Beiträge von Silene Sana'Santaly

    Für einen kurzen, flachen Atemzug schien Ascan in der Luft zu stehen, auf dem höchsten Punkt einer Parabel zu verharren und Silene wurde sich bewusst, in welch erstaunlicher Höhe sie sich befanden. Der Blick der Valisar wurde erneut nach unten gezogen, wo sich Nir'alenar weit unter ihnen entfaltete wie eine riesenhafte Karte. Das steile Mittagslicht ließ kaum Raum für Schatten in der Stadt unter ihnen, ließ sie seltsam surreal wirken und die Häuser klein wie Spielzeug erscheinen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein Luftschiff von oben betrachten können, stellte sie fest und beobachtete das Gefährt, wie es lautlos wie eine Wolke dahinzog. Wie insignifikant und winzig alles erschien, wie kristallklar war die Luft, welche der Seherin einen weiten Ausblick gewährte, weit hinaus bis hinter die Stadtmauern.
    Es mochte die Valisar völlig kalt lassen, doch sie erkannte die Schönheit in diesem Anblick und vielleicht konnte man sogar von einer kühlen Art von Faszination sprechen, auch wenn sie ihr nicht den Atem raubte. Ebenso, wie sie den Flug nicht genoss und das Gefühl zu fliegen sie nicht berauschte, aber sie dennoch die Besonderheit dieser Erfahrung anerkennen konnte.
    Sie wusste, dass der Geflügelte keinerlei Interesse daran hatte, sie fallen zu lassen, doch die Vorstellung drängte sich ihr unweigerlich auf, verdeutlichte ihr erbarmungslos, was geschehen würde, wenn sie aus dieser Höhe stürzen würde … wie sie auf dem Pflaster zerschellen würde wie eine Porzellanfigur. Die Bilder ließen sie zwar kalt, doch sie spürte eine deutliche Aversion gegen sie.


    Kaum hatte Ascan zu Ende gesprochen, begriff Silene, dass sie den Aufstieg hinter sich gebracht hatten und den höchsten Punkt ihrer kurzen gemeinsamen Flugreise überschritten hatten. Doch auch wenn sie sich vorstellen konnte, was als nächstes geschah, so konnte sie nicht verhindern, dass sich angesichts des plötzliche Sturzes ihre Augen reflexartig verschlossen und sich die Schlinge ihrer Arme um Ascans Hals etwas zuzog.
    Der Sturzflug wandelte sich ein ein Gleiten, doch noch immer warf sich ihnen der Wind mit unbeschreiblicher Kraft entgegen, zerrte an den flatternden Stoffen ihrer Umhänge, presste ihre Körper aneinander und trug die Worte des Syrenia im selben Moment fort, in dem er sie ausgesprochen hatte. Silene zwang ihre Lider, sich ein Stück weit zu öffnen, damit sie sehen konnte, wo sie sich befanden und sie ihm eine akkurate Antwort geben konnte.
    Er behielt recht, es fiel Silene schwer zu atmen, wollte der Wind ihr doch die Atemluft sofort wieder nehmen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als den Kopf so weit zu drehen, dass sie gegen ihren eigenen Arm und Ascans Schulter atmen konnte, woraufhin der reißende Wind ihr Haar wild durcheinanderwarf.


    "Es ist das weiße, yelindea'sche Haus mit den grauen Dachschindeln.", sprach sie mit scharfer Stimme und spürte, wie der Wind auch ihr die Worte von den Lippen stahl und sie zu einem mühsamen, deutlich hörbaren Einatmen zwang. Ihr Haus war eindeutig zu erkennen. Er konnte es nicht übersehen und vor allem, er würde es nicht überhören können, denn die verwirbelte Luft würde ihnen bald erste Klangfetzen zutragen. Aus dem Winkeln ihrer verengten Augen warf sie einen Blick auf das ihnen mit rasender Geschwindigkeit näher kommende Künstelviertel.
    "Ihr werdet hören, wenn Ihr richtig seid."


    ---> weiter im Haus der Seherin

    Silene trat ins Licht, mit leicht wehendem Umhang an Ascan vorbei, der die seidigen Stoffbahnen, die den Eingang des Zeltes stets verhüllten, für sie zur Seite geschoben hatte. Die Luft, die nahezu unbewegt zwischen den Ständen hing, wirkte ungleich wärmer als das Innere des Zeltes, der Lärm des Markttreibens und das grelle Sonnenlicht machten es notwendig, einen Moment innezuhalten, damit sich die Sinne an diese Umgebung anpassen konnten.
    Die Hand der Seherin wollte sich heben, um ihre Augen ein wenig vor der Helligkeit schützen, doch im selben Moment spürte sie schon den festen Griff des Syrenia um ihr Handgelenk. Ihr Blick glitt für einen Moment über seine Züge, doch viel Zeit blieb ihr dafür nicht – in einer einzigen Bewegung hatte er ihren Arm um seinen Hals gelegt und sie angehoben. Ihre Füße verloren den Kontakt zur Straße und ehe sie sich versah, hatte Ascan den vorbeifahrenden Wagen erklommen und sich in die Lüfte erhoben.


    Nur schwerlich konnte man von Überraschung sprechen, die das erfrorene Herz der Seherin schneller schlagen ließ, doch etwas in ihrem Inneren verkrampfte sich ob der plötzlichen Bewegung und ein Schauer ging durch ihren Körper, der eine Gänsehaut auf ihren Armen erscheinen ließ. Sie befolgte seinen Rat und verschränkte ihre Hände fest ineinander, sodass ihre Arme einen weiten Ring um Ascans Hals schlossen.
    Ihr Körper war gespannt, was es Ascan sicherlich erleichterte, sie zu halten, doch dort, wo ihr kühler Leib den seinen berührte, musste ihre Kälte bald damit beginnen, auf unangenehme Weise in seine seidene Kleidung zu kriechen.


    Mit dem Eintauchen in die Lüfte über der Stadt war es, als bewegten sie sich in eine andere Welt. Ein sachter Wind, den man auf dem Pflaster stehend nicht spüren und nicht sehen konnte, verwirbelte die Luftmassen. Das lange, silberne Haar der Valisar nahm diesen Wind augenblicklich in sich auf, er strich es zur Seite, schmiegte es an die Schulter des Geflügelten und ließ es hinter ihnen wehen wie ein seidenes Tuch.
    Unter ihnen zogen die in der drückende Mittagshitze flirrenden Dächer rasch hinweg und Silene kam nicht umhin ihre Einschätzung bezüglich der Distanz zu korrigieren. Die Luftlinie zwischen den Stadtvierteln mussten in den Augen eines geflügelten Geschöpfes verschwindend gering sein.


    Ohne von Angst zu sprechen, war Silenes Blick nach unten gerichtet, auf die vorbeifliehenden Gebäude und Straßen unter ihnen, bemerkend, dass sie zunehmend an Höhe gewannen. Und nicht nur das, auch ihre Geschwindigkeit nahm stetig zu. Ein jedes Geräusch, das von der Stadt aufstegen wollte, verblasste im mächtigen Rauschen im dunklen Gefieder und dem fast schon scharf klingenden Flattern, das die Flügel bei jedem Schlag erzeugten. Schon nach kurzer Zeit konnte sie den Dessibar erkennen, meinte fast zu hören, wie sich sein Tosen in das Rascheln der schwarzen Federn mischte, die sie beide durch die Luft trugen.
    Auch wenn Ascans Flügelschläge schwer und kraftvoll waren, wirkte er wesentlich entspannter als zuvor. Er sprach von ihrem unvorhergesehenen Aufbruch und bat um Verzeihung. Silene gab ihm darauf nur eine stumme Antwort in Form eines schweigenden Nickens, das er wohl nur an seiner Schulter spüren konnte, da sein Blick stetig nach vorne gerichtet war. Von einem erhöhten Punkt zu starten, um sich von seinen Schwingen tragen zu lassen, entsprach seiner Natur und der konnten sich die Syreniae oftmals nur schwer entziehen. Silene hatte dieses Volk gut genug kennengelernt um zu wissen, welche Eigenheiten sich in ihren Köpfen verbergen konnten und der ununterdrückbare Freiheitssinn, der sie des öfteren zu Dummheiten verleitete, gehörte zweifelsohne dazu.
    Ascan sah für einen Moment zu ihr, die unfassbar geringe Distanz zwischen ihnen ließ den kurzen Blickkontakt der blauen und der stahlgrauen Augen fast greifbar werden, und es war beinahe, als stünde die Zeit für einen einzelnen Herzschlag still.
    "Euer Spott ist unangemessen.", antwortete Silene in den immer schneidender werdenden Wind und ließ den visuellen Kontakt zu ihm zerbrechen wie eine knisternd dünne Eisschicht. Sie sah hinab, sah den glitzernden Strom, der die Stadt zerteilte, näher kommen und spürte, wie der Wind auffrischte, eine salzige Note bekam. Silene verstärkte den eisernen Griff ihrer Hände sorgsam. "Ihr braucht Euch keine Sorgen um mich machen, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt."

