Beiträge von Sharinoe Daranday

    »Ihr seid eine fleißige und einfallsreiche Tochter unserer Göttin.« Sharinoe lächelte leicht, während sie ihren Spaziergang durch den Garten wieder aufnahm. "Ich bin mir sicher, dass Ihr einen großen Beitrag dazu leisten werdet, die Herrin der Nacht wieder ins Gedächtnis der Verlorenen zurückzubringen. Ihr wisst, dass ihre liebenden Arme jeden aufnehmen, der sich nach Antworten und Geborgenheit sehnt."


    Vor allem, wenn seine Taschen gut gefüllt waren. Doch im Allgemeinen besuchte das einfache Volk selten einen Ball. Ob eine Tanzschule den Adel anziehen würde, blieb fraglich. Doch der eine oder andere reiche Händler würde genügen.
    Sharinoe unterdrückte ein Seufzen, während die Tempelglocken zu läuten begannen und die Dienerinnen der Göttin in den Altarraum riefen, um die Mitternachtsandacht zu begehen.


    "Die Andacht beginnt bald. Vielleicht möchtet Ihr heute Nacht daran teilnehmen, um den Segen unserer Herrin mit Euch zu nehmen, wenn Ihr den Tempel verlasst."

    "Es heißt, dass sie von der Herrin der Nacht gesegnet wurden und ihre Blüten die Schönheit der Nacht verkörpern. Ihre Schönheit. Ihren Zauber. Und ihre Geheimnisse, die sich erst erschließen, wenn man hinter die schöne Fassade blickt." Sharinoe lächelte hintergründig. "Wer ihr zu nahe kommt, muss vorsichtig sein. Denn der Blütenstaub in ihrem Herzen kann den Geist verwirren und den Willen rauben."
    Die Hohepriesterin blickte über das Meer der blauen Blüten hinweg und eine frische Brise setzte ihr Haar in Bewegung. "Was unsere Göttin nun braucht, ist eine Armee von Sternenlilien, die für ihren Ruhm Blütenstaub über offene Geister streut und sie in ihre Arme trägt."
    Sie wandte sich zu der Nymphe um und ihre silbernen Augen flackerten im Halbdunkel des Gartens. Für einen Augenblick wurde das Abbild der Göttin auf ihren bleichen Zügen offenbar, so deutlich, dass es schien, als ob die sie Nacht in ihre Umarmung zog. "Und Ihr seid ein Teil dieser Armee, die unsere Herrin reich für ihre Dienste belohnen wird."

    »Ihr habt Einfluss, mein Kind.« Sharinoe lächelte warm und hielt dann inne, um nach dem Kinn der Nymphe zu fassen. »Und vielleicht seid Ihr Euch dessen noch nicht einmal bewusst. Shirashai hat Euch mit Schönheit gesegnet. Ein Lächeln, die richtigen Worte und ich bin mir sicher, dass Ihr die Herzen der einflussreichsten Männer zu öffnen vermögt.«


    Und ihre Taschen … Eine sichere Folge. Aber manches blieb besser ungesagt.


    Die Stimme der Nacht ließ Amelie los und ging weiter auf die Gärten zu, in denen sich die prächtigen Nachtblumen geöffnet hatte, um sich dem Mond zuzuwenden, dessen Kraft sie selbst unter dem Ozean noch spürten. Sie verströmten einen betörenden Duft, Parfum, manches giftig und die Sinne verwirrend, verborgen hinter Schönheit. Die Priesterin neigte sich herab, um eine Sternenlilie zu pflücken, deren Blüten in seinem seidigen Blau leuchteten. Schön. Und mit einem Gift gesegnet, das den Geist einlullte und willenlos machte.


    »Alles, was Ihr tun müsst, ist wie eine Sternenlilie sein.« Sie reichte Amelie die duftende Blüte.

    Sharinoe folgte dem Blick der Nymphe und stieß ein Seufzen aus. »In friedlichen Zeiten wenden sich die Inselbewohner seltener an die Götter und ich befürchte, unsere Priesterschaft ist geschrumpft. Shirashais Stimme ist nicht mehr laut und deutlich in Nir’alenar zu hören.«


    Und die Schatzkammer des Tempels war beunruhigend leer. Es war jedoch nichts, was Sharinoe jemals offen aussprechen würde. Sharinoe musterte die Nymphe. sie war reizend. Hübsch genug, um jedem Mann den Kopf zu verdrehen, der ihrer ansichtig wurde und um seinen Willen nach dem ihren zu biegen. Ein Instrument, das Shirashai jederzeit gefiel. Ein Instrument, das sie einsetzen konnte, um die Schwierigkeiten des Tempels zu verringern.


