Der Untergang

Eine neue Welt

Man schrieb das Jahr 552 auf Niel’Anor. Die Welt war von einem seit Jahrzehnten währenden Krieg zerrissen, der blutige Narben in das Land geschnitten hatte und der keinen der vier Kontinente verschonte. Kummer und Leid waren allgegenwärtig und es gab nur wenige Augenblicke des Friedens für die verzweifelte Bevölkerung. Es war die Zeit Narions, die Zeit großer Schlachten und endloser Kämpfe.

Da begab es sich, dass Eriadne einem ihrer treuesten Diener eine Vision sandte, denn die Göttin des Lichts ertrug es nicht mehr, Narions Werk tatenlos mitanzusehen. Sein Name war Fanur Mondlied und er war bereit dazu, dem Gott des Krieges zu trotzen und im Namen seiner Göttin ein Zeichen für den Frieden zu setzen.

Eriadne wies ihm den Weg zu einer blühenden Insel, von den Kriegen unberührt, fruchtbar und frei von der ewigen Gier nach Macht, die die Welt zerbrochen hatte. Die Insel trug den Namen Beleriar, die Leuchtende und sie sollte jenen Zuflucht bieten, die den Willen besaßen, ein neues Leben zu beginnen. Fanurs Auftrag lag deutlich vor ihm. Er würde eine Stadt zu Ehren seiner Göttin errichten. Einen Hort des Friedens, fern von Krieg und Schmerz, einen Platz, an dem Wissen gewahrt und Schönheit geschätzt würden.

Und so scharte der Priester jene um sich, die ihm dabei zur Seite stehen wollten, einen solchen Ort zu schaffen. Mit großen Schiffen stachen sie in See und segelten dem Mittelpunkt Niel’Anors entgegen, auf in eine Welt, die Freiheit und Frieden versprach.

Gemeinsam begaben sie sich an die Aufgabe, die Eriadne Fanur Mondlied erteilt hatte. Sie erbauten Nir’alenar, die Schöne, das Juwel. Ein Symbol des Friedens, ein Licht in der Dunkelheit, von der Niel’Anor überzogen war.

Viele Wesen folgten ihnen und halfen dabei, die Stadt entstehen zu lassen, die der Priester in seinen Träumen gesehen hatte. Und tatsächlich wurde Nir’alenar größer als alles, was sich die Stadtgründer jemals erhofft hatten.

Kunst und Wissen blühten. Schönheit erfüllte jeden Winkel und das Leben war gut und von Ruhe erfüllt. Auf der ganzen Insel wurden weitere Siedlungen von jenen gegründet, die Fanur folgten. Aus den Ruinen alter Reiche entstanden neue Städte und Leben wuchs auf der Leuchtenden.

Überall hegte man Liebe für Fanur Mondlied und Verehrung für Eriadne, deren schützende Hand den Krieg von Beleriar fernhielt. An ihrer Seite stand Liaril, die Sternenmutter, deren Kinder das alte Elfenreich Y’sarea bewohnten, das gemeinsam mit Nir’alenar das Herz von Beleriar bildete.

Der eifersüchtige Gott

Jahrhunderte vergingen und es schmerzte Narion, dass Beleriar seinem Zugriff entzogen war. Der Krieg auf Niel’Anor hatte geendet und ließ den Herren des Feuers rastlos und unruhig zurück. Sein Auge betrachtete das strahlende Werk Eriadnes, das ihn nun schon so lange ärgerte, voller Groll. Es verdarb seinen Triumph, war wie ein Stachel in seinem Fleisch, eine Erinnerung daran, dass sich auch Eriadne seiner Hand entzogen hatte.

Lange sann er darüber nach, wie er der Insel habhaft werden konnte, während Shirashai stets an seiner Seite blieb, um giftige Worte in sein Ohr zu träufeln und seinen Zorn auf ihre verhasste Schwester anzustacheln. Doch es sollte noch viel Zeit vergehen, bis sich seine Wut endlich ihren Weg brach und ihn zum Handeln brachte.

Es war der Tag, an dem ihm Shirashai Eriadnes größtes Geheimnis offenbarte. Die Existenz ihrer Tochter Eleria, die sie auf der Insel in der Obhut des Fanur Mondlied vor ihm verbarg.

Hass loderte in Narions Herzen auf und von Eifersucht verblendet hörte er endlich auf den Plan Shirashais, wie er Beleriar in seine Hand bringen konnte.

Der dunkle Priester

Und so betrat ein dunkler, charismatischer Mann die Stadt Nir’alenar und nistete sich in ihr ein wie eine Krankheit, die sich bald über ganz Beleriar ausbreiten sollte. Sein Name war Deron Arieth und er brachte seine Verbündeten mit sich, treue Diener des Narion, die die Stadt von ihnen heraus vergifteten.

Niemand bemerkte, wie sie langsam in die Köpfe der Bewohner Beleriars eindrangen und in Narions Namen alles versprachen, was ihr Herz begehrte. Sie appellierten an die niedersten Instinkte, förderten Gier und Hass und wiegelten einstige Freunde gegeneinander auf. Es begann schleichend. Erste Kämpfe störten den Frieden. Streit brach aus und eine Welle aus Zorn und Zerstörung zog plötzlich über die Insel.