    Ihre fest auf sein Gesicht gerichteten, ausdruckslosen Augen schienen die beabsichtigte Wirkung gehabt zu haben. Er hörte ihr genau zu, die Wogen seiner Empörung glätteten sich, erstarrten unter ihrem auskühlenden Blick zu einer Eisfläche.
    Die Skepsis in seiner Stimme und seiner hochgezogenen Augenbraue schien nicht besonders weit zu reichen, wenn sie die nachfolgende Anspielung richtig verstand. Dass Ascan zu ihrem gemeinsamen Zielort fliegen wollen würde, war ihr klar gewesen, doch wenn sie seinen Worten die richtige Bedeutung beimaß, wollte er sie mitnehmen, davontragen. Es wollte ihr kein anderer, logischer Grund einfallen, warum er über ihre Schwindelfreiheit besorgt sein könnte.
    Die Seherin hatte das über sein Gesicht fliehende Grinsen verfolgt, war sich für einen kurzen Moment unsicher, ob Ascan sich einen Scherz erlaubt hatte. Doch das Grinsen war verschwunden, es blieb ein offen lesbares Gesicht zurück und Silene sah kein Anzeichen dafür, dass es sich um einen Witz gehandelt hatte.
    Unabhängig davon, entgegnete das marmorne Valisargesicht ohnehin keine seiner Regungen, sondern blieb beängstigend leer und unbeteiligt.


    "Mein Haus liegt im Künstlerviertel. Wenige Straßen nördlich des Parks.", antwortete die Valisar und richtete sich auf, was ihr eine edle Form von Erhabenheit verlieh. Die Eisigkeit ihres Blickes drückte nicht viel aus, doch eines musste dem Syrenia klar sein: sie hatte seine Anspielung verstanden und sie verstand es als Zustimmung auf ihren Vorschlag. "Es ist sicherlich ein weiter Weg. Um meine Schwindelfreiheit ist es jedoch gut bestellt."


    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sich Silene von ihrem Platz an dem Tischchen, ging mit wenigen, fast schwebenden Schritten in den hinteren Bereich des Zeltes, fuhr mit einer Hand hinter einen zarten Vorhang und zog dort einen leichten, dunkelblauen Umhang hervor. Im Vorbeigehen an der Räucherschale benutzte sie das im Sand steckende, silberne Schäufelchen um die Kohle unter dem Sand zu ersticken. Dann ging sie mit den selben Schritten zurück zu dem Syrenia, legte sich ihren Umhang um und fasste ihn in die Augen.
    "Lasst uns keine Zeit verlieren.", forderte sie Ascan auf und schloss mit einem leisen Klicken die silberne Schließe ihres Umhangs, dann trat sie jedoch noch nahe an die Kerzen heran und hauchte deren Flammen mit ihrem eisigen Atem aus. Das Zelt verdunkelte sich schlagartig und alleine das bläuliche Schimmern, das von den Laternen ausging und das Licht, das durch den verschleierten Eingang drang, konnte ihnen den Weg hinaus leuchten.

    Silenes Blick flackerte hinauf in das Gestänge des Zeltes, das unter dem Druck seiner mächtigen Flügel aufstöhnte, während Ascans leises Lachen die Luft um sie herum unheilvoll vibrieren ließ. Die Valisar bemerkte, dass er drohte, ihr Eigentum zu beschädigen und es störte sie, wenn auch auf sehr pragmatische, sachliche Art.
    Er sprach auf gefasste Weise, doch als ihre Aufmerksamkeit zu ihm zurück kehrte, hatte er ihr sein Gesicht zugewandt und man musste keine Seherin sein, um den Anflug von Wahnsinn in diesem Anblick zu erkennen. In den weiten, hellen Augen waren seine Pupillen kaum mehr als zwei kleine, schwarze Punkte, zurückgedrängt von einem Ring aus muschelgrauen Strahlen.
    Noch immer flatterte seine dunkle, vor Schmerz triefende Erinnerung aufgescheucht in ihrem Kopf herum und sie löste sich nur zaghaft auf, wie der zähe Nebel eines Herbstmorgens. Ein schwacher Eindruck des Moders, dem Geruch der kalten, rauen Mauern verflocht sich in ihrem Kopf mit dem Weihrauchduft, doch das Augenmerk der Seherin lag in diesem Moment nicht auf dieser Sinnestäuschung, sondern vor allem darauf, zu analysieren, wie tief dieser Wahnsinn saß, der klar aus seinen Augen sprach.
    Die Schlussfolgerung, zu der sie nach wenigen Augenblicken fand, war so naheliegend, dass sie diese für einen Moment ignoriert hatte. Es war einfach. Die Enge seiner Erinnerung spiegelte sich in der Enge ihres Zeltes wieder. Wenn sie ihn an einen anderen Ort brachte … mochte es ihm womöglich leichter fallen, diese alten Bilder gehen zu lassen.
    Das Gestänge seufzte leise, als seine Flügel in ihre ursprüngliche Haltung zurückfanden, als wollte es ihre Gedankengänge bestätigen.


    Spannung lag in seiner Haltung und mit einer versteinerten Miene starrte er in ihre Augen, in das eisige Blau dieser beiden zugefrorenen, doch grundlosen Seen, umgeben vom Raureif ihrer weißen Wimpern.
    Nichts sah zurück. Kein Mitgefühl, kein Ärger, keine Sorge. Nichts. Diese leergefegten Augen mussten ein jedes fühlendes Wesen wohl irgendwann in den Wahnsinn treiben. Nichts schien dazu in der Lage zu sein, die Valisar irgendwie zu berühren oder gar aus der Fassung zu bringen. Ihr Gesicht zeigte die gleiche Ausdruckslosigkeit wie zu Beginn, als Ascan ihr Zelt betreten hatte und in ihrem Inneren herrschte die gleiche Stille.


    "Nein.", entgegnete sie eisig, auch wenn seine Worte keine Frage gebildet hatten, sondern mehr einer Aufforderung glichen. Es quälte sie nicht, sein Leid zu sehen, doch sie erkannte es als solches und es widersprach ihrem Kodex, ihm noch mehr desselben zuzufügen. Das würde sie nicht auf sich nehmen. Außerdem versprach dieses Unterfangen unter diesen Umständen nur wenig Erfolg.
    "Nicht hier, nicht jetzt. Es wäre… unvernünftig.", ergänzte sie und verließ den Platz schräg hinter dem Syrenia, kehrte an ihre ursprüngliche Position zurück, wobei sie den rechten Flügel des Syrenia kühl und leicht streifte. Ungerührt erwartete sie die mit Sicherheit unbehagliche Reaktion auf diese Berührung, während sich ihr Blick auf Ascans mühsam beherrschtes, kreidebleiches Antlitz legte.
    "Euch behagt die Enge nicht. Sie sperrt Euren Geist in einen Käfig aus schmerzvollen Erinnerungen, in welchem kein Raum bleibt für Gedanken an Ereike. Wenn Ihr es noch einmal versuchen wollt …"
    Sie unterbrach sich, um sich eine Strähne des silberweißen Haares aus dem blanken Gesicht zu streifen. Ihre Hände ließen sich auf der schwarzen Tischplatte nieder, auf welche sie sich leicht wie ein Windhauch stützte, sich etwas vorbeugte, um seinen Blick noch fester halten zu können.
    "... so möchte ich Euch einen anderen Ort dafür vorschlagen. Könnt Ihr Euch damit abfinden?"

    Was Silene sah, ähnelte jenen flüchtigen, oftmals bildreichen Momenten, kurz vor dem Hinübergleiten in den Schlaf, noch bevor sich wirkliche, klare Träume formen konnten. In fahlen Farbtönen gehaltene, unzusammenhängende Traumfetzen zogen an ihr vorüber, zeigten Geschehnisse, von denen Silene nicht sagen konnte, ob ihnen wahre Begebenheiten zugrunde lagen, oder sie lediglich Illusionen waren. Ascan begann zu erzählen und seine tiefe Stimme wob sich in die Bilder, flocht sich ein und wies Silene einen Weg. Sie folgte seinen Worten, ließ sich von ihnen das Bild malen, dass sie sehen musste. Der letzte Moment, in dem er Ereike gesehen hatte. Das staubige Grau des Morgens, das Flirren des ersten Lichtes durch ein Fenster … sie konnte es immer klarer ausmachen, auch wenn es ein ermüdeter, trüber Blick war, in dem sie den gestrigen Morgen erblickte.