    Die Hohepriesterin lächelte und wies auf einen Gang, der in den hinteren Teil des Tempels führte, von dem aus man in die Tempelgärten gelangte. »Warum geht Ihr nicht ein Stück mit mir, mein Kind?«

    Die Zeiten waren friedlich. Zu friedlich für Sharinoes Geschmack. Es war niemals gut für die Geschäfte der Priesterschaft, wenn es zu lange ruhig blieb. Verzweiflung und Not waren die Antriebsfeder eines jeden Glaubens. Ging es den Bewohnern der Insel zu gut, vergaßen sie schnell, den Göttern zu huldigen. Nein, schlimmer noch - sie wandten sich nur zu gern Eriadne zu, von Dankbarkeit für das Licht erfüllt, das ihr Leben erleuchtete.


    Sharinoe verzog das Gesicht und für einen Augenblick fiel die Maske der durchgeistigten Hohepriesterin von ihr ab. Die Priesterschaft war in den letzten Monaten geschrumpft, der Palast der Nacht war zu leer, Spenden blieben aus. Man bemerkte es an den abgewetzten Stellen, die das Holz der Bänke im Altarraum aufwies. Makel, an denen Sharinoes Blick jetzt hängen blieb, als er über die leeren Plätze hinwegschweifte. Ein Stirnrunzeln war die Folge, dann sah sie die dunkle Silhouette, die vor der Statue Shirashais kniete. Sharinoes Miene glättete sich und der lange perfektionierte Ausdruck der ruhigen, makellosen Stimme der Nacht kehrte zurück, ohne dass sie danach zu suchen brauchte.
    Mit leisen Schritten näherte sie sich der Nymphe, das Geräusch ihrer Schleppe, die über den Marmor glitt, nicht mehr als ein Flüstern.


    »Die Herrin der Nacht segne Euch, mein Kind.« Sharinoe hielt mit gefalteten Händen neben der Statue der Göttin inne, ein Abbild Shirashais, das auf Beleriar hinabgestiegen war.

    Sharinoe legte den Kopf schief und betrachtete Brennan mit einem gewissen Interesse, das jedoch undeutbar blieb. Seine kühle Reaktion mochte sie ein wenig überraschen. Es schien, als ob er diesem Treffen nicht mit Freude entgegensah. Und dies mochte sogar beidseitig sein. Es sollte sie wundern, wenn die Nymphe andere Gefühle in dieser Sache hegte.
    Nun, sicher war, dass sie die Entwicklung im Auge behalten würde. Shirashais Priesterschaft konnte es sich nicht erlauben, ihre Mitglieder aufgrund von persönlichen Differenzen zu verlieren. Jeder Novize war ein Gewinn und ließ die Göttin wieder stärker werden.


    „Amelie, tatsächlich. Es scheint, als ob Ihr einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen habt. Etwas, das der Königin der Dunkelheit mehr Macht verleihen wird. Ihr habt gute Arbeit geleistet.“


    Sie lächelte und verließ ihren Standpunkt am Fenster, um wieder zu ihrem Arbeitstisch zurückzukehren. Eine zarte, langfingrige Hand legte sich auf den Rücken des komfortablen Samtstuhls, der davor auf sie wartete.


    „Sie befindet sich im Augenblick im Palast der Nacht. Es ist wahrscheinlich, dass Ihr ihr über den Weg laufen werden. Es liegt bei Euch, ob Ihr dies möchtet oder es auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollt. Allerdings wird es sich wohl nicht für immer vermeiden lassen.“


    In früheren Zeiten hätte Sharinoe durchaus Freude an einem kleinen Spielchen gehabt und ein solches Treffen unvorbereitet geschehen lassen. Doch die letzte Zeit hatte ihr die Lust an solcherlei Kleinigkeiten geraubt. Zu ernst war die Lage, um sich mit Ränken zu amüsieren.

