griff nach vorne, sodass ihre weißen Handflächen neben ihrem dunkel gekleideten Körper aufleuchteten. „Ihr wisst nur nicht, warum Ihr meinen Worten Glauben schenken solltet, Ascan Ypios.“
    Und was könnte ich tun, um das zu ändern? Völlig ohne eine Regung in ihrem porzellanartigen Gesicht, wartete sie auf eine Reaktion im edel geschnittenen Gesicht des Syrenia, das so finster und drohend wirkte wie ein aufziehender Sturm.

    Der Syrenia folgte Silene nur zögerlich, doch er folgte ihr und trat neben sie, wo seine Schritte neben den ihren dunkle Spuren im Staub hinterließen.

    Wir ... werden tun, was notwendig ist, Ascan. Wir gehen nicht, bevor ich Ereike in Sicherheit weiß.“, antwortete sie mit glatter Stimme und ohne ihn anzusehen. Etwas in ihrer Stimme machte klar, dass sie keine Gegenworte und keine Antwort erwartete und womöglich hätte sie diese ohnehin nicht beachtet. „Ich werde versuchen mit ihm zu sprechen. Seid niemals unhöflich zu einem Wesen, welches Ihr nicht sehen könnt.“

    Vor den Augen der Seherin, die sich langsam an das Halbdunkel gewöhnten, entsprangen drei Gänge, wovon einer tiefer in das gestrandete Schiff führte und ein weiterer jeweils in den vorderen und hinteren Teil des ersten Unterdecks verlief. Auch wenn die Luft im inneren des Schiffes an Temperatur angenommen hatte, so blieb es doch stickig und es roch nach Seetang, nach Fisch und Salz.
    Ruhig und kühl strich Silenes Blick die Gänge entlang, wartete auf ein Zeichen, bis sie schließlich die Augen schloss und nach den Bildern suchte, die sonst so zuverlässig in ihrem Kopf erschienen, wenn sie es nur zuließ. Führe mich zu Ereike., wollte die Valisar in Gedanken sprechen, doch sie wusste, dass ihr dieser Wunsch wahrscheinlich nicht erfüllt werden würde.
    Stattdessen begann sich ein Schmerz hinter Silenes Stirn fein zu verästeln, sachte knisternd wie eine feine Eisschicht auf dem Wasser. So gut es ging verdrängte sie das schneidende Gefühl zwischen ihren Schläfen und konzentrierte sich. Das Mädchen. Es gehört zu uns. In unsere Welt. Mit jedem Atemzug schien sich der Kopfschmerz zu intensivieren, bis Silene all ihre Beherrschung aufbringen musste um nicht qualvoll aufzustöhnen und trotz allem aufrecht stehen zu bleiben. Sag, nach was es dir verlangt!

    „Bitte.“, presste sie mit einem spröden Laut zwischen ihren weißen Lippen hervor, mehr eine Lippenbewegung als ein gesprochenes Wort. Und dann, erst kaum spürbar, doch immer deutlicher konnten sie den sachten Luftzug vernehmen, der aus den Tiefen des Schiffsbauches drang und der eine ungewöhnliche Kühle mit sich herauf trug.
    Mit einem Schlag war der Schmerz verschwunden. Silene schlug die Augen auf und eine ihrer Hände bedeutete Ascan still zu sein und zu lauschen. Tatsächlich schien der Wind durch das Schiff zu wispern, leise zu seufzen, doch Silene musste wohl die einzige sein, welche die Worte darin vernehmen konnte.

    „Wir sollen hinabsteigen. Er will verhandeln.“, sagte sie und sah ungerührt zu Ascan hinüber. Dann, ohne auf den Geflügelten zu warten, begann sie den Flur hinabzugehen, an dessen Ende eine hölzerne Leiter ein weiteres Deck nach unten führte.

    Silene nickte stumm auf seine Erklärung, obwohl sie nicht nach einer solchen verlangt hatte. Sie verstand und sie konnte die Kühle in seiner Stimme akzeptieren. Kühle war gut, mit Kühle konnte sie umgehen.

    Und so nahm er sie mit hinauf auf das ausgeblichene, spröde wirkende Deck des Schiffes und kaum, dass sie es erreicht hatten, löste sich der feste Griff um ihre Körpermitte wieder. Während Ascan einen Schritt zurück machte, blieb Silene stehen und betrachtete den Syrenia. Erneut wurde sie der Anstrengung gewahr, die Ascan sich zumutete um sie hier her zu bringen. Nun war es wieder an ihr, ihre Versprechung einzulösen und hilfreich zu sein.
    Während Syrenia ausgelaugt wirkte, sich den Schweiß von der Stirn wischte und sich einen Moment abstützen musste, blieb die Valisar so ungerührt wie eine Statue. Die Hitze war ein unangenehmer Faktor, doch die Seherin ertrug sie mit Fassung, beschattete lediglich ihre Augen mit einer Hand und beobachtete die vorsichtigen Bewegungen des Geflügelten auf dem morschen Holz.
    Sie folgte ihm, setzte ihre leichten Schritte auf jede Stellen, die sich als stabil erwiesen hatten, bis sie schließlich neben Ascan zum Stehen kam und mit ihm hinab sah. Dort, wo das steile, grelle Tageslicht den Boden jenseits des Decks erleuchtete, war er staubig und schmutzig und wirkte unberührt, doch alles was dahinter liegen mochte, lag im Dunkeln.