    Ihre Fingerspitzen glitten allmählich von einer Feder zur nächsten, über ihre schmale Außenfahne, die Erhebung des Kiels, über die breitere Innenfahne schließlich zur angrenzenden Feder. Es klang wie Seidenstoff, der über raues Papier gezogen wurde. Ein Zittern ging durch das Bild, so wie sich Wellen um den Punkt kräuselten, an dem man einen Stein ins Wasser warf. Er verlor das Bild und mit ihm auch Silene, die versuchte, sich nicht aus der Erinnerung verdrängen zu lassen. Ein Schleier aus Wut, aus Verzweiflung überschattete die Szenerie, erstickte das bleiche Morgenlicht.
    Im selben Moment, in dem Ascan das Knarren erwähnte, konnte Silene für den Bruchteil einer Sekunde einen leichten Kinderfuß sehen, der sich sachte auf eine verwitterte Holzdiele setzte. Ihre Silhouette war schmalschultrig und im geflochtenen Haar an ihrem Hinterkopf meinte Silene tatsächlich, eine schwarze Feder stecken zu sehen, doch im selben Moment, in dem ihr Fuß auf dem Boden aufsetzte und die Seherin ihren Blick auf das Gesicht des Mädchens richten wollte, glitten Ascans Gedanken davon.
    Reines Chaos loderte auf, verschlang den Dachboden gierig, zerriss die Gedankengewebe mit seinen Krallen und formte daraus eine gänzlich andere Erinnerung, voller … Stein, Mauern, Zerfall, voller Schmerz. Schmerzen waren der Valisar nicht fremd, diese Empfindung war eine der wenigen, die sie besaß und sie erkannte sein gleißend rotes Glühen, wenn sie es in den Fühlenden sah. Und sie sah Wahn, der begann alles völlig willkürlich zu verformen.
    Silene vernahm Ascans Keuchen, spürte den erstickten Schrei in ihm aufsteigen und riss sich von diesem wirren, grotesken Durcheinander los. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, wie der Syrenia tiefer über die Stuhllehne gesunken war, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Silenes Gesicht zeigte eine Falte der Anstrengung zwischen den anmutig geschwungenen Brauen, während ihre Hand den Kontakt zu seinem Gefieder verlor und ohne einen festen Griff an ihre Seite sank.


    "Ascan!", erscholl ihre Stimme bestimmt und streng hinter ihm und klar wie eine Glasscherbe schnitt sie die weihrauchgeschwängerte Luft. Er musste zur Klarheit zurückfinden, auch wenn sie ungreifbar wirkte und sie musste sicherstellen, dass er im Hier und Jetzt angekommen war. Anders als sein Name, der in ihrem Mund zu einem Glassplitter geworden war, klangen ihre nächsten Worte geradezu sanft. "Geht nicht an diesen Ort."

    Vor Silenes Augen entfaltete sich sein nachtschwarzes Gefieder, langsam, behutsam. Die kurzen, geraden Schulterfedern bewegten sich nur schwach, dort wo sie nahtlos in weichglänzende Flügeldecken übergingen, doch unter ihnen fächerten sich die viel längeren Arm- und Handschwingen mit einem reibenden Geräusch weit auf. Eine einzige, fließende Bewegung war es, die jede der dunklen Federn an ihren angedachten Platz brachte, während ihre Spitzen eine anmutig geschwungene Linie verfolgten und eine jede durch das Licht aus den Laternen einen bläulichen Schimmer erhielt.
    Es schien Silene als füllten seine Flügel ihr gesamtes Zelt aus, mit ihrer Dunkelheit wie mit der Kraft, die sie ausstrahlten. Sie konnte und wollte sich diesem prachtvollen Eindruck nicht verschließen, musste die Perfektion dieser Form und deren Proportionen mit ihren Blicken messen und die unbeschreibliche Ästhetik anerkennen. Doch niemals erreichten die Flügel ihre natürliche Spannweite, im Gegenteil, die Spitzen seiner Flügel berührten bald die Außenwände ihres Zeltes, noch bevor sich alle Federn vollständig zeigen konnten.
    Die Angespanntheit des Syrenia lag fast greifbar in der Luft und hinter ihm stehend, konnte die Seherin sie in jedem Detail des Umrisses seines Oberkörpers sehen. Er sagte zwar, er sei sich sicher, doch die Valisar mochte sich seinem Urteil nicht anschließen. Sie wusste, wie sehr die Enge den Syreniae zu schaffen machte und sie ahnte, dass es Dinge gab, die dem Geflügelten schwer auf dem Herzen lasteten, ganz unabhängig von dem vermissten Mädchen.


    Es versprach nichts Gutes, aber sie machte den letzten Schritt, der sie so nahe an ihn heranbrachte, dass sie nur noch ihre Hand heben musste, wo sie für einen Moment über den Federn schwebte, ohne sie wirklich zu berühren. Das Pochen ihres erfrorenen Herzens lag in ihren Ohren, gleichmütig und unbeschleunigt. Ihr sehendes Auge wollte sich bereitwillig und weit öffnen, um jedes Bild empfangen zu können, das sie dem Mädchen näher brachte.
    Ein tiefer Atemzug, ihre Hand senkte sich und behutsam, aber kaum zögerlich strich ihre kühle Hand über das glatte Gefieder, in der Richtung, die ihr die Federn vorgaben und ohne diese zu dabei bewegen. Sie schloss die Augen, atmete ruhig und öffnete sich den Bildern, die sie erwartete. Unter ihren Fingerkuppen fühlten sich die langen Armfedern mit ihren starken Kielen unnachgiebig und doch flexibel an, geschaffen dafür, sich frei nach dem Wind richten zu können. Sollte sie den Ort ausfindig machen können, an dem sich Ereike befand, würden ihn diese Schwingen rasch an sein Ziel tragen.


    "Ihr wisst, was zu tun ist, Ascan.", sagte die Seherin leise und ihre Stimme wurde dabei von der Seite an ihn herangetragen. Dann verstummte sie und überließ ihr Zelt der Stimme des Syrenia, die dieses sicherlich so mühelos vereinnahmen würde, wie zuvor.

    Der kalte Atem der Seherin strömte ruhig und gleichmäßig. Mit jeder Sekunde hatte sich seine Hand fester um ihre geschlossen, hatte aus der eher flüchtigen Berührung einen festen Griff gemacht. Die Seherin erwiderte den Druck kaum, würde er doch nur dazu beitragen, die Kälte ihrer Haut schneller auf die des Warmblütigen zu übertragen. Als er es bemerkte, ließ sie seine Hand widerstandslos gehen. Der flüchtige Hauch von Wärme auf ihren weißen Fingern war rasch verdampft.


    Er war blass, bemerkte Silene beim Blick in seine ebenmäßigen Züge, was ihm zusammen mit seiner entschlossenen Miene im bläulichen Licht ihres Zeltes einen unwirklichen Ausdruck verlieh, als bestünde seine Haut aus feinem, glatten Marmor, was seine unrasierten Wangen im Kontrast dazu rau wie Sandpapier wirken lies.
    Er verbarg es gut, doch Silene wusste, dass sich sein Kopf damit beschäftigte, was Silene gesehen haben musste, als sie so tief in seinen Erinnerungen gegraben hatte. Selbstverständlich waren die Bilder an Silene vorbeigezogen ohne dabei eine Spur von Emotion zu hinterlassen. Sie war alleine beseelt von der Überzeugung, damit eine Aufgabe zu erfüllen - doch das war etwas, das sich den Fühlenden so sehr zu entziehen schien, wie es Silene für immer fremd bleiben musste, wie sie fühlten.


    Silene nickte zu seiner Bitte um Verzeihung stumm, zeigte sich verständnisvoll. Sie konnte es ihm nachsehen, seine Zweifel auf Basis der zugrundeliegenden Umstände verstehen, doch seine Worte vermittelten ihr auch den Eindruck, dass er etwas anderes erwartet hatte. Sie zog ein tröstliches Lächeln in Erwägung, wies es dann jedoch entschlossen ab. Der Syrenia wirkte so beherrscht, dass sich Silene im Stillen fragte, was er so angestrengt beherrschen musste. Doch was es auch war, keines der falschen Valisarlächeln würde ihm dabei helfen, diese Fassung aufrecht zu erhalten.


    Er bestätigte ihr, dass seine Zusage noch immer galt.
    "Und so gilt die meine.", entgegnete Silene und während sie langsamen Schrittes um ihn herumging, ihn dabei nicht aus dem Blick ließ, zog auch ein kühler Luftzug hinter ihr her. Das Kerzenlicht erzitterte, fing sich im stählernen Grau seiner Augen, die nichts als die schwarze Fläche vor ihm anstarrten. Silene verharrte mitten in der Bewegung. Es war kein Gefühl, das sie so plötzlich in der Brust spürte, lediglich ein schwaches Pochen ihres Instinktes, tief verborgen unter einer undurchdringlichen Eisschicht. Sie wusste diese Ahnung nicht genau einzuordnen, doch sie legte ihr eine Frage auf die Zunge. In der Stimme der Seherin lag ein tiefgründiges Schwingen, als sie im Rücken des Geflügelten erklang.
    "Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr dieser Anstrengung jetzt und hier gewachsen seid?"