    Sharinoe nickte und ein leichtes Lächeln hob ihre Mundwinkel und milderte den sorgenvollen Ausdruck. Es war ein Segen, ergebene Diener der Göttin um sich zu wissen, deren Eifer ungebrochen war und die keine Zweifel an ihrem Weg hegten.
    Auf seine Frage hin hob sie jedoch überrascht die Brauen und dachte dann für einen kurzen Moment nach, bis sie schließlich zu einer Antwort ansetzte.


    „Tatsächlich? Nun … ich bin mir sicher, dass wir Euch in dieser Hinsicht behilflich sein können. Vielleicht könnte ich Euch Sirenor zur Seite stellen. Er ist ausgesprochen begabt und hat sich um unsere Sache verdient gemacht. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob Ihr ihm früher schon einmal begegnet seid. Er war damals noch ein Novize, der sich noch nicht lange in der Umarmung der Schatten befunden hat.“


    Sie hielt inne, als ihr die Anwesenheit einer gewissen Nymphe in das Bewusstsein drang. Einer Nymphe, die seinerzeit zum ersten Mal an Brennans Seite Palast der Nacht betreten hatte. Sharinoe spürte, dass sie den Tempel betrat, so wie sie die Anwesenheit aller Diener Shirashais fühlen konnte, die diesen Hallen angehörten.


    „Es wird Euch vielleicht überraschen, mein Lieber … nachdem Ihr Nir’alenar verlassen habt, hat eine junge Nymphe Zuflucht im Schoße Shirashais gesucht. Ich glaube, dass sie Euch nicht unbekannt ist.“


    Sie verstummte und überließ es ihm, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

    Sharinoe schwieg für einen Augenblick und betrachtete nachdenklich das Bild der Stadt, das sich draußen vor dem Fester bot, wenn man den Schleier der Dunkelheit durchbrach. Schließlich wandte sie sich wieder um und richtete das Wort an Brennan.


    „Die Parade der Sternengarde steht bevor. Und die traditionellen Fechtkämpfe der Hallen des Schwertes im Anschluss. Womöglich wäre dies eine sehr zwanglose Möglichkeit. Die Besucher werden bei diesen Festlichkeiten recht empfänglich sein. Ihr erinnert Euch sicher an die Atmosphäre. Die jungen Mädchen, die attraktiven Fechter … bei dieser Gelegenheit denkt sicherlich niemand gerne an Verzicht.“


    Sie seufzte leise.


    „Tatsächlich sind die Lehren dieses Mannes auch hier bereits auf fruchtbaren Boden gefallen. Savras Delondar zeigt sich ihm sehr zugetan und sein Einfluss auf einige der niederen Adelsfamilien ist unbestreitbar vorhanden. Alles, was wir nicht benötigen, ist eine Gruppe von adeligen Fanatikern, die Kunstwerke auf offener Straße verbrennt und ihrem Besitz entsagt.“


    Die Delondar gehörten dem Hochadel an. Es war kein Wunder, dass ausgerechnet diese von Skandalen gebeutelte Familie einen solchen Weg einschlug. Noch mochte das Oberhaupt Savras nicht den letzten Schritt tun. Aber es war eine Frage der Zeit, bis er sich den Lehren ergab und ein schlechtes Vorbild für den Rest der Stadt abgab.

    Sharinoe lauschte der Erzählung mit schief gelegtem Kopf und nickte schließlich wissend. Auch ihr war es nicht verborgen geblieben, dass sich ein Liebeskarussell um den jungen Mann zu drehen begonnen hatte. Und wenngleich Verführung eine Komponente war, die in den Reihen der Shirashai Priesterschaft nur zu gerne zum Einsatz kam, so barg sie durchaus einige Gefahren in sich.


    Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah für einen Augenblick in die Ferne. Als sie ihren Blick wieder auf den jungen Mann richtete, lag eine gewisse Erschöpfung auf ihren Zügen.


    „Evoras hat mir davon berichtet, dass Ihr Zuflucht in den Reihen unserer Priesterschaft gesucht habt. Und Ihr kommt zur rechten Zeit. Die Dinge stehen nicht zum Besten in Nir’alenar.“


    Ein bitterer Zug bildete sich um ihre Lippen.