    Die nervösen Bewegungen seiner Finger entgingen Silene nicht und da sie ihm nicht die Antwort auf seine Frage geben konnte, die er gerne gehört hätte, ließ sie sich etwas Zeit damit.
    "Nein.", antwortete sie wahrheitsgemäß und wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte man fast von einem bedauernden Ton sprechen können, den sie anschlug. Unvermittelt legte die Seherin eine ihrer kühlen Hände auf die Schulter des Syrenia und sah ihn mit einem Blick an, in dem ein bedeutungsvoller Glanz lag. "Ich habe die Präsenz dieses Geistes gespürt. Es gibt eine Möglichkeit zur Kommunikation und ich kann sie nutzen. Vertraut mir."
    Sie trat an Ascan vorbei, wobei ihre Hand leicht wie ein Blatt von seiner Schulter abfiel und nahm sich den Vortritt, begann vorsichtig und leichtfüßig durch die Luke hinab auf das staubige Unterdeck zu steigen. Aus dem Licht in die Dunkelheit tretend verschwand sie aus Ascans Sichtfeld und blickte sich aufmerksam um.

    Er nickte, berührte die Waffe an seiner Seite, doch er hatte nicht verstanden. Sie hörte den Gedankengängen des Syrenia nur mit einem Ohr zu, während ihr Blick die teils zerbrochene und morsche Takelage in der Höhe betrachtete, mit den lose vom Deck herabhängenden Tauen, die leicht vom Wind bewegt wurden. Das Mädchen war klein und leicht, vielleicht hatte sie den Bug einfach kletternd überwunden und dann durch den geborstenen Bug eingestiegen? Ein Wunder, wenn sie sich dabei nicht verletzt hatte.

    Hart und furchtlos klang Ascans Stimme, als er sie vor den Gefahren warnte, die ihnen hier begegnen würden, doch die Seherin schüttelte nur sachte den Kopf und ihr Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück. Die dunklen Schwingen in seinem Rücken entfalteten sich und warfen einen breiten Schatten, wo er stand. Warum wollte er sie in Schutz nehmen? Hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt?

    "Die Gefahren sind mir bewusst.", sagte sie trocken, drehte die Feder zwischen ihren langen Fingern und strich mit der anderen Hand über den langen Federkiel. Ereike hatte diese Feder verloren und deren Fehlen nicht bemerkt. Sie war nicht gekommen, um sie sich zurückzuholen. Die Feder war nicht schwer zu finden gewesen.
    Eine dunkle Vorahnung beschlich die Seherin und sie versuchte, mit ihrem sehenden Blick Ereike aufzuspüren, doch sie versagte kläglich. Stattdessen spürte sie diese eigenartige Präsenz in dem hellen Schiff, dessen Äußeres zwar sichtbar verwittert war, doch deren Galionsfigur noch immer die edlen Flügel eines Falken trug. Dieses Wesen hatte Silene gewarnt, wollte offenbar nicht, dass sich jemand näherte.
    Silene sah an Ascan vorbei, maß das Schiff erneut mit genauen Blicken aus eisblauen Augen, in denen das Tageslicht noch immer schmerzte. Das Schiff vom Deck aus zu betreten, klang sinnvoll und es stand völlig außer Frage, dass sie hier unten warten würde. Wie konnte sie von Nutzen sein, wenn sie lediglich hier herum stand und abwartete, was geschehen würde?

    "Doch was auch immer in diesem Schiff ist, es ist nichts, wobei Euch diese Schusswaffe von Nutzen sein wird.", sprach sie deutlich, wies dabei mit einem schwachen Nicken auf den Revolver, den Ascan bei sich trug und wieder war ihr Blick zu Ascan zurückgekehrt. "Ich kann Euch nicht sagen, was es ist … doch es bewegt sich auf der Ebene, auf der sich Geistwesen bewegen."
    Sie war bei weitem keine Expertin was verirrte Seelen und Geister anbelangte, doch sie wusste zu unterscheiden, ob ein Wesen von dieser Welt war oder aus einer anderen stammte und sie wusste, dass sie einen Zugang zu deren Daseinsebene finden konnte. Und in diesem Fall war sie sich so gut wie sicher, dass dieses Wesen zu letzterer Kategorie gehörte.
    Nehmt mich mit hinauf, sagte ihr Blick und sie wusste, dass sie die Worte nicht aussprechen musste, damit er verstand.

    Die Seherin legte ihre Regungslosigkeit langsam ab und mit schlafwandlerischer Sicherheit begann sie damit, sich zwischen den Schiffen hindurch zu bewegen. Vor Silenes Augen verblasste das Hafenbecken, verklangen die wenigen Geräusche, die es zu hören gab, das Knarren des ein oder anderen Masten im leichten Wind, die Stadtgeräusche, das Knirschen im Staub und Schmutz unter ihren Schuhen. Sie sah genug, um nicht mit einem der Schiffswracks zusammenzuprallen, doch in Wirklichkeit war es ihre andere Sicht, die sie leitete.