    Zwischen ihren eisigen Händen und der des Syrenia gab es nur einen Hauch einer Berührung, doch mehr bedarf es nicht, um die Verbindung zu schließen. Für einen unsäglich langen Moment sah Silene nichts. Doch dann, mit der selben Verlässlichkeit mit der die Flut nach der Ebbe zurückkehrte, begann es.
    In der Dunkelheit hinter Silenes Augen begannen Nebel aufzusteigen, Nebel, die sich unstet wabernd und fließend verflochten und die dazu einluden, sich in ihnen zu verlieren, doch Silene wusste, nach was sie zu suchen hatte. Nach seinem Namen. Doch nicht nur das … sie sollte den Namen erfahren, den ihm seine Eltern vermacht hatten. Aus dem Dunst materialisierten sich Bilder, zogen vorüber, lösten sich flüchtig auf, bevor sie deutlicher werden konnten. Suchend streckte sich Silenes Geist, tastete sich tiefer vor.
    Und wieder war es der Eindruck von Wind, der sie empfing, der eines strengen, salzigen Windes, der nichts mit dem gemeinsam hatte, der fern der Küsten freundlich über Wiesen und Wälder strich. Eine Brise, in die man sich hineinlehnen musste, um nicht umgerissen zu werden. Wellen, so gleichmäßig wie das Schlagen eines jungen Herzens. Er musste eine lange Zeit in der Nähe des Meeres verbracht haben, denn es haftete so vielen seiner Erinnerungen an, klebte an ihnen wie meeresfeuchter Sand an nackten Füßen.
    Silene sah noch einige weitere, flüchtige Eindrücke, doch nichts brachte eine Antwort auf seine Frage. Sie wusste, dass sie tiefer danach graben musste. Mit so viel Vorsicht, wie sie nur aufbringen konnte, löste sie nach und nach die Fesseln, die sie ihrem sechsten Sinn auferlegt hatte und ließ ihm freien Lauf. Sie würde sehen, was sie sehen musste und sie durfte sich nicht zurückhalten, um weiter voranschreiten zu können.


    Langsam, aber immer deutlicher tauchte schließlich eine alte Erinnerung auf, ein blasser Schimmer nur, unscharf, wie ein Traum an den man sich im Morgengrauen nur halb erinnern konnte. Lichtdurchflutete Szenen drängten sich an ihr Auge, doch Silene konzentrierte sich gänzlich auf den Klang dieser Bilder, denn genau dort vermutete sie eine Antwort. Sie sah, wie sich lächelnde Lippen teilten, ein paar Worte formten, die im ersten Moment zu leise waren und kaum Sinn ergaben. Als sie zum zweiten Mal erklangen, getragen von einer liebevollen, warmen und melodischen Frauenstimme, die jeden Satz wie ein Lied sang, erschloss sich Silene deren Sinn. Sie erkannte die Sprache der Syreniae in ihnen, doch auch, wenn sie ihren Inhalt verstand, zählten die vielen anderen Worte nicht. Es waren lediglich zwei, die sie mit in die Welt außerhalb des Nebels nahm.
    Jemand hatte ihn gerufen, beim Namen genannt.


    Mit einem scharfen, ungewöhnlich hörbaren Aufatmen schlug die Seherin unvermittelt die Augen auf und sie fanden sogleich das Gesicht des Syrenia, auch wenn sie zunächst ohne einen festen Blick wirkten. Silenes Stimme besaß rein gar nichts von der Lieblichkeit und Wärme, die sie noch in ihren Ohren spürte. Im Gegenteil klang sie so glatt und dunkel wie schwarzes Glas, als sie den Namen sprach, den sie vernommen hatte.
    "Ascan.", sagte sie und der Name floss geschmeidig über ihre Lippen, auch wenn er durch ihre kalte Stimme eine scharfe Kante verliehen bekam. "Ascan Ypios."

    Silene beobachtete ihn eindringlich. Sie glaubte fast, die sich kreuzenden Gedankenstränge hinter seiner Stirn sehen zu können und wie er sich durch sie hindurchwand. Da er seinen Blick dabei nicht von ihr abwandte, sah sie deutlich, dass das Lächeln auf seinen Lippen seine Augen nie erreichte, bevor es wieder verlosch.
    Er wollte also einen Beweis sehen. Ein nachvollziehbarer Wunsch und doch war Silene für einen Augenblick entschlossen, ihm diesen zu verwehren. Nach all den Jahren war sie es gewohnt, herausgefordert und in Frage gestellt zu werden, doch sie war kein dressiertes Tier, welches auf Kommando seine einstudierten Kunststücke für jeden vollbrachte, der sie sehen wollte.
    Der Syrenia kam ihr näher, so nahe, dass es nun an ihr war, zu ihm aufzusehen. Er überwand damit eine unsichtbare Grenze, die sich eng um die Seherin zog und hinter welcher ihre Kälte so spürbar war, wie der frische Wind an einem Wintermorgen. Gleichzeitig war die Wärme, die sein Körper abstrahlte stark genug, um die Spitzen ihrer feinen Haare in einen Hauch von Bewegung zu versetzen.


    Er hatte sie in eine ausweglose Situation gebracht. Wenn sie ihm eine Antwort schuldig blieb, würde sie nicht nur ihre Glaubwürdigkeit vor ihm verlieren – was ihr gleich gewesen wäre, denn um ihn ging es in diesem Fall nicht – sondern sie würde mit ihm die Möglichkeit verlieren, das Kind aufzuspüren und damit eine Schuld auf sich laden, die sich mit ihren starren Lebensregeln nicht vereinbaren ließ.
    Er bot ihr die Fläche seiner unverletzten Hand dar, warm und lebendig. Die bläulichen Lippen der Gefühllosen zuckten kurz und es war, als wollte sich tatsächlich ein Lächeln auf ihnen formen, doch stattdessen waren es Worte, die klirrend und klar wie Schmelzwasser von ihnen abperlten. Sie hatte entschieden.
    "So soll es sein.", sprach sie leise, hörte aufmerksam darauf, wie er seine Frage ausformulierte, wie er jene dunkle, tiefe Stimme dazu verwendete und ließ ihre Gedanken davon leiten.
    Lautlos und kontrolliert anmutsvoll erhoben sich ihre eigenen Hände und während ihre rechte seine dargebotene Hand von unten auffing, legte sich die andere in die warme Handfläche, blieb dort leicht und luftig wie frisch gefallener Schnee liegen. "Werdet ruhig. Schließt Eure Augen, wenn es Euch dabei hilft."
    Zum ersten Mal seit er das Zelt betreten hatte, brach sie bewusst den Blickkontakt zu ihm, schloss ihre lang bewimperten Augen gänzlich und streckte langsam ihren anderen Sinn nach dem Syrenia aus, während sich ihr Bewusstsein tief in sie selbst zurückfallen ließ und etwas anderem, ungleich mächtigerem Platz machte. Die Seherin war zu einer Statue mit einer maskenhaften, unberührten Miene erstarrt und kein Indiz verriet, was hinter der makellosen, weißen Stirn vor sich gehen mochte.

    Unbewegt wie eine Marmorstatue sah Silene aus ihren Kristallaugen auf ihn hinab. Nur das regelmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbs verflüchtigte die Illusion der Leblosigkeit und verriet, dass sie ein lebendiges Geschöpf war. Seine wohlklingende Stimme verlieh dem sonst so kalten Klang ihres Namens einen interessanten Effekt, doch vor allem erkannte Silene in ihr einen lauernden, gefährlichen Ausdruck. Er ängstigte sie nicht, denn wie hätte er das können, aber er löste einen reflexartigen Mechanismus aus, der auch in einer Valisar vorhanden war: Vorsicht.
    So wie er sie ins Auge fasste und wachsam auf eine Antwort wartete, musste sich hinter seiner Frage mehr verbergen. Eine Frage hinter einer Frage … es erschien Silene schon immer, als hegten die fühlenden Geschöpfe dieser Welt eine besondere Vorliebe für solche Uneindeutigkeiten.
    Ihr Geist begann zu kalkulieren, doch das leise Rauschen der Federn hatte ihr inneres Auge weit geöffnet, jenes Auge, das sehen konnte, was allen anderen verborgen blieb. Das Geräusch schwemmte einige Bilder heran und Silene horchte innerlich auf, hielt die Bilder für einen Moment fest, bevor sie diese wieder gehen lassen musste. Es waren seine Erinnerungen, diese Dinge, die er für sich behalten wollte, die sich ihrem Auge jedoch so aufdrängten, dass sie es nicht davor verschließen konnte.
    Wind, der an weißem Seidenstoff zerrte. Wehendes, weißes Haar ... schäumende Gischt auf Felsen … und zwischen all dem Gestein … kleine, zerbrochene Muschelhälften, eine jede einzelne in Form eines weißen Flügels ...


    Das Kerzenlicht brach sich tausendfach in ihren Kristallaugen, die noch immer keinen Ausdruck in sich trugen, jedoch noch etwas leerer wirkten als zuvor. Ihr Kopf neigte sich zu einem schwachen Nicken, doch ihr Blick verlor den seinen nicht. Ich sehe, dass Ihr mir nicht traut.
    "Seit Jahrzehnten ist dies der Ort, an dem meine Fähigkeiten am meisten benötigt werden. Meine Weise ist dabei die beste, die einer Valisar durch Minarils Segen ermöglicht wird.", antwortete sie wahrheitsgemäß in die Stille hinein und legte keine der vielen falschen Emotionen, die ihr zu diesen Worten einfallen wollten, in ihre schneidend kalte Stimme.