    „Nein, wahrscheinlich stehen die Dinge auf der ganzen Insel nicht zu Besten. Die Lehren dieses impertinenten Ektor Saramnas breiten sich auf Beleriar aus wie eine Krankheit. Niemand tritt mehr unserem Glauben bei. Entsagung der weltlichen Freuden, Besitzlosigkeit. Es ist Wahnsinn, doch es trifft auf fruchtbaren Boden.“


    Sie deutete auf die Nachricht des anderen Priesters.


    „Evoras schreibt davon, dass diese Seuche bis nach Shay’vinyar vorgedrungen ist. Einige Adelige haben sich den Lehren dieses Wahnsinnigen verschrieben und Hab und Gut aufgegeben, um in Armut zu leben. Könnt Ihr Euch diesen Irrsinn vorstellen? Wie lange wird es dauern, bis es auch vor Nir’alenar keinen Halt mehr macht?“


    Sharinoe vermochte es nicht, ihre Erregung im Zaum zu halten und erhob sich von ihrem Stuhl, um ruhelos zum Fenster zu laufen und über die Stadt zu blicken.


    „Shirashais Macht ist bedroht. Wenn unser Orden nicht bald wieder Zulauf erhält, schwinden wir und werden von diesem Fanatiker zerquetscht, der in Eriadnes Namen die ganze Insel in Aufruhr versetzt.“


    Tatsächlich war es bedenklich. Die Geschehnisse in Kyora erinnerten stark an die Zeit, in der Narion die Macht über die Insel ergriff. Und je mehr Wesen sich von diesem Fanatismus anstecken ließen, desto stärker würden alle anderen Götter in den Hintergrund rücken. Es war für jede Gottheit überaus unangenehm, Anhänger zu verlieren. Für Shirashai, die ohnehin geschwächt war, wäre es jedoch fatal.

    Der Priester wirkte ein wenig erstaunt. Dieser Mann war ihm nicht unbekannt und schon seit langer Zeit war er nicht mehr in dieser Stadt gewesen. Er wusste, dass seine Herrin eine gewisse Schwäche für ihn besaß, denn mit seinem Eifer hatte er sich seinerzeit unverzichtbar gemacht. Ein gewisses Gefühl des Grolls brodelte in ihm. Seitdem der dunkle Mensch gegangen war, war er selbst, Sirenor, in Sharinoes Gunst aufgestiegen. Würde es nun bedeuten, dass er seinen Platz verlieren würde?
    Trotzdem verneigte er sich ehrerbietig und nahm die Nachricht entgegen, um sie der Herrin zu überbringen.


    „Wartet hier. Ich werde die Herrin über Euer Kommen informieren.“


    Mit diesen knappen Worten verschwand er in den Schatten und es dauerte eine Weile, bis er plötzlich wieder daraus auftauchte und Brennan zunickte.


    „Kommt, die Hohepriesterin erwartet Euch.“


    In der Tat. Sirenor hatte gehofft, dass sie sich ein wenig Zeit lassen würde, bis sie diesen Mann empfing. Doch sofort, nachdem sie die Nachricht gelesen hatte, hatte sie nach ihm verlangt. Und für gewöhnlich war es besser, Sharinoe Gehorsam zu zeigen.
    Also ging der Schattenelf voran. So hochmütig, wie man es von einem Angehörigen seines Volkes erwartete. Vor Sharinoes Gemächer angekommen, öffnete er die Tür und trat beiseite, um Brennan einzulassen, schloss sie dann sogleich wieder, als er den Wink der Hohepriesterin erblickte, die ihn dazu aufforderte, sich zurückzuziehen.


    Sharinoe war allein. Sanftes Licht aus weißlichen, schwebenden Kugeln erhellte ihren Arbeitstisch und die Dokumente, die darauf ausgebreitet lagen. Eines davon war die Nachricht aus Shay’vinyar, die noch immer offen vor ihr lag.
    Eine frische Brise drang durch das offene Fenster herein und ließ die schwarzen Seidenvorhänge sanft flattern. Es war ein luftiger, lauer Tag, dessen Licht jedoch nur schwach in den Palast der Nacht eindrang.
    Die Hohepriesterin war so schön wie immer. Doch Sorgen zeichneten ihr Gesicht und ersetzten ihre sonst stets majestätische Haltung. Sorgen, die größer schienen, nachdem sie die Botschaft von Evoras Tenyor, des Hohepriesters des dortigen des Tempels gelesen hatte. Beinahe wirkte sie klein. Kleiner als sonst. Es war ein erschreckender Blick hinter eine sonst so perfekte Fassade, die ihr niemals entglitt.
    Trotzdem zierte ein leichtes Lächeln ihr Gesicht, als sie Brennan die Hände entgegen hielt.