Narions Macht über die Insel erstarkte mit den vergehenden Monaten immer weiter und bald wagten sich seine Anhänger aus dem Verborgenen hinaus und Deron Arieth trat auf den Stein des Redners in Nir’alenar und predigte offen in seinem Namen. Unaufhaltsam nahm der Wahnsinn seinen Lauf. Kunstwerke wurden zerstört und Bilder dem Feuer übereignet. Derons Reden säten Zwietracht, sie verdammten das bequeme Leben auf der Insel und jene, die unnützen Tand erschufen und sich ihrer Eitelkeit hingaben. Er spielte die unterschiedlichsten Parteien mühelos gegeneinander aus, nutzte Unterschiede in der Bevölkerung, um sie gegeneinander aufzubringen und und ihren Neid zu fördern.

Narion wusste nur zu gut, an welcher Stelle er Eriadne am schmerzhaftesten treffen würde und so trug er Sorge dafür, dass ihr großes Werk, ihre Glorifizierung des Friedens, Stück für Stück zerfiel. Es war ein weiteres Kapitel eines endlosen Streites zwischen dem Gott des Krieges und der Göttin der Heilkunst und diesmal wollte Narion Eriadne am Boden zerstört sehen, auf dass sie endlich seine Überlegenheit anerkennen musste.

Der Einfluss Liarils war seit dem Fall Y’sareas geschwächt. Ein Meisterstück, das Shirashais Einflüsterungen bei dem Schattenmagier Darandas vollbracht hatten und das Narion nun den Weg ebnete. Es war an der Zeit, diesen Streit endgültig zu entscheiden.

Fanur Mondlied war trotz seines elfischen Blutes alt geworden. Zu viele Tage hatte er zurückgezogen und in seine Meditation versunken verbracht und so dauerte es lange, bis das Ausmaß der Katastrophe in sein Bewusstsein vorgedrungen war. Nun musste er hilflos zusehen, wie seine Stadt unter den Einfluss des Deron Arieth geriet und zu einem Ort des Grauens wurde, an dem Gerechtigkeit und Güte von Willkür und Grausamkeit verdrängt worden waren.

Die Bewohner Beleriars hatten sich von Eriadne abgewandt und alles verraten, was die Leuchtende einst zu ihrer Größe geführt hatte. Die Kinder der Göttin hatten vergessen, was ihre Vorfahren einstmals an diesen Ort geführt hatte. Der alte Priester war schwach geworden. Er fand keinen Zugang mehr zu ihnen und seine Stimme verhallte ungehört.

Und so wandte sich Fanur Mondlied in seinem verzweifelten Gebet an seine Göttin. Eriadne lauschte seinen Worten und sie berührten das Herz der Verratenen, die sich voller Trauer von ihren Kindern abgewandt hatte. Eriadne wusste, dass man Liebe niemals erzwingen konnte, denn sie musste aus freien Stücken gegeben werden. Und so war es an den Bewohnern von Beleriar, eine Entscheidung zwischen Licht und Dunkelheit zu treffen.

Doch das Leid, das aus Fanurs Worten sprach und das sich auf den Gesichtern jener spiegelte, die von Narions Anhängern verfolgt wurden, ließ sie einen Entschluss fassen. Denn nicht all ihre Kinder hatten sich dem Gott des Feuers angeschlossen und ihre Mutter verraten. So betrat die Göttin des Lichts das Reich Salay’idan, wo sie einen folgenschweren Pakt mit der Mutter der Meere schloss. Auch Kireala und Selurian rief sie zu sich, um ihren Beistand zu erbitten. Denn Eriadne wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, den Einfluss Narions zu bannen.

Und es war eine große Macht nötig, um das Werk zu vollbringen, das getan werden musste.

Der Fluch der Göttin

So kam es, dass Eriadne am nächsten Tag selbst in der Stadt Nir’alenar, ihrer einstigen Hochburg erschien. Und sie war ein wunderbarer und doch schrecklicher Anblick, als sie von goldenem Licht umgeben und in ihrer übermenschlichen Größe dort über den Bewohnern schwebte, die auf der Straße zusammenliefen. Viele fielen vor der Erscheinung auf die Knie, doch Eriadne beachtete sie nicht. Sie forderte stattdessen Narion heraus und lockte ihn zu einem offenen Kampf in die Stadt hinab.

Der Gott des Krieges erschien tatsächlich und verhöhnte die Göttin, als er von einem schrecklichen, roten Glühen umgeben vom Himmel herabstieg und die Welt verdunkelte.

Und so kämpften die Götter gegeneinander und die Bewohner der Stadt lagen ängstlich auf den Knien, während sie beobachteten, wer als Sieger daraus hervorgehen würde. Nach einem Tag und einer Nacht stürmte Arion Falkenauge, ein Krieger aus einer der Adelsfamilien, die der Göttin treu geblieben waren, mit seinem Schwert auf den Gott des Krieges zu und vollbrachte es, Narion damit abzulenken. Arion musste für seine Heldentat das Leben lassen, als der Gott ihn wie ein lästiges Insekt abschüttelte. Doch sein Opfer verschaffte Eriadne die Möglichkeit, den Feuergott während seiner kurzen Unaufmerksamkeit in ein Gefängnis aus reinem Licht zu sperren und ihn darin von der Insel zu verbannen.