    Sie würde auch dem Syrenia ihr Auge leihen, wie sie es so vielen zuvor geliehen hatte. Es war was sie tat, was sie vermochte, was ihrem Leben den Hauch einer Sinnhaftigkeit verlieh. Sie würde für ihn auf eine Art und Weise nach Ereike suchen, die niemandem sonst möglich war. Er war der einzige, der dem noch im Weg stand. Silene suchte in seinem angespannten Gesicht nach einer Reaktion auf ihre Worte, während sie noch einmal die Stimme erhob. "Wenn es etwas gibt, dass Ihr mich fragen wollt, so fragt."

    Vielen mochte jegliche Berührung mit der kalten Haut der Valisar unangenehm sein, selbst wenn es nur die flüchtige, leichte Berührung ihrer Hand war, doch was die meisten noch mehr scheuten, war der Blick in ihren Kopf und noch mehr, der Blick in ihr Herz. Selbst wenn es der Grund war, warum ihr Zelt betreten wurde, fiel es doch den meisten schwer, ihren Blick zuzulassen.
    Dass die Valisar an dem, was sie sah, nicht teilnehmen konnte, selbst wenn sie gewollt hätte, war die einzige Erleichterung, die sie den Fühlenden dabei versprechen konnte. Es war ihr nicht vergönnt, sich zu freuen, doch genau so wenig war es ihr möglich, heimtückische Gedanken zu hegen. Sie würde niemals über etwas, das sie aus den verworrenen Schicksalsfäden las, lachen und niemals weinen können, niemals in einer Form teilnehmen können, die fühlende Wesen begreifen konnten.


    In seinem Gesicht konnte gelesen werden, wie in einem offenen Buch und was Silene dort sah war die Reaktion, mit der sie fest gerechnet hatte. Den Syreniae bedeuteten ihre Federn, ihre Flügel so viel ... sie zu berühren war wenigen Geschöpfen in ihrem Leben vorbehalten … er schien zu hadern, sich zu sträuben, doch letztlich nickte er, zeigte sich einverstanden. Denn wie auch er begriffen haben musste, waren Silenes Berührungen letztlich nur die eines gefühllosen Wesens, völlig unbedeutend und zudem ungesehen, etwas, das man für das Wohl eines Kindes über sich ergehen lassen konnte. Er schien in dieser Hinsicht jene Prioritäten zu setzen, die Silene erwartet hatte, die sie verstehen konnte, auch wenn sie weder seine Sorge, noch sein Sträuben nachempfinden konnte.
    Die Seherin nickte zu seinen Worten, sammelte ihre Gedanken und richtete ihre analytisch arbeitenden Sinne gänzlich auf den geflügelten Mann vor ihr, der ihrem durchdringenden Blick mit erstaunlicher Fassung standhielt. "Ich werde alles tun, was mir möglich ist. Doch der Erfolg dieses Unterfangens wird auch von Euch mitbestimmt. Wenn wir beginnen, müsst Ihr Euch tief konzentrieren. Denkt an die die letzte gemeinsame Erinnerung mit Ereike. Beschreibt mir, was geschehen ist. Fühlt, was geschehen ist. Jedes noch so kleine Detail.", sprach die Valisar kühl und langsam, wissend, dass sie von Gefühlen sprach, einem Konzept dass ihr fremd war. Eine Diskrepanz.


    Sie schloss Augen mit den geisterhaften, weißen Wimpern für einen Moment, ehe sie wieder zu ihm aufsah. "Die Feder entstammt Eurer linken Schwinge?", fragte sie und wartete darauf, dass er eine Antwort gab, während sie sich unendlich elegant erhob. Mit dem Tischchen zwischen ihnen, waren seine Schwingen nicht in Silenes direkter Reichweite, sodass sie ihm näher kommen musste, als zuvor, gar um ihn herumgehen musste um seinen Flügel erreichen zu können. Ihr war jedoch schon in frühester Kindheit Rücksicht und Achtsamkeit anerzogen worden, was einer Valisar wohl nur eingeschränkt möglich war, aber ein Maß erreichen konnte, welches das vieler Fühlender bei weitem überschritt. So wartete sie ruhig ab, ob er sie gewähren ließ.

    Die ungewöhnliche Art, auf die er sich setzte, bewirkte, dass die Valisar für einen Moment an Jahre denken musste, die lange zurück lagen. Natürlich. Silene bemerkte ihre eigene Nachlässigkeit. Die Sitzgelegenheiten in dieser Stadt, mit ihren Rücken- und Armlehnen waren nicht auf die Belange des geflügelten Volkes ausgerichtet, genau so wenig wie die schmalen Türbögen, die teils viel zu niedrigen Decken, die beengten Räumlichkeiten, zu denen zweifelsohne auch ihr Zelt gehörte. Somit war es gewiss kein Umfeld, in dem sich ein Geflügelter wohlfühlen würde, was Silene zwar ungerührt bemerkte, sich aber eine gedankliche Notiz machte, dies berücksichtigen zu müssen.


    Still maß die Seherin den Syrenia für einen Atemzug, was das Zelt in eine unheimliche Stille tauchte. Er wirkte nicht unbedingt wie jemand, der unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten hatte, doch auf der anderen Seite mochte nicht jeder nach außen tragen, wie vermögend er war. Zudem sprachen der Nachdruck in seiner Stimme und die unbewegte Miene für sich.
    Aufmerksam verfolgte sie die Bewegung, die durch das Gefieder wanderte, als er eine Schwinge auffächerte und die schwarzen Federn sich etwas spreizten. Die langen, dunklen Federn seiner Handschwinge berührten fast die Außenwand ihres Zeltes und doch hatte der Flügel seine Spannweite nicht annähernd erreicht. Das Geräusch der aneinander reibenden Federn ließ Silene die Macht des Windes erahnen, der diese Flügel in die Höhe ziehen konnte. Vertieft in den Anblick des Flügels, huschte ein undeutliches Bild an ihrem inneren Auge vorbei, hinterließ dort in der nebelhaften Leere einen flüchtigen Deut von Farbe.
    Rasch richtete sich Silenes Blick wieder auf die grauen Augen ihres Gegenübers und in ihm lag ein frostiger Glanz, der noch vor wenigen Augenblicken nicht sichtbar gewesen war. Kein Zweifel, eine Feder versprach eine gute Verbindung. Wenn er sich in sich selbst versenken konnte, unabgelenkt von seiner eigenen Sorge und Angst an die entscheidenden Momente denken konnte, würden die Bilder mit Leichtigkeit kommen.


    "Schwer bedeutet nicht mehr, als dass es schwierig wird. Für Euch möglicherweise noch mehr, als für mich.", kommentierte sie schließlich sachlich und ohne dabei mit der Wimper zu zucken. "Normalerweise würde ich einen Fragenden bitten, mir seine Hand zu reichen, um eine Verbindung zu erschaffen.", erklärte die Valisar und ihre eigene linke Hand erhob sich, deutete leicht auf die in der Verschränkung der Arme verborgenen Hände ihres Gegenübers, wovon eine zudem noch verbunden war. Ein Zeichen womöglich? Dann bewegte sich ihre Hand weiter, bis ihre langen, weißen Finger in einer anmutigen Geste auf die zusammengefalteten Flügel hinter seinem Rücken zeigten. "Angesichts der Tatsachen wäre es für diese Suche jedoch weitaus hilfreicher, wenn Ihr mit erlaubt, Euer Gefieder zu berühren."
    Noch immer sah die Valisar geradeaus in das edle Gesicht des Syrenia, eigenartig und ohne einen deutbaren Ausdruck, aber mit einer Tiefe, die man im Blick eines gefühllosen Wesens nicht erwarten würde.

    Er schlug die Kapuze zurück und es waren harte Züge, die sich Silenes Augen offenbarten, die sie genauestens studierte, als er sich erklärte. Die Seherin bemerkte wohl, dass er mehr Worte sprach, als es bedurft hätte, um ihre Frage zu beantworten. Es mochte ihm wichtig sein, doch ob seine Belange in seinem Kopf bleiben würden, oder sie einen Blick auf sie erhalten würde, war weder seine, noch ihre Entscheidung. Die blasse Narbe, die seine linke Wange schnitt, wollte bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch Silene bündelte diese stattdessen auf die Worte des geflügelten Mannes. Sie konnte Wünsche respektieren.


    Die Valisar war eine Meisterin der Beobachtung, sie erkannte gespielte Emotionen, denn das war es, was sie sah, wenn sie in einen Spiegel blickte - doch die Sorge, welche den flüchtigen Widerwillen auf dem Gesicht des Syrenia verdrängte, war echt. Ruhig ließ sie ihn zu Ende kommen, seine Worte sprechen und seine klangvolle Stimme in den Raum entlassen, den sie mühelos ausfüllte. Sie verstand.
    Die Schärfe, die Ungeduld und auch die Bedrohlichkeit in seiner Stimme entgingen ihr selbstverständlich nicht, sie nahm sie zu Kenntnis, ordnete sie ein, doch sie berührten sie nicht. Gleichzeitig war dort eine gewisse Bedrücktheit, die aus seiner ausdrucksstarken Stimme herausklang und sie glaubte ihm ohne Zweifel, dass der Besuch ihres Zeltes in seinen Augen die letzte Chance darstellen musste.