    Gedämpft klangen die Worte, die Ascan an sie wandte, doch den Namen des Schiffes hörte sie klar heraus. Gischfalke., bestätigte er ihre Vermutung. Ein Schiff. Das war es. Es brauchte nicht erst die Geste des Geflügelten um ihr den Weg zu weisen, doch sie folgte ihm und gemeinsam näherten sie sich dem Wrack.
    In Silenes Ohren stellte sich ein Rauschen ein, welches stetig anschwoll als wollte es auch noch das letzte Umgebungsgeräusch ersticken, je näher sie dem Schiffsbauch kamen. Vergebens wehrte sie sich noch für einen Moment gegen die heranrollenden Eindrücke, doch nichts konnte aufhalten was geschah. Eine unsichtbare Hand griff nach ihrem Geist, tauchte ihr Bewusstsein für eine Sekunde ins Dunkel. Jemand … etwas war hier. Etwas, das sich auf einer anderen Ebene bewegte als sie selbst.
    Knisternd durchzuckte ein Schmerz ihren Kopf, den sie in dieser Form noch nie verspürt hatte und reflexartig schnellte eine ihrer weißen Hände empor um ihre Augen zu bedecken und die Luft scharf zwischen den Zähnen einzusaugen. Mit einem Mal war das Tageslicht wieder zu hell geworden, gleißend, stechend in den trübblauen Augen der Seherin, die mit jedem verstreichenden Moment jedoch an Klarheit gewannen. War es eine Warnung? Es raubte ihr den Blick, den sie brauchte um Ereike zu sehen und sie verstand, warum sie zuvor die Verknüpfung zwischen Ascan und dem Mädchen verloren hatte. Sie waren kaum mehr 10 Schritte von diesem Schiff entfernt und es genügte bereits, um Silenes drittes Auge fest zu verschließen.
    Die Valisar hatte keine Augen für die Schönheit des alten Schiffes und seine erstaunlich guten Zustand … ihr Blick war stattdessen starr vor sich auf den Boden gerichtet, wo sie im Unrat und Schmutz am Boden etwas Schwarzes hervorlugen sah. Der Syrenia war vorausgegangen, doch er musste bemerken, dass sie stehengeblieben war um sich zu bücken und mit den langen Fingern eine zwar verschmutzte, doch dunkle, lange Feder aus dem Staub zu ziehen.

    "Ereike ist hier.", wisperte sie und konnte ihrer Stimme kaum mehr Kraft verleihen. Warnend glitt ihr Blick zu Ascan hinüber. "Doch jemand … oder etwas ist bei ihr. Etwas … ungewöhnliches."

    Die Worte des Syrenia klangen düster, ließen die Valisar an den Eindruck denken, den der kurze Blick in Ascans Innerstes hinterlassen hatte. Welche Qualen kannte diese junge Seele und welche Dinge hatte er getan um zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen?
    "Es ist keine leichte Aufgabe.", stimmte sie zu und ließ den Blick über die Piere gleiten, welche bereit für die Ankunft von Schiffen waren, die niemals anlegen würden. Lose Taue hingen an den wenigen gusseisernen Pollern, die noch nicht gestohlen worden waren, um das Metall anderweitig zu verarbeiten.


    Die Aufmerksamkeit der Seherin war auf jede Nuance der Atmosphäre gerichtet, denn eine jede einzelne konnte ein entscheidendes Detail sein, dass sie zu dem Mädchen führen würde. Silene bemerkte, wie ihre Sinne sie zur Vorsicht mahnten. Selbst jetzt am helllichten Tage, war es sinnvoll achtsam zu sein. Dies war kein sicherer Ort, an dem man leichtfertig herumspazieren sollte, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen.
    Der Geflügelte landete geschickt an einem vor Blicken geschützten Ort und fern der verdächtig wirkenden, bewaffneten Gestalten, die offenbar keine wichtigere Tätigkeit zu verfolgen wussten, als ihre Zeit hier totzuschlagen. Mehr als unvernünftig, wie Silene fand, war ihnen allen doch ein endliches Leben gegeben worden, das jeden Tag ein Ende finden konnte.


    Die drückende Hitze schien die Valisar kaum zu belasten, es war ihr nicht anzumerken, dass auch ihr Körper mit der Hitze kämpfte und nur ein genauerer Blick würde einen aufmerksamen Beobachter den hauchfeinen Schweißfilm auf der weißen Stirn sehen lassen, der ihre Haut etwas glänzen ließ. Ihre Augen hatten sich mittlerweile der Helligkeit angepasst und so waren ihre Augen offen und klar, als sie sich forschend umschaute. Ein paar wenige, langsame Schritte brachte sie an die Grenzen des Schattens, den der gewaltige Umriss des Schiffes warf, sodass sich ihr der Blick auf die vielen anderen Wracks im Hafenbecken eröffnete.
    Die Seherin spürte, dass Ereike nahe war, doch noch war keines der Bilder stark genug um ihr Auge zu erreichen, bevor es wieder verblasste. Ihr blieb nichts, als ziellos in diesem Nebel herumstochern, hoffend, dass sie auf etwas brauchbares stoßen würde.


    "Ich spüre, dass wir ihr nahe sind.", sagte sie ohne sich Ascan zuzuwenden und mit einer festen Stimme, die trocken klang zwischen all dem morschen Holz und Staub. Schweifend sah sie sich um, tastete mit ihren Augen einen jeden Schiffsbug ab, den sie von hier aus sehen konnte. "Sie muss in einem dieser Schiffe sein … ich kann es - "


    Jäh unterbrach sich die Seherin, erstarrte in einer halb ausgeführten Bewegung, die dazu gedacht gewesen war, sich das Haar aus der Stirn zu streichen. Hinter ihren trüb gewordenen Augen mochten tausende Bilder vorbeiziehen, doch eines davon war bemerkenswert klar und musste bedeutsam sein: Ein blütenweißer Falke stob auf, schwarzgetupftes Gefieder sträubte sich im Wind und wirbelte weiße Flocken auf, die zunächst wirkten wie Schnee. Doch es war kein Schnee … es war feuchte Gischt, die schäumend um einen Kiel aufstieg, der die Wellen zerschnitt.