    „Brennan, mein Lieber. Es erfreut mein Herz, dass ihr den Weg zurück nach Nir’alenar gefunden habt. Beinahe habe ich befürchtet, dass ihr niemals mehr zurückkehren würdet. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch böse sein sollte, dass Ihr uns einfach verlassen habt.“

    Nachdem Brennan gegangen war, um seine Gebete in Einsamkeit zu sprechen, wandte sich Sharinoe zu den beiden Frauen um und das Lächeln verschwand von ihren Lippen, ließ Ernsthaftigkeit auf ihren Zügen zurück, als sie Amelie anblickte. Sie neigte sich zu der Nymphe und legte ihre Hand sanft auf die ihre, wohl ahnend, wie sehr sie sich nach Bestätigung sehnen musste. Jedes ihrer Worte war von Sehnsucht durchtränkt. Der Sehnsucht nach jemandem, der ihr den Weg weisen konnte. Uns so war Sharinoes Stimme sanft und doch ermunternd, als sie schließlich das Wort an Amelie richtete.


    "Jeder, der reinen Herzens diesen Tempel betritt und aufrichtig um die Hilfe der Königin der Nacht ersucht, ist bei uns willkommen, ganz gleich, welchen Weg er in seiner Vergangenheit beschritten haben mag. Shirashai fragt nicht danach, was ihr getan habt, bevor euer Fuß die Schwelle ihres Palastes übertreten habt."


    Die Ernsthaftigkeit ihrer Miene wandelte sich zu einem sanften Lächeln voller Zuversicht. Dann wanderte ihr Blick zu der anderen Frau, die keinerlei Emotion verströmte. Ihre eigenen Worte lösten das Rätsel ihrer Herkunft und das Rätsel, warum Sharinoe es nicht vermochte, ihre Motive zu spüren. Die Hohepriesterin musterte sie für einen langen Augenblick mit ihren undurchdringlichen Augen, die an den silbernen Stern Shirashais erinnerten. Auch sie suchte, jedoch auf eine andere Weise als Amelie. Eine kühle Weise, die von ihrem Verstand geprägt war. Ihr Mangel an Emotion machte es schwierig, ihre Gedanken zu entschlüsseln und zu verstehen, was sie im Tempel der Shirashai zu finden erhoffte und Sharinoe wusste instinktiv, daß sie ihr nicht würde bieten können, was sie verlangte. Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen, um die Frauen mit ihren Gedanken allein zu lassen.


    "So fühlt euch in ihrem Palast willkommen, wann immer euch eure Wege hierher führen."

    Ein leichtes Lächeln trat erneut auf Sharinoes Lippen, doch es blieb undeutbar. Ihre silberfarbenen Augen leuchteten in einem wissenden Licht, während sie von Ta'shara zu Amelie glitten und auf der Nymphe haften blieben, die nun scheu und unsicher wirkte. Sharinoe war sicher, daß es nicht in ihrem Naturell lag, eher der Situation zuzuordnen war. Ja, die Hohepriesterin der Nacht erkannte ein suchendes Herz, obgleich es schwer war, die Absichten der anderen Frau zu ergründen. War sie tatsächlich nur hier, um Brennan zu Gefallen zu sein oder war da mehr? Ihr Blick verharrte auf den Zügen des Halbwesens. Geteiltes Blut strömte durch ihre Adern und machte es schwer, ihr Innerstes zu ergründen.
    Als sie das Wort ergriff, blieb ihre Stimme leise, war aber dennoch von einer solchen Macht erfüllt, daß sich ihr niemand zu entziehen vermochte.


    "Es wäre an Grausamkeit kaum zu überbieten, würde ich euch meine Zeit und meine Aufmerksamkeit verweigern, wenn ihr mit suchendem Herzen zu mir kommt. So scheut euch nicht, eure Fragen offen auszusprechen oder sucht mich zu einer anderen Stunde ohne Begleitung auf, wenn ihr sie nicht mit anderen teilen möchtet."