    "Die Möglichkeit besteht.", antwortete sie und sie wies auf den Stuhl, auf dessen Lehne bereits seine Hand Platz genommen hatte. Sie sprach die Wahrheit, doch nichts war in ihrer tonlosen Stimme, an dem man es hätte festmachen können. Natürlich kamen hin und wieder Wesen zu ihr, die jemanden vermissten, doch meist waren dann schon Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte ins Land gegangen, seit sie diesen jemanden verloren hatten. Oftmals blieben der Seherin nur wenige, schwache Anhaltspunkte, nur ungenaue, verblasste Erinnerungen, die ihr sehendes Auge führen konnten und meist fehlte es an dem notwendigen Vertrauen des Fragenden, dass ausgerechnet diese Valisar ihren Vermissten wiederfinden konnte. Vertrauen war etwas, dass die Seherin oftmals nur schwer erwerben konnte und sie sah klar und deutlich, dass es ihrem Gegenüber noch daran mangelte. "Ich verstehe, dass die Zeit drängt. Doch bitte, setzt Euch."


    Ohne darauf zu achten, ob sich der Geflügelte auch setzte, ließ sich Silene zurück auf ihren Stuhl sinken, strich eine Strähne des Silberhaars zurück hinter ihre Schulter und heftete den Blick fest und kalt, wie Frost auf einer Glasscheibe, auf das Antlitz des Syrenia. Wenn er das Mädchen finden wollte, musste er sich sammeln, sich konzentrieren und der Seherin die Hinweise geben, die sie brauchte, um ihre Spur aufnehmen zu können.
    "Ich will ehrlich mit Euch sein. Es wird schwer, ihren genauen Aufenthaltsort zu bestimmen. Doch Ihr sagtet, sie trägt etwas bei sich, dass Euch gehört … was ist es?"

    Die Zeit verging wie an jedem Tag in Silenes Leben, langsam aber stetig. Sie zerfloss ohne eine Spur zu hinterlassen, ohne etwas in der Valisar zu bewegen. Silene saß regungslos an ihrem Platz, während hinter ihrem Rücken ein ebenso unbewegter dünner Faden Weihrauch aus der Räucherschale aufstieg, senkrecht zur Decke des Zeltes hinaufstrebte und sich erst dort in hauchdünne Kringel zerteilte.
    Auf der weißen Stirn der Seherin zeigte sich keine einzige Falte, doch Silene war in tiefe Gedanken versunken, mit geschlossenen Augen fokussiert auf die Erinnerung an den Traum, der ihr in der vergangenen Nacht geschenkt worden war. Ungewohnt klare Bilder hatte er zurückgelassen, Bilder scharf gezeichneter Gesichter und realer Orte, die es auf Beleriar gab, doch noch hatte sich der Seherin seine Bedeutung nicht erschlossen, noch war es ihr nicht möglich gewesen zu erschließen, ob diese Geschehnisse in der Vergangenheit lagen oder zukünftiger Natur waren.
    Doch in allen Dingen lag ein Sinn verborgen und wenn sie diesen einen nicht ergründen konnte, so lag es nicht an der vermeintlichen Sinnlosigkeit des Traumes, sondern an ihrem eigenen Unvermögen klar genug zu sehen. Die ineinander verschränkten Finger ihrer schlanken Hände ruhten auf dem schwarzen Marmor des ansonsten leeren Tisches, ihr Sitz war aufrecht, sodass sich ihr Haar wie ein silberweißer Fluss über ihren dunkel gekleideten Körper ergoss und es nicht eine Strähne wagte, aus dessen Verlauf auszubrechen.


    Das helle Klingen der Glocke zog ihre Aufmerksamkeit rasch aus der Tiefe, ließ sie die Oberfläche ihres Geistes, zuvor ruhig wie ein tiefer See, Wellen schlagend durchstoßen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, legte die Gedanken an ihre Träume ab und schlug die eisig blauen Augen auf, richtete sie geradeaus, auf den Eingang ihres Zeltes, dessen Stoffbahnen in Bewegung geraten waren.
    Aus den leichten Schleiern befreite sich schließlich unsanft eine schwarz geflügelte Gestalt, deren Umriss vertraut wirkte, auch wenn sie diesen einen Syrenia nie zuvor gesehen hatte. Die statuengleichen Syreniae mit ihren mächtigen Schwingen waren ein häufiger Anblick in ihrer Heimatstadt, in Nir'alenar dagegen begegnete man dem geflügelten Volk nicht all zu oft und schon lange hatte sie weder deren melodische Sprache noch eine ihrer Zauberstimmen mehr vernommen, auch wenn sie deren Klangmuster augenblicklich wiedererkennen würde.
    Sein Gesicht wurde von einer Kapuze überschattet, das schummerige Licht im Inneren des Zeltes half dabei, es vor ihrem Blick zu verbergen, doch sie wusste, dass er sie ansah. Einzutreten, ohne hereingebeten zu werden und sein Gesicht zu verstecken, das jeden nur erdenklichen Ausdruck tragen konnte, entsprach nicht ihrem Verständis von Freundlichkeit, doch da sich die Seherin nicht erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein, maß sie diesem Gebaren keine besondere Bedeutung zu. Zwar widersprach es dem Bild, das sie von den höflich-distanzierten Syreniae ihrer Heimat hatte, doch war er nicht der Erste, der ohne ein Wort des Grußes und befangen von zunächst nicht näher bestimmbaren Emotionen ihr Zelt betrat.


    Silene begegnete ihm so lediglich mit dem entseelten Blick, der allen Valisar zu eigen war und einer Stimme, die kälter und glatter nicht sein konnte.
    "Seid willkommen.", begrüßte sie den Syrenia, erhob sich von ihrem Stuhl, wie es ihr die Höflichkeit gebot und ohne dass sich etwas an ihrer Gestik oder Mimik veränderte, wirkte die Valisar auf Augenhöhe mit ihrem Gast noch erhabener als zuvor. Die Fingerspitzen ihrer kühlen Hände berührten den Marmor des Tisches vor ihr. "Was führt Euch zu mir?"

    Der Marktplatz muss einer der lautesten Orte in Nir'alenar sein. Bunte Stände drängen sich in den Straßen, bieten alles an, was käuflich ist, Waren aus ganz Beleriar, seltenes und wertvolles und auch einige Dinge, die nur Meereswesen unter die Kuppel bringen können. Wesen nahezu aller Völker schieben sich über den gefüllten Platz, man tritt sich auf die Füße, kommt sich in die Quere, streitet sich um die ein oder andere Errungenschaft. Marktschreier preisen ihre Waren an, Verkäufer eilen kreuz und quer über den Markt um Nachschub herbeizutragen.
    Der Markt ist kein Ort, der zum Verweilen einlädt, doch je weiter man sich von der alles überblickenden Statue des Arion Falkenauge entfernt, um so mehr scheint sich das bunte Treiben zu beruhigen und schließlich findet man den ein oder anderen Stand, der sich elegant aus der hektischen Geschäftigkeit heraushält, sich an die hohen Steinhäuser lehnt und dort auf vorbeigehende Kunden wartet.


    Dort, in einer der ruhigeren Ecken, jedoch noch nicht gänzlich eingeklemmt zwischen den Häusern des Händlerviertels lässt Silene schon im Morgengrauen ihr Zelt errichten. In all den Jahren, die sie in Nir'alenar verbracht hatte, hat sie niemals einen anderen Platz für ihr Zelt gewählt, auch wenn es sicherlich Plätze gab, an denen mehr Leute vorbeikommen. Doch man kennt das weiße Zelt der Seherin und jeder Besucher des Marktes kann darüber Auskunft geben, wenn man danach fragt. Es ist nicht zu übersehen, auch wenn es bei weitem nicht der größte Stand auf dem Markt ist. Es ist auch nicht zu überhören. Eine seltsame Stille legt sich wie ein dichter Mantel über diesen Ort und das silbern klingende Windspiel am verschleierten Vordach scheint diese noch dichter zu weben.
    Auf einer quadratischen, etwa vier auf vier Schritte großen Grundfläche erhebt sich das Gestänge des Zeltes hoch über das Pflaster, schneeweißer, blickdichter Stoff fällt rundum in schweren Falten, gleich einem Vorhang, auf den gefegten Boden hinab, verhüllt alles, was sich dahinter befinden mag und sperrt das Tageslicht aus.
    Es gibt eine silberne Glocke, mit der man sich ankündigen kann, über welcher ein helles Holzschild verkündet, dass dies das Zelt der Seherin Silene Sana'Santaly ist. Die Schleier vor dem Eingang lassen sich mit Blicken nicht durchdringen und selbst, wer einige der Stoffbahnen zur Seite schiebt, muss erst tiefer ins Innere vordringen, um einen Blick hineinwerfen zu können.