    "Folgt mir.", sprach sie und es war, als würde ihre Stimme aus einer Tiefe heraufsteigen, die man nicht in der Brust einer Valisar erwarten würde. Jedes Wort war hart erkämpft und dem Sog der Vision abgerungen, die sie weit fort ziehen wollte. Alleine von dieser Vision geführt und ohne einen Blick für ihre Umgebung zu haben, schritt die Valisar ins Licht, in welchem ihr Haar und ihre Haut gleißend hell aufleuchteten. "Seht nach einem Falken."

    Vom Haus der Seherin kommend.


    Obwohl Ascan sie genau so sicher hielt, wie zuvor auch, Silene ihren Arm eng um die Schulter des Geflügelten legte und auch diesmal ihre Hände fest ineinander griffen, waren die Mühen des Aufstiegs mehr als deutlich spürbar. Das helle Klirren eines jeden Windspiels in Silenes Garten, klang noch lange in ihren Ohren nach, auch dann, als Ascan schließlich die gewünschte Flughöhe erreicht hatte und der Flugwind ihr erneut das helle Haar durchwühlte.
    Zum Greifen nahe flohen die Dächer unter ihnen fort und obwohl Silene keine Furcht verspürte, fragte sie sich, warum Ascan den Abstand zu den in der Mittagshitze glühenden Dachschindeln so kurz gewählt hatte. Kaum hatten sie das Ufer erreicht, verstand sie jedoch und sie bemerkte, wie die kühlen Aufwinde über dem Fluss ihnen einen ruhigen, freien Sinkflug anboten.
    Silene zügelte sich, was die Interpretation Ascans Wortwahl anbelangte, als er den Gesprächsfaden wieder aufnahm. Ein aufmerksamer Seitenblick unter seine Kapuze und auf das von Schweiß benetzte Gesicht genügte, um die Anstrengung zu verstehen, welche Ascan für das Starten vom Erdboden aus geleistet hatte. Jedes Einatmen trug den Geruch von Salz auf warmer Haut in sich. Erstarrend richtete sich Silenes Blick auf das glitzernde Vorbeigleiten des Dessibars hinab, wo sie sich alleine auf dessen Glanz und Rauschen fokussierte, während sich eine Antwort auf ihre Zunge legte.


    "Wie viele andere, befolge auch ich einige einfache Grundprinzipien, die mir ein friedvolles, sinnhaftes Zusammenleben mit anderen Wesen ermöglichen.", begann die Seherin und verstummte für einen Augenblick, in welchem das Rauschen um sie herum die Überhand gewann, ehe ihre eiskalte Stimme es wieder durchbohrte. "Es erscheint mir logisch, Verstöße gegen diese … Regeln zu vermeiden, denn auch wenn es keine Schuldgefühle gibt, die mich um den Verstand bringen können, so ist mir Schuldbewusstsein keineswegs fremd.", sprach sie mit ihrer unberührten Stimme, bedacht darauf, ihre Worte möglichst deutlich zu wählen. "Es ist zu vermeiden. Nichts liegt mir ferner, als Schaden zu verursachen."
    Vor ihren Augen verschmolzen die vorbeirauschenden Wellen zu einem komplexen Muster, das ihren Blick in die Ferne lenkte. Ohne, dass sie es hätte steuern können, erinnerte sich die Seherin an die größte Verfehlung ihres Lebens, klar und deutlich, so wie sie diese für alle Zeit sehen würde, bis sie eines Tages ihren letzten Atemzug tun würde. Es brachte ihr Denken zuweilen noch heute in bedrohliches Ungleichgewicht, es nagte am moralische Grundgerüst ihr Welt, unaufhörlich wie die Macht der Gezeiten. Es war ein dunkler Tag gewesen, der unter eine dunklen Zeichen gestanden hatte.
    Es würde niemals wieder geschehen. Mühsam schüttelte sie diese zehrenden Erinnerungen ab und richtete den Blick geradeaus, auf ihr Ziel in der flirrenden Mittagsluft. Einige Möwen wollten ihren Weg kreuzen, besahen sich aus neugierigen, dunklen Vogelaugen diese seltenen Gäste in ihrem Luftraum, doch sie drehten ab, bevor sie wirklich in ihre Nähe kommen konnten.


    "Ihr mögt Euch fragen, was mir an einem Leben mit einem reinen Gewissen gelegen ist … doch Ihr könnt die Welt nicht sehen, wie ich sie sehe, Ascan, und daher ist es wohl vergebens Euch zu beschreiben, wie es für eine Valisar ist, mit einer untilgbaren Schuld zu leben."


    Der Blick der Valisar war leer, als sie ihn anhob, mit verengten Augen nach vorne sah und versuchte, ihr Ziel am Horizont zu erkennen. Silene erinnerte sich daran, den Alten Hafen schon einmal besucht zu haben. Sie näherten sich rasch dem Hafenbecken mit seinen zahlreichen, verfallenden Schiffen und bald würden sie auch das schrille Kreischen der Möwen weit hinter sich lassen. Es gab zwischen den modernen Wracks schließlich nichts, was eine Möwe begehrte, und so hing auch zu belebten Stunden stets eine eigenartige Stille über diesem Ort.