    Sie schenkte Brennan ein Lächeln, wandte sich jedoch wieder zu den Frauen um. Obgleich sie erkennen konnte, daß ihm selbst Fragen auf dem Herzen liegen mussten, würde er zurücktreten, wenn es darum ging, Suchenden zu Antworten zu verhelfen. Und sie zweifelte daran, daß seine Fragen für die Ohren der Frauen bestimmt sein würden.

    Es gab keine Hast in Sharinoes Bewegungen, als sie sich zu den Besuchern im Palast der Nacht umwandte. Es lag stets etwas fließendes in jeder ihrer Gesten und ihre Anmut ließ sie Shirashai noch ähnlicher wirken und verführte nur zu gerne zu der Annahme, daß die Göttin in jedem Augenblick in ihr wohnte.
    Ein ruhiger Blick ihrer silberfarbenen Augen glitt über die Wesen, die Sharin hineingeführt hatte und ein leichtes Lächeln tanzte über ihre Lippen, als sie Brennan unter ihnen fand. Einmal mehr hatte der treue Diener der Herrin der Nacht Suchende zu ihr geführt.
    Wenige Schritte führten sie zu einem fein gearbeiteten Sessel von silberner Farbe, der mit nachtblauen Polstern versehen worden war. Sterne und Halbmonde waren in ihn eingearbeitete worden – beides Zeichen, die mit Shirashai in Verbindung gebracht wurden.
    Die Hohepriesterin ließ sich auf die samtigen Kissen gleiten und wies ihre Besucher an, ebenfalls auf einer der beiden Bänke Platz zu nehmen, die davor aufgestellt worden waren.


    „Ich danke Dir, Sharin.“


    Ihre Stimme war dunkel und leise. Sie besaß einen Klang, der unwillkürlich an schwarze Seide erinnerte. Kühl, aber dennoch schmeichelnd wie die zarte Berührung des kostbaren Stoffes. Ruhig ruhten ihre Augen auf Brennan und den beiden Frauen, in der Erwartung, daß sie das Wort ergriffen und ihren Begehr vortrugen.

    "Shirashai ist großmütig, mein Kind. Viele ihrer Gläubigen haben sich von anderen Göttern abgewandt, um in ihr Trost und Hilfe zu finden. Du bist nicht die erste, die unverhofft die Sehnsucht nach der warmen Umarmung der Nacht verspürt hat. Alles, was Du tun musst, ist Shirashai aus freiem Herzen treu zu dienen und ihren Weisungen zu folgen."


    Sharinoe lächelte sanft. Die Valisar war so verzweifelt, daß sie sich nur zu gerne in Shirashais Arme werfen wollte. Sie war dazu bereit, jedes ihrer Worte zu glauben und in sich aufzusaugen, als sei sie ein Schwamm. Doch sie schien unsicher, was sie tun musste, um Shirashai zu gefallen und es konnte keinesfalls schaden, ihr dabei ein klein wenig Hilfe zu gewähren. Diese neu erwachte Zuneigung zu der dunklen Göttin war noch viel zu frisch, um sie sich selbst zu überlassen.
    Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Palast der Nacht unverhofft Zuwachs bekommen, von der Göttin selbst gesandt - ein Umstand, der keineswegs häufig vorkam und der auf ein spezielles Interesse hinwies. Und die Hohepriesterin hielt es für eine großartige Idee, Deleila der Weisung ihrer neuen Priesterin anzuvertrauen, um Deleilas Willen Shirashai zu dienen, nicht versiegen zu lassen. Er musste genährt und gestärkt werden, damit er weiterhin wachsen und gedeihen konnte.
    Ein kurzes Nicken in die undurchdringliche Dunkelheit, die Shiaree und die privateren Räume des Tempels auf magische Weise verbarg. Mehr bedurfte es nicht, um zu verdeutlichen, was Sharinoe im Sinn hatte.