So verschwand Narion fluchend und schwor, dass er bald zurückkehren würde, um Rache für die erlittene Schmach zu üben. Deron Arieth, die Quelle des Übels, das die Stadt ergriffen hatte, blieb zurück und wurde von Eriadne in einen Wirbel reinen, weißen Lichtes getaucht, der ihn ohne Erinnerung an sein früheres Leben, nackt und verletzlich zurückließ.
Die Bewohner der Stadt fielen vor Eriadne auf die Knie und baten sie um Vergebung dafür, sie verraten zu haben, doch das Herz der Göttin war nicht zu erweichen. Sie stieg in den Himmel empor und nahm Fanur Mondlied mit sich. Dann beschwor sie die Wellen des Sternenmeeres, die hoch über der Insel zusammenschlugen und sie mit sich in die Tiefe rissen. Die Bewohner der Insel schrieen in Todesangst auf, als sie von den Wellen verschluckt wurden, doch die Wassermassen berührten sie nicht, als sich eine schützende Kuppel um die Insel schloss.
Denn der Pakt der Götter besagte, dass Beleriar unter den Wellen gefangen sein würde, die Bewohner der Insel jedoch am Leben bleiben würden. Dies war die Strafe für Eriadnes untreue Kinder und gleichsam ein Schutz vor der Wiederkehr Narions, dessen Macht unter den Wellen des Meeres geschwächt sein würde. Niemals wieder sollte sich seine Faust um die Insel schließen.

Fanur Mondenlied blieb an der Seite der Göttin in Dol’Shanor, dem Reich der Götter. Er sollte von nun an von dort über seine Stadt wachen, damit ihr niemals mehr ein solches Unheil geschehen würde. Eriadne hatte ein Herz für jene, die ihr treu geblieben waren und die Liebe zu ihrem Volk war selbst nach dem schändlichen Verrat nicht erloschen.

Für die Bewohner Beleriars bedeutete dies jedoch eines – sie würden die Insel niemals mehr verlassen können. Denn Eriadnes Fluch hatte bestimmt, dass all jene, die auf Beleriar geboren worden waren unter der Kuppel gefangen sein würden, bis der Tag kam, an dem ihre Schuld getilgt war.

Wiedergeburt

Nun kam die Zeit, in der die Bewohner sich wieder auf ihre Ursprünge besannen und mit dem Aufbau der zerstörten Insel begannen. Eleria Anuriel, die Tochter Eriadnes, wurde zur Herrin Beleriars und wachte von nun an über die Leuchtende.
So gelangte die Insel langsam wieder zu neuer Schönheit. Die Bewohner Beleriars fanden Wege des Handels mit anderen Bewohnern des Meeresbodens, denn schon bald entdeckten sie, dass diese die Insel durch Portale betreten und wieder verlassen konnten, wenngleich sich diese Freiheit nicht auf das Inselvolk erstreckte.
Nach drei Jahrhunderten ihrer Herrschaft ernannte Eleria einen Nachkommen des Arion Falkenauge, Aranil Falkenauge, zum Herren der Stadt und zog sich in ihrem gläsernen Turm zurück. Gläsern war er, um die Bewohner der Stadt daran zu erinnern, dass sie stets über sie wachte und in ihre Herzen blicken konnte.

Aranil führte den Aufbau fort und ist nun der Fürst der Stadt, die als Hauptstadt der Insel gilt. Dabei wird er von zehn Weisen beraten, die Eriadne und ihren Verbündeten treu ergeben sind.

Die Zeit der zweiten Blüte

Und dies ist das heutige Beleriar. Die Spuren des Krieges der Götter sind beinahe verwischt und der Aufbau beinahe abgeschlossen. Eleria Anuriel wacht über die Insel, auf der die Bevölkerung ihre Kinder wieder im Glauben an Eriadne erziehen und darauf hoffen, dass die Göttin des Lichts sie eines Tages erhören wird.

Trotzdem steht die Stadt unter einer ständigen Bedrohung, denn Narion hat seine Niederlage niemals verwunden und auch er besitzt noch immer seinen Einfluss. Der Kult des eisernen Schwertes, eine Vereinigung der treuen Anhänger des Narion, wurde nach dem Untergang gegründet und arbeitet aus dem Inneren der Insel heraus weiter daran, Eriadne zu schwächen, während die machthungrigen Yassalar sie von außen bedrohen und nur zu gerne die Kuppel zerstören und die Herrschaft übernehmen würden.

Außerdem existiert noch immer ein gutes Maß an Misstrauen unter den Völkern, denn die Zeit des Priesters und seines religiösen Wahnes ist nicht ohne Spuren an den Bewohnern Beleriars vorübergegangen.

Hier beginnt ein neues Zeitalter, dessen Geschichte erst noch geschrieben werden muss.