    Dass Silene keine Widerworte, sondern Zustimmung entgegengebracht wurde, erfüllte sie mit der eisigsten Form von Zufriedenheit, die man sich vorstellen konnte. Es war gut. Für sie wäre es völlig inakzeptabel gewesen, eine derart wichtige Aufgabe zu erhalten und nicht durchsetzen zu können, dass das Höchstmaß an Bemühungen in deren Erfüllung floss.
    In ihren Augen spiegelte sich noch eine gewisse Zeit der schwer durchschaubare Blick Ascans, ehe er sich auf den Weg zur Türe machte und ihr den geflügelten Rücken zuwandte. Eng angelegt und zusammengefaltet leugneten seine Flügel ihre wahre Spannweite, doch Silene hatte ihre Maße gesehen, vertraute gänzlich darauf, dass sie die beiden ungleichen Wesen erneut sicher durch die Lüfte tragen würden. Die Worte, die er noch sprach, fielen schwer und tief wie Regentropfen von der Kuppelspitze und die rauen, weiß verputzten Wände warfen ihr dunkel resonierendes Echo zurück.
    Sie kannte den Syrenia nicht, auch wenn sie einige tiefe Einblicke erhalten hatte und er kannte sie nicht, hatte er doch bisher kaum einen Hauch ihres erfrorenen Seins gespürt.
    Die kurze Zeit, die sie miteinander verbracht hatten und die wenigen Worte, die gewechselt worden waren, rechtfertigten längst nicht den Austausch persönlicher Sichtweisen und Beweggründe. Doch er schien wie so viele Fühlende zu sein, denen Silene in ihrem langen Leben begegnet war und Voreingenommenheit, gepaart mit der atemberaubenden und teils furchterregenden Andersartigkeit des kalten Volkes, warfen stets Fragen auf die sich nur schwer zurückhalten ließen.
    Wie viele interessante Vorurteile und Schlüsse über ihre Art sie schon gehört hatte, konnte sie bei bestem Willen nicht sagen, aber es überraschte sie selbstverständlich nicht, sie zu hören. Im Gegenteil, sie konnte es nachvollziehen. Das Fremde, das Unerklärliche … es musste die Fühlenden so sehr anziehen, wie Silene danach strebte, deren widerwilligen Muster zu ergründen.


    Sie verließen schweigend das Haus durch desen weite Pforte, wurden vom silbernen Klingen der Windspiele empfangen, als hätten diese auf ihre Ankunft gewartet. Silene legte sich ihren Umhang wieder um die Schultern, schloss ab und ehe sie sich endgültig aufmachen konnten, gewährte sie Ascan noch eine vorläufige Antwort.
    Ihr glaubt, ich benötige eine andere Begründung dafür, als Ihr selbst. Weil ich Schuld nicht ... empfinde, nicht wahr?, klang die Gegenfrage in ihrem Kopf und Silene trat mit einen Schritt näher an den Syrenia heran, sodass sie sich in seiner Reichweite befand und er sie mühelos auf seine Arme würde heben können. Sie nickte leicht, worauf hin ein klarer Glanz über ihre kristallenen Iriden zog.
    "Natürlich werde ich Euch Eure Frage beantworten."

    Silene schloss ihre Augen, noch bevor die gähnende Leere in ihren Blick trat, welche in so vielen Wesen tiefe Ängste heraufbeschwor. Ihre Finger senkten sich weich auf das glatte Gefieder hinab, strichen über ein, zwei Federn, kamen jedoch bald zur Ruhe. Es fiel der Seherin unglaublich leicht, die stoffliche Welt für einen Moment gehen zu lassen. So oft schon war sie durch dieses Tor gegangen, hatte diese Schwelle in eine andere Welt überschritten, dass es nur schwerlich ein besonderer Moment für sie war.
    Wieder tauchte sie in die Nebel, wieder wanden sich blasse, schemenhafte Gestalten vor ihrem inneren Auge und ungesehene Gedankenkonstrukte zogen vorbei, halb real, halb Traum. Sie waren durchaus interessant, doch Silene schenkte ihnen wenig Beachtung. Sie würde tief sehen müssen, weit hinter diese oberflächlichen Dinge, welche die Seherin sanft zur Seite zog wie Vorhänge vor einem Fenster, aus dem sie einen Blick werfen wollte.
    Kühl und blass tauchte jene Szene vor ihr auf, die sich ihr beim ersten Versuch bereits kurz offenbart hatte. Ascans ruhige Stimme brachte einen Deut von Farbe in die ausgeblichenen Bilder der Vergangenheit und Silene beobachtete genau, was geschah. Sie konnte das Mädchen nun klarer sehen als zuvor, groß und dunkel waren ihre Augen im Zwielicht des Dachbodens und es standen Funken der Neugier und Bewunderung in ihnen. Seine Beschreibung entsprach dem, was sie sah. Die Ruhe, die im Kopf des Syrenia eingekehrt war, zeichnete so klare und deutliche Bilder, als wäre sie selbst zugegen gewesen.


    Mit einem Mal trat eine Unruhe in alles, was sie sah. Ungeduld flackerte auf, ließ die Farben grell werden und Silenes Sichtfeld zusammenschrumpfen, sodass sie bald nur noch Ereikes dunkle Augen sehen konnte, in denen eine junge Flamme tanzte. In bedrohlichem Gleichklang erschollen die Worte des Syrenia, in Erinnerung und Gegenwart zugleich, und auch wenn die Seherin nicht das Ziel der Worte war, vermochte sie doch deren Macht deutlich wahrzunehmen.
    Sie verstand. Ereike trug nicht nur eine Feder Ascans mit sich … auf ihr musste zumindest für eine Weile der Bann seiner Zauberstimme gelegen haben. Womöglich lag dieser noch immer auf dem Mädchen. Es war Schuld, die ihn trieb. Verantwortung für eine unüberlegte Tat.