    Sharinoe spürte das Verlangen, das in Deleilas Inneren loderte. Und sie spürte ebenso, daß sie nur allzu bereit war, auf den Pfaden Shirashais zu wandeln und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Ja, eine Valisar musste in ein tiefes Loch stürzen, nachdem der Fluch, der ihr Leben zuvor bestimmt hatte, gebrochen war. Und vielleicht war es gar besser, den Fluch des Narions niemals brechen zu wollen. Sie sah ein Wesen vor sich, das nach einer neuen Perspektive suchte und das dabei unweigerlich von der Dunkelheit angezogen wurde.
    Sharinoe lächelte. Ein gütiges Lächeln in den Augen Deleilas - doch tief in ihrem Inneren entsprang es nicht ihrer Herzensgüte, sondern dem Wissen, das sich bald ein neues Wesen in die Reihen von Shirashais Kindern eingliedern würde. Es war ein frohlockendes Lächeln, denn die Göttin der Nacht wäre sicherlich entzückt über eine Valisar in ihren Reihen.


    Doch zuerst galt es, Deleila auch von diesem Pfad zu überzeugen.


    "Shirashai kann Dir helfen, mein liebes Kind. Alles was Du tun musst, ist, ihr all Deine Wünsche und Dein Verlangen mitzuteilen und sie wird Dir ihr Ohr schenken und Dir dazu verhelfen, Deine Träume zu verwirklichen. Du musst ihre Hilfe nur annehmen."


    Hier zögerte Sharinoe und brach den Satz ab und schwieg - es war wohl noch zu früh, Deleila mit den Kleinigkeiten vertraut zu machen, die ein solches Unterfangen mit sich bringen konnten. Und es war wohl kaum dienlich dabei, sie wirklich zu überzeugen.

    "Erzähl mir von dem Dunkeläugigen, mein Kind. Was hat er Dir angetan?"


    Der Ausdruck auf Sharinoes Zügen blieb gleichmäßig gütig, doch innerlich zogen sich ihre Brauen zusammen, während sie Deleilas Worten lauschte. Demnach hatte ein Anhänger der großen Göttin der Nacht sie auf ein Schiff gelockt um ihr Angst zu machen? Sharinoe konnte sich kaum vorstellen, daß dies sein Ziel gewesen war und sie war neuierig, die verworrene Rede zu ergründen.


    "Und wenn es Rache ist, nach der Du dürstest, dann sag mir, an wem Du Dich rächen möchtest und ich sage Dir, wie Shirashai Dir dazu verhelfen kann."


    Die Hohepriesterin hatte ihren eigenen Verdacht diesbezüglich und sie hoffte ernsthaft, daß es nicht der Gott des Feuers war, an dem die Valisar sich rächen wollte. Denn im Grunde waren Shirashai und Narion stets Verbündete gewesen und der Schatten und das Feuer waren niemals weit voneinander entfernt. So bestand wenig Hoffnung, daß die Priesterschaft der Nacht auch nur einen Finger rühren würde, um ein solches Gesuch zu unterstützen. Doch zunächst würde sie Deleila aufmerksam lauschen.

    "Ein verirrtes Herz auf der Suche nach Erlösung. Du bist an den richtigen Ort gekommen, mein Kind. Denn die Nacht wird Dir Trost und Erleichterung verschaffen, während die Schönheit der Sterne Deinen Schmerz verblassen lässt. Komm, vertrau mir Deine Sorgen an."


    Sharinoes Stimme war leise und einschmeichelnd, es war schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen, als sie nach Deleilas Hand griff und sie auf die Beine zog, um sie zu einer der Bänke zu geleiten, die den Altarraum bestückten. Die Schönheit des Tempels wirkte ähnlich einlullend wie Sharinoes Stimme, die stets von einer sanften Macht begleitet zu werden schien. Beinahe fühlte es sich an, als ob die Mauern des Palastes der Nacht verschwunden waren und dem echten Nachthimmel Platz gemacht hatten, der sich bis in die unendlichen weiten des Universums erstreckte. Die Welt um sie herum schien zu verschwimmen und verschwand, bis die Existenz anderer Lebewesen kaum mehr zu spüren war.
    Sharinoe wankte keinen Augenblick in ihrem Ausdruck milder Güte, auch wenn ihr Kopf sich mit der Unwahrscheinlichkeit einer fühlenden Valisar beschäftigte. Denn sollte sie nicht die wahre Liebe gefunden haben und niemals einsam sein?