    Das Innere des Zeltes wirkt geräumiger, als man von außen erahnen kann, denn zumindest erlaubt es der hochgewachsenen Valisar, aufrecht darin zu stehen. In der Mitte des Raumes steht ein Tischchen, dessen makellose schwarze Marmorplatte auf drei geschwungenen Beinen ruht, zwei bequem gepolsterte Stühle bieten einem Gast und der Seherin selbst einen Sitzplatz. Ein Kerzenleuchter daneben spendet das nötige Licht um sein Gegenüber sehen zu können, doch zusätzlich erfüllt eine kleine Laterne mit blauem Glas in jeder der vier Ecken angebracht das Zeltinnere mit einem unsteten blauen Schimmern.
    Im hinteren Bereich des Zeltes steigt eine dünne Rauchsäule aus einer sandgefüllten Schale, in der stets ein Kohlestück glimmt, auf welches die Seherin hin und wieder ein Körnchen Weihrauch wirft. Ein Hauch dieses Duftes schwebt immer in der Luft, denn er öffnet den Geist der Seherin genau so wie den der Fragenden.
    Es dringen kaum Geräusche nach innen durch, lediglich das Klingen der silbernen Glocke und das leise Flüstern des Windspiels ist von hier zu hören und genau so ist von außen nicht hörbar, was im Zelt gesprochen wird, es sei denn man presst das Ohr an den dichten Stoff.


    Erst am frühen Abend, wenn bereits viele der Stände abgebaut sind, verlässt die Valisar ihr Zelt, lässt es von ihren zwei Angestellten wieder abbauen und bis zum nächsten Tag sicher verwahren.

    Wer aufmerksam und mit offenen Ohren durch das Künstlerviertel geht, dem wird das sanftes Schwingen und Klingen nicht entgehen, das sich mit jedem Schritt intensiviert, mit dem man sich dem Anwesen der Seherin nähert. Auf der Suche nach dem Quell dieses Klanges entdeckt man bald die vielen unterschiedlichen Klangspiele an der Dachtraufe und im Giebel des vorspringenden Daches des eleganten Gebäudes.
    Lange, metallene Röhren und gestimmte Glocken bewegen sich frei im Wind und, je nach dem wie stark dieser weht, weben sie eine niemals endende, an- und abschwellende Symphonie aus reinen, feinen Klängen.


    Die Grundmauern des Hauses bestehen aus naturbelassenem, weißem Gestein, während das obere Stockwerk eine strahlend weiß gestrichene Holzfassade besitzt und ein sanft geschwungenes, relativ steiles Dach trägt, welches mit rauen, schiefergrauen Schindeln gedeckt ist. Durch die hohen, spitz zulaufenden Spossenfenster wirkt das Haus trotz der soliden Mauern lichtumfangen, durchstrahlt und leicht. Ein kreisrundes, großes Buntglasfenster im Giebel zeigt ein von Blautönen dominiertes Hauswappen. Es wirft tagsüber strahlende Lichtflecken in den dahinterliegenden Schlafraum, während es nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es von innen durchleuchtet wird, wie ein blauer Mond von der Fassade hinabsieht.
    Spätestens bei diesem Anblick wird dem Betrachter klar, dass sich dieses Anwesen nicht in den in Nir'alenar vorherrschenden Baustil einfügen will und wer jemals die Stadt der Musik besucht hat, wird sich beim Anblick von Silenes Anwesen zweifelsohne an Yelindea erinnert fühlen.


    Durch den dicht bepflanzen, großen Garten schlängeln sich sauber gefegte Wege, an einem schlanken, im Frühling weiß blühenden Kirschbaum vorbei und zwischen hellen Büscheln hoher, sommerblühender Gräser hindurch, die sich stets im Wind wiegen und an Dünengras erinnern. In der Sonne locken zwischen hellem Gestein Lavendel, silberblaue Kugeldisteln und Strandflieder viele Schmetterlinge und andere Insekten an, während an den schattigeren Stellen duftende Lilien, Iris, Fingerhut und Farne gedeihen.
    Wenn der Wind durch diesen Garten streicht, erinnert das Haus und das Grundstück in allen seinen Details so intensiv an die windige, helle Stadt aus der Silene stammt, dass man manchmal, wenn man die Augen schließt und die Gedanken wandern lässt, sogar glaubt die Wellen zu hören, wie sie an spitze Felsen branden, die es mitten in Nir'alenar selbstverständlich nicht gibt.


    Hat man den Garten durchschritten, gelangt man über fünf Stufen einer geschwungenen Holztreppe auf die hölzerne Eingangsveranda, von wo aus sich ein zart violett blühender Blauregen bis in den Giebel hinaufrankt und einen unsteten Schatten auf die Haustüre wirft. An dieser Türe ist ein Türklopfer in Form einer Hand befestigt, die eine silberne Kugel umschließt.
    Die Räume im Inneren wirken kühl, sauber und hell und es duftet sachte nach dem zitronig-harzigen Weihrauch, den Silene hier verräuchert. Einige seltsam anmutende Gegenstände erzählen von ihrer Profession als Wahrsagerin, doch neben einer Küche und einem Teezimmer findet sich im Erdgeschoss auch eine kleine Instrumentenwerkstatt mit einem Holzlager, in der Silene hin und wieder ein Instrument restauriert. Über eine Wendeltreppe gelangt man in ein Schlafgemach und das daran angeschlossene Bad.


    An die Rückseite des Hauses schmiegt sich schließlich ein kleiner, mit einigen Pflanzen und einem Schreibplatz gefüllter Glaspavillon, der Vorbeigehenden jedoch verborgen bleibt und in welchen sich Silene oft zurückzieht um zu arbeiten. In Sichtweite des Arbeitsplatzes, an einer der beiden Silberweiden, die an der hinteren Grundstücksgrenze stehen und in den Sommermonaten ihre fluffigen, weißen Samen wie Schnee durch den Garten treiben lassen, hängt ein Futterhaus für die Stadtvögel, welche sich mit ihrem Gesang perfekt in das Klangbild einfügen, das Silenes Haus stets umgibt.

    Zwar waren ihr viele Gefühle verwehrt, doch auch Silene spürte körperlichen Anstrengung, wenn auch vielleicht dumpfer und in abgeschwächter Form. Visionen wie diese hatten die Eigenschaft, viel Kraft zu kosten und so mochte Silenes Gesicht einen winzigen Hauch erschöpfter wirken als zuvor, auch wenn es nach wie vor ein altersloses, ausdrucksloses, makelloses Antlitz war.
    Die Seherin musterte das von Gleichmut ergriffene Gesicht vor sich und erkannte eine Beherrschung darin, die selten war unter den fühlenden Völkern. Vielleicht war Fanirs Mienenspiel das, was andere Fühlende „valisarhaft“ nennen mochten … doch im direkten Vergleich zu Silene schien es bei einem Versuch zu bleiben.
    Dennoch verspürte Silene etwas wie Anerkennung für die vor ihr sitzende Frau mit der überschatteten Vergangenheit und so gab sie sich größte Mühe um eine mit Präzision eingeübte Geste zu vollbringen. Die Valisar legte ihre Hand, die noch immer die Erinnerung an Fanirs Wärme trug, in einer besänftigenden Art und Weise auf die ihre und ihr eisvogelblauer Blick wirkte seltsam … ergriffen, in einer unbestimmten Nuance schimmernd. Silenes Bewegung bewegte die Luft des Raumes und ein kühler Hauch berührte die Dai'vaar.
    Eine unheimlich echt wirkende Geste, die Silene aus reinem Respekt ausführte, ohne einen echten Kern aus echter Berührtheit aufzuweisen.

    „Euer Dank ist mir Lohn genug.“, sagte sie und ihre Stimme klang wie eine hauchdünne Eisschicht auf sich bewegendem Wasser. Minaril hatte sie heute klar und tief sehen lassen, was sie als Zeichen nahm, dass es richtig und wichtig war ein Angebot auszusprechen. „Mein Zelt steht Euch jederzeit offen, solltet Ihr meiner Augen oder Ohren bedürfen.“

    Eine Frage nach der Vergangenheit. Silene neigte den Kopf ein wenig, deutete ein Kopfschütteln an. „Ich weiß es nicht … aber ich kann versuchen, es für Euch zu sehen.“, antwortete sie und legte ihre gefalteten Hände zwischen sie beide auf den Tisch. „Ich kann Euch jedoch nichts versprechen. Minaril öffnet das Tor zu Vergangenheit nur manchmal und meist nicht weit.“
    Die Seherin erhob sich von ihrem Stuhl, richtete ihre hochgewachsene Gestalt würdevoll auf und trat auf die Laternen zu, von denen in jeder Ecke des Zeltes eine brannte und das seltsame, bläuliche Licht verstreute. Sie drosselte die Flamme einer jeden, sodass es merklich dunkler wurde in ihrem Zelt und unstete Schatten entstanden, die sich im Flackern der Lichter bewegten. Sie warf einige Körner frischen Weihrauchs auf die glühende Kohle in der Räucherschale im hinteren Bereich des Zeltes und fächelte sie sanft mit einem schwarzen Fächer an.
    Schließlich kehrte Silene zurück an den Tisch, ließ sich unendlich elegant nieder und faltete ihre Hände wieder vor sich auf dem Tisch. Der Raum begann sich mit dem nun viel intensiveren Duft von Weihrauch zu füllen, viel schwerer als zuvor, viel weniger erfrischend sondern eher besänftigend. Der Raum mochte abgedunkelt sein, doch Silenes Augen wirkten hell wie ein gefrorener See im Sternenlicht.
    „Ich werde dazu Euere Narbe berühren müssen.“, verkündete die Valisar und wartete auf Zustimmung der Dai'vaar. Als sie diese erhielt, nickte sie sachte und während ihr Blick auf Fanir gerichtet war, bat sie diese erneut darum, ihre Hand zu ergreifen und die Augen zu schließen.
    Eine lange Weile geschah nichts Offensichtliches, doch Silene war der sichtbaren Welt schon längst entflohen. Mit ruhigen, langen Atemzügen, unterbrochen von kurzen Pausen in der Atemfülle und -leere konzentrierte sie ihren Geist auf die Wärme, die, ausgehend von Fanirs Hand, zunehmend von ihr Besitz ergriff. Silenes Augen waren geöffnet, doch ihr Blick wirkte fern, unberührbar, unerreichbar. Viele, lange Atemzüge verharrten die beiden Frauen so.