    Das Bild des Dachgestühls zerstob und Silenes Geist floh gemeinsam mit Ereike, löste sich aus dem Blickwinkel, den Ascan ihr geliehen hatte und im Vorbeifliegen vieler Dinge wurde es zunehmend schwerer, der Spur der kleinen Dai'vaar zu folgen. Gefangen im Zauberbann von Ascans Stimme hatte das Mädchen kaum auf seine Umgebung geachtet, doch es war zweifelsohne das Seeviertel, durch dessen Straßen sie sich bewegt hatte. Die Verbindung, welche durch die Feder zwischen den beiden Fühlenden existierte, gab Silene etwas Halt, der Druck ihrer Finger auf Ascans Gefieder wurde unversehens etwas spürbarer und bald war es ihre ganze Handfläche, die Kontakt zu seinem Flügel hatte.
    Ereikes Füße waren über von unzähligen Schritten glattgeschliffenes Pflaster geflogen. Sie hörte Möwengeschrei und das hölzerne Knarren alte Schiffsrümpfe. Vor ihren Augen konnte sie das schwache Glitzern des Wasser im sich rasch nähernden Hafenbecken erkennen, ehe dieses einer dunklen Leere Platz machte, in der es wenige Eindrücke gab, die sie hätte sammeln können. Stattdessen war es Furcht, die Silene sehen konnte, Furcht und … Wut?
    Flüchtig wehten immer schwächer werdende Zeichen an Silenes Auge heran, bis schließlich der Quell der Bilder versiegte und sich alles im wabernden Nebel und Dunkel verlor. So sehr sie sich bemühte und so weit sie ihr Auge auch öffnen mochte – die Verbindung war durchtrennt, die Seiten der Vergangenheit, in denen sie gelesen hatte, entglitten ihren Fingern und es blieb lediglich ein einziges unscharfes Bild zurück, ein Schemen, der sich im Geflecht der Nebelschwaden verfangen hatte, sich bald jedoch ebenso vollständig verflüchtigte. Es war ein junger Eindruck, kaum Stunden alt.


    "Ich habe gesehen, wohin sie gelaufen ist.", sprach die Seherin unvermittelt und ihre Stimme war von einer Dunkelheit behaftet, die nicht von ihr selbst stammen konnte. Langsam machte sie einen Schritt zurück, brachte wieder eine angemessene Distanz zwischen sich und den Syrenia, sah aus geöffneten, doch seltsam trüben Augen zu ihm hinab. "Es scheint, als wäre sie nicht weit gekommen. Am alten Hafen endet ihre Spur. Es wird Euch sicherlich beruhigen, zu wissen, dass Euer Zauber nicht länger auf sie wirkt... "
    Die Seherin verstummte für einen Moment und bedachte das letzte Bild, dass sie von Ereike empfangen hatte. " ...doch ich kann Euch keineswegs versprechen, dass sie in Sicherheit ist. Sie ist an einem dunklen Ort. Sie fürchtet sich."
    Die Seherin verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, ging mit starrer Miene an Ascan vorbei und auf das Fenster zu, ließ nachdenklich den Blick schweifen, als bräuchte sie den Anblick des windberührten Gartens um einen Entschluss zu fassen. "Ich kann aus einem mir unerklärlichen Grund von hier keinen Kontakt mehr zu Ereike aufnehmen. Wenn Ihr mich jedoch an den alten Hafen bringt … ich sein kann, wo sie war … so besteht die Möglichkeit, dass ich diesen verlorenen Faden wieder aufnehmen kann." Silene drehte sich um. Ihr Ausdruck gewann eine harte, spröde Qualität und sie fasste den Syrenia so fest in ihren Blick, dass er diesem unmöglich ausweichen konnte. "Erlaubt mir mein Möglichstes zu tun um Euch zu helfen, sie zu finden. Sollte dem Mädchen etwas zustoßen, so würde ich eine Schuld auf mich nehmen, mit der ich mich nicht abfinden kann."

    Ihre Blicke begegneten sich kühl und aus den verschmälerten Augen des Syrenia sprach eine tiefe Entschlossenheit, welche Silene sehr begrüßte. Somit standen die Chancen das Mädchen aufzuspüren mehr als gut. An ihr sollte es nicht jedenfalls scheitern, denn selbst wenn es große Anstrengung erforderte: nichts hielt sie davon ab, sich tief in sich zu versenken und ihrem wahrsehenden Sinn freien Lauf zu gewähren.
    Der Geflügelte war es, der ihrem Vorhaben eine natürliche Grenze setzen würde, doch seine überzeugt gesprochenen Worte ließen darauf schließen, dass er bereit war, erneut über seine Grenzen zu gehen, sollte es notwendig werden. Es war die Aufgabe der Valisar zuzusehen, dass es nicht soweit kommen musste. Sie musste klar sehen. Klar und weit.


    Seine schwarzen Flügel spreizten sich ein weiteres Mal und diesmal gab es keine Zeltwände, die sie einengten. Silene verlor keine weitere Zeit, brach den Blickkontakt zu Ascan, schritt anmutig und in angemessenem Abstand um ihn herum und nahm schließlich die selbe Position ein wie zuvor in ihrem Zelt.
    Schräg hinter ihm zum Stehen kommend, fingen die Flügel ihren Blick, sodass er zunächst von den äußersten Federspitzen, die weit in den offenen Raum zeigten, über die im hereinfallenden Tageslicht schillernden Deckfedern bis zu den Ansätzen der geöffneten Schwingen schweifte, die mit ihrer Dunkelheit einen großen Teil des Raumes vereinnahmten. Es erschien Silene fast, als erfüllte sich damit die wahre Bestimmung dieses Raumes, als würde er endlich beherbergen zu was seine Mauern errichtet wurden.
    Obwohl die Fenster verschlossen waren, drang leise das Klingen der Windspiele ins Innere vor. Inmitten der perfekten Illusion verriet kein Detail, dass sie sich in Nir'lenar befanden … und keineswegs im viele Tagesreisen entfernten Yelindea.