    Sharinoe beobachtete das Schauspiel aus dem Dunkel heraus und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Die Haut so blass wie die Haut einer Valisar, daran konnte kein Zweifel bestehen. Kein anderes Volk Niel'Anors besaß diese frostige Hautfarbe, die mit der unterkühlten Schönheit einer marmornen Statue einher ging. Wie überaus ungewöhnlich war es, daß ein solches Wesen den Beistand Shirashais suchte. Denn Valisar kümmerten sich gewöhnlicherweise wenig um das Wirken der Götter und wenn sie es tat, erwählten sie gemeinhin nicht Shirashai.
    Doch diese Valisar schien anders zu sein. Womöglich ein Halbwesen? Die Frucht einer Verbindung, die dem reinen Pflichtgefühl entsprungen sein mochte? Denn Sharinoe spürte, daß starke Emotionen von dem Wesen ausgingen. Emotionen, die es zu verschlingen trachteten. Emotionen, die Shirashai nutzen konnten.
    Langsam und leise trat die Hohepriesterin aus den Schatten und ließ ein mildes Lächeln um ihre Lippen spielen, das sie für gewöhnlich nur jenen zeigte, die Rat und Trost bei der Göttin der Nacht suchten. Ihre Stimme war leise, ein leichtes Flüstern nur, das Deleilas Ohren wie ein sanfter Windhauch berührte.


    "Du suchst etwas, mein Kind. Und Shirashai kann Dir helfen, Deinen Weg zu finden, wenn Du Dich mir anvertrauen möchtest..."

    Die weiß gekleidete Gestalt fiel auf. Unter all den schwarz gewandeten Anhängern der Shirashai war ihre Anwesenheit beinahe ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit, das blendend weiß und unweigerlich, die Aufmerksamkeit des Auges auf sich zog. Auch Sharinoe blieb sie nicht verborgen, doch im Gegensatz zu den anderen Anwesenden spürte sie, daß sich hinter der weißen Kapuze noch mehr verbarg. Ein Herz, das auf der Suche nach etwas war und in dem etwas brannte, das sie aus der Ferne noch nicht zu bestimmen vermochte.
    Doch noch hielt sich die Hohepriesterin der Shirashai im Verborgenen und beobachtete das Wesen nur, dessen Wunsch es offenbar war, gesehen zu werden. Der Dienst an Shirashai war für diese Nacht schon lange vorbei und all jene, die sich noch hier aufhielten, waren gewöhnlicherweise in ihre persönliche Zwiesprache mit der Göttin der Nacht vertieft und hatten persönliche Anliegen. So war auch Sharinoes Aufgabe für diese Nacht beendet und sie verblieb im Hintergrund, falls einer der Betenden ihren Rat und ihre Führung ersuchen wollte. Nahezu unsichtbar war sie in ihrem schwarzen Kleid, das das dämmerige Licht zu verschlucken schien und nur ihre weiße Haut verriet den Ort, an dem sie sich aufhielt.

    Die Augen der Göttin blickten beinahe weich auf Brennan, wohl wissend wie treu er ihr ergeben war. Und Treue, die durch nichts erschüttert werden konnte und die der Belohnung bedurfte. En Lächeln zog über Shirashais vollen, verführerischen Mund, als sie von ihm zu dem Nachtelfen hinüber blickte und endlich erhob sie sich von ihrem Thron und schritt näher zu den Sterblichen. Beinahe sanft strich ihre Hand über die Wange des Nachtelfen, als sie vor ihm für einen Augenblick verharrte und in ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit, der nicht zu der Göttin der Nacht zu passen schien.


    "Mein armes, verirrtes Kind..."


    Die rauchfarbenen Augen richteten sich auf Brennan und das Lächeln kehrte zurück, wirkte beinahe intim, als ob es von einem geheimen Scherz her rührte, den beide miteinander teilten. Ruhig nahm sie seine Hand und legte die Rubine in seine Handfläche, bevor sie seine Finger darüber schloss.


    "... und ein armes, verirrtes Kind braucht jemanden, der auf es Acht gibt, nicht wahr?"


    Sie wandte sich ab und ließ ihren Blick durch den Altarraum gleiten. Ihre Stimme wurde lauter, verlor die Sanftheit, als sie sich zu einem machtvollen Klang erhob, der durch den ganzen Raum zu schweben schien und die Zuhörer umströmte.


    "Und so soll das Schicksal des Sicil i Undómê von nun an mit dem meines treuen Dieners Brennan Targo verbunden sein - auf daß er wieder auf den rechten Weg geführt werde und in den Armen seiner liebenden Mutter, der ewigen Nacht, Trost findet."