Joog, der ahnungslose Wächter, entließ Uera zögerlich aus ihrer Zelle. Kaum war sie weit genug herausgetreten, packte er die Handfesseln in ihrem Rücken und führte sie damit ab, wie man einen Hund an der Leine führte. Tief im Inneren der Yassalar brodelte der Hass und die Vorfreude auf die baldige Rache, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie durchquerten die Halle der Käfige, verließen sie durch eine südlich gelegene Tür, welche zu den von einander abgetrennten Räumlichkeiten führte, durch die Uera zu fliehen gedachte.
Der erste Raum diente der Vorbereitung der Kämpfer. In den zwei anschließenden Räumen hielten sich Wachen auf, dort standen Bänke und Tische und ein rußendes Feuer brannte in einem Kamin. Daran schloss sich schließlich die relativ großzügig bemessene Waffenkammer an, die bis an die Decke mit allerlei Waffen, Rüstungsteilen, Schilden, Wurfnetzen und Stricken, Ketten und allen erdenklichen Utensilien gefüllt war, die auch nur entfernt von Nutzen in der Arena sein könnten.
Uera hatte einen gewissen Überblick über diese Örtlichkeit, doch was jenseits der Waffenkammer lag, wusste sie nicht. Das feuchte Mauerwerk des alten Außenposten war an vielen Stellen schon so geschwächt, dass sich niemand mehr hineinwagte. Womöglich lag alles hinter der Waffenkammer in Schutt und Asche … vielleicht boten die Trümmer aber auch noch einen Ausweg. Darauf lief es hinaus. Diese Ungewissheit war die einzige Schwachstelle ihres Planes.
Wehrlos lies sie sich durch die Türe in das Wartezimmer der Wachen schieben und spürte augenblicklich, wie sich sechs Augenpaare auf sie richteten, die an ihr kleben blieben wie nasser Stoff. Vier davon gehörten zu schweigenden, stumpfsinnig vor sich hinstarrenden Gehilfen, die anderen beiden waren Wächter. Während sich einer der Wachmänner wieder einem Loch im Mauerwerk zuwandte und hinaus in die Arena spähte, schien der andere nicht besonders erfreut über Joogs Eigeninitiative zu sein.
„Heh, was fällt dir ein?“, wurde ihr nichtsahnender Handlanger angefahren und Endald, der Joog um mindestens einen Kopf überragte, kam ihnen mit seinem faulen Grinsen bedrohlich nahe. Er musterte die eisern schweigende Uera von Kopf bis Fuß und verschränkte die Arme vor der Brust. „Die ist doch noch gar nicht dran.“
„Ich, äh … “, krächzte Joog. Die Yassalar begann den Angstschweiß zu riechen, der sich in glitzernden Perlen auf seiner Stirn sammelte. Reiß dich zusammen, Trottel! „Ich dachte, ich … äh ... bringe sie schon mal rein. Damit es nachher schneller geht.“
„Ach so ist das! Sag das doch gleich!“ Endald lachte und legte lässig eine seiner tellergroßen Hände auf der Schulter seines Gegenübers ab. Dann stieß er den kleineren Mann beiseite, packte stattdessen Uera grob an den Schulter und zog sie daran in Richtung der Waffenkammer. „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich überlass' dir den ganzen Spaß alleine?“
Mit einem Fingerschnippen forderte er zwei der Gehilfen dazu auf, ihnen in den Vorbereitungsraum zu folgen.
In Ueras Kopf überschlugen sich die Gedanken. Verdammt. Endald - und die beiden anderen Kerle - würde sie nicht so einfach überwältigen können wie Joog. Endald war wesentlich gefährlicher, stärker und vor allem … intelligenter, auch wenn es ihr schwerfiel, dieses Attribut auf einen Menschen anzuwenden. Vor allem vertraute er der weißen Frau kein Stück.
Uera mimte die Schicksalsergebene, doch sobald sie die anderen Männer hinter sich gelassen hatten, suchte sie Blickkontakt zu dem Wächter. Ihr Gangbild wurde eine Spur weicher, sie bot der schweren Hand auf ihrer schmalen Schulter keinen Gegendruck und es mochte wie ein Zufall wirken, doch sie stolperte ein wenig und stieß dabei mit der Hüfte an den Hünen, der leicht verwirrt zu ihr hinabsah. Dann brummte er etwas unverständliches, räusperte er sich.
„Das übliche Zeug?“
Die Yassalar nickte, ohne den Blick aus seinen braunen Augen loszulassen und ein feines Lächeln umspielte ihren Mundwinkel. Der Mann drehte sich ohne eine besondere Regung um und ließ Uera alleine mit den zwei Stummen im Vorbereitungsraum zurück.
Ihr Gesicht verfinsterte sich abrupt, ihre Kehle schnürte sich zu und ihre Knie wollten weich werden. Ein Versuch. Nur ein Versuch. Dann stirbst du. Es überraschte sie selbst, doch statt Furcht, stieg das Gefühl von Gleichgültigkeit in ihr auf. Und wenn schon. Sie würde möglichst viele von ihnen mit sich in den Tod reißen. Dieser Gedanke spendete ihr tatsächlich einen gewissen Trost. Möge Zil'lails Auge heute gnädig auf sie gerichtet sein.
Endald war zurückgekehrt, und Uera begrüßte ihn mit einem schmeichlerischen Lächeln. Er legte das Rüstzeug bereit und bedeutete Uera sich herumzudrehen. Das Schloss, welches die Handfesseln zusammenhielt öffnete sich und das Metall fiel scheppernd zu Boden. Ruhig erwartete Uera, dass er ihr half, die Rüstsachen anzulegen. Wer nicht kooperierte, wurde ganz einfach ohne Rüstung hinausgeschickt. Niemand, der seine Sinne halbwegs beisammen hatte, würde sich an diesem Punkt widersetzen.
„Auf wen hast Du gewettet?“, fragte sie unschuldig, während sie in das lederne Oberteil ihrer Rüstung schlüpfte, die sie selbst vor einiger Zeit einer Söldnerin gestohlen hatte. Es war das einzige Teil in der ganzen Sammlung, das ihr passte.
Nachdem sie einige Atemzüge gezählt hatte, sah Uera ein, dass er nicht antworten wollte. „Doch nicht etwa auf die Echse?“, hakte sie nach und sie sah ihm an, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass Uera über den Ablauf des Abends Bescheid wusste.
„Doch. Und ich hoff' er poliert dir den Hintern.“, lachte Endald und Ueras Herz gefror zu einem Klumpen Eis.