    Silenes linke Hand hob sich erneut, schwebte über das Federkleid seiner linken Schwinge und suchte nach der Stelle, an der sie sich zuletzt davon gelöst hatte. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie die Kühle der Luft in ihnen, gleichzeitig strahlte ihr von seinem Rücken ausgehend die Wärme der Muskeln entgegen, die sie noch bis vor wenigen Minuten weit in den Himmel hinauf getragen hatten.
    "Beginnt noch einmal von vorne. Schließt Eure Augen.", bat sie ihn und noch immer hatte sie den Hauch des Abstands zwischen ihrer Hand und den Federn nicht überwunden. "Das Mädchen - Ereike - ich habe sie für einen Moment gesehen. Sie war im diesem Raum mit Euch. Kehrt nun in den Moment zurück, in dem Ihr ihrer gewahr wurdet.", sprach die Seherin leise in monotonem Tonfall und etwas in ihrer eisigen Stimme wollte all seine Aufmerksamkeit einfordern.
    Ihre Kristallaugen waren regungslos auf Ascan gerichtet, sie wartete geduldig darauf, dass er die Augen verschloss und den Faden wieder aufnahm, den er verloren hatte. Äußerlich schien die Valisar so unbewegt und teilnahmslos wie eine Statue, doch in ihrem Inneren setzte sich jene besitzergreifende Macht in Bewegung, die ihr drittes Auge belebte und im gleichen Zug ihr eigentliches Selbst weit zurücktreten ließ. Bereit, in den gewaltigen Strom der Bilder zu treten, lag nur noch ein Wimpernschlag zwischen dieser Welt und der Welt der Nebel und nur noch ein feiner Laufthauch trennte ihre Fingerkuppen vom Gefieder Ascans.

    Schweigend sah sie Ascan zu, wie er das süße Brot geradezu verschlang und auch wenn ihre Augen keine Regung zeigten, wusste sie doch, dass sie richtig gehandelt hatte. Silene kannte zwar Hunger, doch sie empfand ihn nicht anders, als jedes andere körperliche Bedürfnis, das befriedigt werden musste. Sie hatte jedoch bald gelernt, dass ein Loch im Magen vielen Fühlenden die Laune verdarb, sie dünnhäutig und unkonzentriert machte. Sie vermutete stark, dass es dem Geflügelten nun besser ging, zumindest sprach aus seinen Augen nicht länger sein ursprüngliches Misstrauen und selbst der kurze, wachsame Blick unter in Falten gelegter Stirn erreichte kaum dessen Intensität.
    Bald war auch das letzte Stück des Gebäcks verschwunden und da er Silenes Angebot bezüglich des Verbandes an seiner Hand ausschlug, schloss sie, dass ihn seine Verletzung tatsächlich nicht weiter zu beeinträchtigen schien.


    Das leise Pfeifen des Wasserkessels rief Silene in den Raum zurück, aus dem sie gekommen war, doch bevor sie ging, nahm sie seinen Dank noch mit einem sanften Nicken und einem kurzen Niederschlagen der geisterhaften Wimpern an. "Aísthe líyus.", antwortete sie in der Sprache der Syreniae, doch das dazu passende, freundliche Lächeln blieb aus. "Habt Dank für den Flug.", fügte sie noch in der Gemeinsprache hinzu und verschwand dann für einen weiteren Moment in der kleinen Küche, um nur wenig später mit einer dampfenden Kanne Tee und einem Glas Wasser zurückzukehren.
    Das Glas reichte sie direkt an Ascan weiter, die Kanne stellte sie auf dem Tisch ab und beachtete sie dann nicht weiter. Es war nicht mehr als eine höfliche Geste, denn sie waren nicht gekommen, um miteinander Tee zu trinken. Nun galt es, nach dem verschwundenen Mädchen zu suchen und aufmerksam las sie in Ascans Zügen nach dem Zeichen, das ihr erlaubte näher zu treten und sein Gefieder erneut zu berühren. Er wusste, was zu tun war und sie war bereit, ihr Auge erneut zu öffnen und nach dem Mädchen mit der Feder im Haar zu sehen.
    Ein Gedanke und eine Frage kreuzten noch flüchtig ihren Geist, doch sie legte sie ruhig beiseite. Es würde sich von selbst klären, sobald sie mit eigenen Augen sehen konnte, was geschehen war.

    Silene kehrte rasch zu ihrem geflügelten Gast zurück, denn einen Gast alleine warten zu lassen entsprach keineswegs den Verhaltensmustern, die sie für erstrebenswert hielt. Ihren dunkelblauen Umhang hatte sie inzwischen abgelegt, doch ihr Haar befand sich noch immer in der selben Unordnung, in welcher der Wind es zurückgelassen hatte. Es schien ihr für den Moment nicht wichtig zu sein, doch als sie das silberne Tablett auf dem Tisch abstellte und ihre Hände freiwurden, strich sie zumindest kurz über ihr Haar und bewegte einige lose Strähnen hinter ihre Ohren zurück.