    Schließlich hob Silene ihre freie Hand, kühl wie ein Novembermorgen und zwei ihrer langen weißen Finger legten sich gleich einem Frosthauch auf den Beginn der Narbe, die das Gesicht der jungen Frau vor ihr zeichnete. Minaril schien gewillt zu sein, Silene einen Einblick zu gewähren, denn hell und unvermittelt, gleich einem gleißenden Blitz durchzuckte sie eine Vision.
    Der unscharfe Umriss eines Frauengesichts, schwebend. Von Zorn und einem gewissen Schmerz entstellt. Reflexion von Licht auf einer Klinge blendet blaue Augen ...

    Silene blieb ungerührt, denn sie wusste, was sie erwartete. Wie der Donner dem Blitz zu folgen pflegt, folgte ein gewaltiger Schwall an Bildern auf das erste Aufleuchten der Vision. Wie eine Lawine rollten die Bilder über sie herein, zu schnell um jedes einzelne genau zu betrachten, doch langsam genug, dass die Seherin eine Antwort erhalten konnte. Silenes abwesender Blick flackerte, dann kehrte er zurück, fixierte Fanir, drückte deren Hand leicht und ließ sie dann los.
    „Sie stammt aus den ersten Tagen Eures Lebens. Diese Erinnerungen sind für gewöhnlich blass und ungenau.“, begann Silene zu erklären und erhob sich um die Laternenflammen wieder zu erhellen. Mit dem zurückkehrenden Licht wichen die Schatten aus dem Raum. „Diese Narbe hat eine von Zorn geführte Klinge in Eurem Gesicht hinterlassen.“
    Die Art und Weise, in der die Valisar fortfuhr lies keinen Zweifel offen. Sie musste jeglicher Gefühle beraubt sein, denn sie sprach völlig ohne Regung, ohne Mitleid, ohne Bedauern. Manchmal wünschte Silene sich, befähigt zu sein zu solchen Regungen, denn sie machten es ungleich leichter, die Wahrheit an Fühlende heranzutragen, ohne sie zu zerbrechen. Ihr lag nichts am Zerbrechen von fühlenden Wesen, im Gegenteil, es passte nicht in ihren Kodex, in ihre Vorstellung von richtig und falsch … und doch sie konnte dem keinen Einhalt gebieten.
    „Eure Mutter führte die Klinge, bevor sie Euch als Säugling vor einer fremden Haustür zurückließ.“

    Silene entgegnete regunglos den Blick derjungen Dai'Vaar. Augenkontakt bot der Seherin stets die Gelegenheit, in Blicken zu lesen und in diesem las sie Entschlossenheit. Für einen kurzen Moment wirkte es, als zöge ein Schleier über das klare Eisblau ihrer Iris, dann blickte sie auf die verbliebenen zwei Steine hinab. Sie fügten sich in das Bild der Wahrsagung ein wie ein fehlender Splitter eines Kristalls. Selten waren die Steine so derart klar mit einer Warnung. Etwas in Silenes erhabener Haltung veränderte sich und lies sie noch aufgerichteter wirken.


    „Dieser“, begann sie und deutete auf den vierten Stein der Reihe, dessen Oberfläche nichts zeigte als 5 Punkte, die wie die Ecken eines Pentagons angeordnet waren. „ist der Stein der Fülle … und des Urfeuers. Er verspricht das Feuer der Kreativität, Feuer in welchem Dinge erschaffen werden können, aber auch eines, dass verschlingt, genährt werden muss. Scheut euch nicht vor einem Opfer, denn es wird Euch zu Fülle führen. Ihr müsst zunächst das Gegenteil dessen erfahren, was Ihr Euch wünscht.“


    Silenes Lippen zeigten einen Hauch eines Lächelns, als sich ihre Blicke nochmals berührten. Nur wer den Schatten kannte, konnte das Licht in seiner Vollkommenheit sehen … und dieses Kind der Flammen kannte vielerlei Schatten. Schließlich berührte sie den letzten Stein. Er war kleiner als die anderen, trug die selbe weiße Farbe und wirkte dennoch ungleich leuchtender. Inmitten der makellosen Oberseite des polierten Steines verlief eine schwarze Ader eines anderen Gesteins. Ihr war die Gänsehaut auf den Armen der Dai'Vaar nicht entgangen und wenn Silene selbst eine solche Regung hätte zeigen können, nun wäre der richtige Moment dafür gewesen.


    „Eine deutliche Warnung.“, verkündete sie und ihre Lippen zeigten kein Lächeln mehr und nichts wirkte so, als hätten sie je eines gezeigt. „Bündelt Eure Gedanken, Eure Kräfte und richtet sie auf Euer Ziel. Euer Feuer wird Widersacher anziehen. Diebe, die sich in Euerem Licht baden wollen und Wesen denen es danach trachtet, Euere Flamme ein für alle mal zu löschen.“


    „So klar sah ich eine Bedrohung zuletzt vor vielen, vielen Jahren … nehmt Euch in Acht.“, riet die Valisar, doch ihre Stimme konnte keine Freundlichkeit tragen und so wurde aus einem freundlichen Rat, der aus dem Mund eines Freundes stammen mochte, eine eisige Warnung.

    Eine unbeschreibliche Kühle sprach aus dem durchdringenden Blick der Seherin, hinter dem sich vieles verbergen konnte. Sie wusste, dass die junge Frau vor ihr verstanden hatte. Sie hatte ihre Gründe für die Wege, die sie wählte … und es waren nicht die einfachen Wege. Etwas stand ihr im Weg und Silene hatte ihr übliches kaltes Interesse daran entwickelt, herauszufinden, was es war. Es war kein Interesse, dass von Mitgefühl motiviert wurde, denn es stammte nicht aus dem erfrorenen Herz der Valisar.
    Die Steine vor ihr gaben ihr lediglich die Richtung an, in den sie ihren klaren Blick wenden mussten, doch sie begann die Umrisse einer aufgewühlten Vergangenheit zu sehen. Sie berührte die nächsten beiden Steine, nacheinander, denn sie bildeten eine bedeutende Kombination.
    “Dieser ist der Stein der Not.”, erklärte Silene und deutete auf den ersten Stein, auf dessen Oberfläche dicht schraffiert war. Etwas in der Linienführung wirkte, als wären die Rillen voller Zorn auf den Stein geritzt worden. “Akzeptiert, was geschehen ist. Dann könnt ihr Euch der widmen die Ihr sein wollt. Nichts in Eurem Leben geschah je ohne Folgen nach sich zu ziehen … jedweder Natur. Akzeptiert, dass Ihr nun hier seid, trotz und gerade weil in Eurem Leben schmerzhafte Dinge geschehen sind.“
    Silene pausierte kurz, dachte an Ihr eigenes Leben. Dieses Zeichen verlangte viel von dem, der es zog. Akzeptanz war schwierig, manchmal gar unmöglich, wenn man voller Gefühl und Verletzung war. Der einzige Grund, warum sie in der Lage war, so zu sehen, wie es gerade tat … der einzige Grund war, dass Ihr unausprechliches Leid zugefügt wurde. Noch mehr. Es war Leid, das sie nicht empfinden konnte, dem sie niemals Ausdruck verleihen würde und um welches sie niemals auch nur eine Träne vergossen hatte. Die folgenden Worte sprach sie mit einer Stimme, die eisiger klang als zuvor, denn es waren Worte, die sie sich selbst immer wieder in Erinnerung rief. „Die Vergangenheit ist nichts, als eine Erinnerung.“


    „Die Vergangenheit ist nur eine Erinnerung und Eure Zukunft ist formbar. Noch.”, sagte sie und wies auf den zweiten Stein. “Dies ist das Zeichen des Pferdes. Es rät Euch, einen Verbündeten zu finden, einen Gefährten. Eine jede Begegnung birgt die Möglichkeit etwas aus ihr zu lernen. Dieses Zeichen rät Euch zudem auch, damit nicht zu zögern, denn diese eine Gelegenheit werdet Ihr nur einmal erhalten … und sie wird an Euch vorüberziehen, wenn Ihr sie nicht nutzt.“
    Die blauen Augen der Valisar richteten sich wieder auf das Gesicht der jungen Frau aus und studierten dessen Regungungen gründlich.