    "Bitte, esst etwas.", wies sie den Syrenia an und deutete auf das Stück Hefegebäck, das auf einem Porzellanteller lag. Neben diesem hatten auf dem Tablett noch zwei zierliche Tassen und eine Zuckerdose Platz gefunden, eine Teekanne fehlte bisweilen. Es war mehr einstudiertes, absolut zweckgebundenes Verhalten, als wahres Verständnis für die bedrückte Situation, doch sie konnte unmöglich klar sehen, wenn er nicht in der Lage war, dieser Belastung standzuhalten. Der Seherin war bewusst, dass es Ascan drängte, fortzufahren, dazu brauchte sie nicht erst die nervöse Bewegung seines Beines sehen, doch es war absolut von Nöten, dass er etwas aß.
    "Die Zeit drängt, aber Ihr müsst bei Kräften sein, wenn wir fortfahren.", erklärte sie mit ungewöhnlich weicher und etwas gesenkter Stimme, der das gewohnte, schneidende Element fehlte, als läge an diesem Ort frisch gefallener Schnee der jedem Geräusch die Schärfe nahm.


    Statt sich ebenfalls zu setzen, sah sie für einen langen Moment auf Ascan hinab und musterte dabei auch seine verbundene Hand. Sie war keine Heilerin, doch einen Verband anzulegen gehörte auch zu den Fähigkeiten, die sie sich in den Werkstätten Yelindeas angeeignet hatte. Viele der dort verwendeten Werkzeuge - Schnitzmesser, Sägen, Hobelklingen - waren entsetzlich scharf und es war unvermeidbar, dass man sich eines Tages an ihnen verletzte.
    "Benötigt Eure Verletzung eine Behandlung?", fragte sie sachlich und kaum waren die Worte verflogen, erstarrte auch ihr Gesicht wieder zu der teilnahmslosen Maske, auf welche sie keinerlei Emotion legte.

    Das sonst so sachte und friedliche Schwingen der Windspiele gewann durch die kraftvollen Flügelschläge des Syrenia immer mehr an Intensität, je näher sie dem Haus kamen. Sie hatten bereits aufgesetzt, doch Ascan schien sich für einen Moment in seinen Gedanken verirrt zu haben, denn er entließ sie nur mit etwas Verzögerung aus seinem sicheren Griff.
    Silene löste die Verschränkung ihrer Hände, vertraute ihr Gewicht langsam wieder dem Untergrund an. Festen Boden unter den Füßen spürend und endlich wieder frei atmend, bemerkte die Seherin, dass dieser Flug ihren Körper offenbar mehr mitgenommen hatte, als ihren Geist. Während dieser völlig ungerührt seine endlosen Bahnen zog, hatte die Höhe und vor allem der rasante Abstieg ein schwaches Zittern in ihre Finger gebracht und auch ihre Knie schienen sie nicht so tragen zu wollen, wie sie es gewohnt war.


    Bevor sie sich dem Öffnen der Tür zuwenden konnte, blieb eine ihrer Hände noch einen Augenblick länger auf Ascans Arm liegen, bis sie sich sicher war, ihr Gleichgewicht gefunden zu haben, doch er schien es kaum zu bemerken. Silene musterte sein Gesicht, erfasste den Glanz seiner grauen Augen, erkannte Anzeichen der Wirkung darin, welche diese Umgebung unweigerlich auf ihn hatte. Für einen Moment verlor auch sie sich in einer Überlegung.
    So vertieft in das Bild aus Farben, Klang und Wind, dass Silenes Anwesen malte, wirkte sein Gesicht mit einem Mal jünger als zuvor. Zu jung für den vielen Schmerz, den sie in ihm gesehen hatte. Die sanfte Brise, die stets durch den Garten der Seherin strich, verfing sich in seinem leichten, weißen Haar. Die fein gezeichneten Züge, so edel und ebenmäßig, lenkten ihren Blick unweigerlich auf die Narbe auf seiner linken Wange. Dieses Gesicht wollte ihr so viel erzählen … doch Ascan war nicht seinetwegen gekommen und für ihn zu sehen war zumindest heute nicht ihre Aufgabe.


    Ascan hatte sich vom Anblick seiner Umgebung gelöst, doch bevor er zu Wort kommen konnte, knurrte sein Magen vernehmlich und der verlegene Ausdruck trat so flink in sein Gesicht, dass es Silene etwas überraschte. Mit dem Blick auf seine unversehrte Hand, wurde sie jedoch auch der verletzten Hand gewahr und dem blutbefleckten Verband daran. Er machte augenblicklich einen sehr mitgenommenen Eindruck, schloss Silene, doch sie hatte schon oft feststellen können, dass ein paar Bissen zu Essen und eine Tasse Tee bereits viel ausmachen konnten.


    "Kommt.", forderte sie ihn auf, wandte sich der Tür zu und ohne weitere Umschweife schloss sie auf, schwang die weitflügelige Tür auf und wies Ascan sogleich den Weg in das Teezimmer. Ein niedriger Tisch stand dort bereit, ein mit weißem Stoff bezogener Diwan und zwei weitere, ähnlich bepolsterte Sitzgelegenheiten, die allesamt ohne Rückenlehnen auskamen. Hohe Regale an den Wänden beherbergten einige Bücher über die Geschichte Beleriars und des Sternenmeers, über Musik, Architektur und Kunsthandwerk und das Tageslicht, welches nur durch einen Vorhang gedämpft durch das spitze, hohe Fenster fiel, beleuchtete einige Gegenstände, die etwas mit Astronomie zu tun haben mussten.
    Ansonsten war das Teezimmer ganz im Stil ihrer Heimat gehalten, so wie das gesamte Haus bis auf wenige Details diesem entsprach. Während Ascan bereits das Teezimmer betrat, bog Silene in einen anderen Raum ab und machte sich dort leise zu schaffen.
    „Nehmt Platz, wenn Ihr möchtet. Ich komme sofort nach.“, klang es kühl hallend aus dem angrenzenden Raum und die hohen Decken der Räumlichkeiten verliehen ihrer Stimme einen leicht schwebenden Klang, der im Zelt nicht hörbar war.