Beiträge von Silene Sana'Santaly

    Auch Silenes Augen blieben geschlossen, bis Fanir die fünf Steine auf den Tisch gelegt hatte. Ihr Geist war fokussiert auf eine Welt, die hinter der Sichtbaren lag, dort, wo die Schicksalfäden wie Spinnennetze verwoben waren und klebrig die Zukunft gefangen hielten.
    Mit einem sanften Druck der Hand signalisierte Silene Fanir, dass sie die Augen wieder öffnen konnte. Silenes erster Blick nachdem sie ihre Augen geöffnet hatte galt den Steinen. Stumm musterte die die fünf Zeichen. Es waren fünf weiße Steine, die Fanir aus vielen verschiedenfarbigen Steinen gezogen hatte. Klare Zeichen, ohne Frage.
    Der erste Stein war Silene sehr vertraut, denn sie hatte ihn schon so oft von jungen Menschen gezogen gesehen. Es war tatsächlich das Zeichen “Mensch”, das Fanir als erstes gezogen hatte. Ein Zeichen, dass an ein großes M erinnerte.
    “Jeder Mensch hat sein eigenes Leben erhalten und das Recht sein Leben zu erfüllen. Dieser Stein erinnert daran, dass Euer Schicksal von Euren Entscheidungen abhängig ist … und dass Ihr im Grunde eures Herzens ein Mensch seid, ein Wesen, dass bei seiner Erschaffung im Gegenzug zu seiner Fehlbarkeit viel Einzigartigkeit und Freiheit erhalten hat.”, erklärte Silene. “Geht nicht den Weg, der leicht aussieht … geht den Weg, den keiner sonst zu gehen wagt.”
    Die Seherin wartete einen Moment und drehte den Stein nachdenklich mit ihren weißen Fingern einmal um seine eigene Achse, bevor sie Fanir ins Gesicht sah. Sie mochte ein mächtiges Feuer in sich tragen, doch war sie ein Wesen voller Gefühle und Wünsche. “Ihr geht ohnehin nicht die Wege, die euch einfach erscheinen … oder irre ich mich?”
    Etwas ironisch mochte dieser Frage wirken, denn die Seherin irrte sich selten.

    Silenes Verstand arbeitete hart an einer Analyse der Stimme Fanirs, ihres Ausdrucks. Unwohlsein, Aufregung, manchmal durchsetzt mit Angst, manchmal mit einem Hauch des Begehrens oder Bewunderns, das alles brachte man der Valisar oft entgegen. Es war die natürliche Reaktion vieler Wesen auf den Anblick, die Präsenz einer Valisar. Selbst wenn sie dazu befähigt gewesen wäre, Verletzung darüber zu empfinden, hätte sie es nicht gefühlt. Es war, wie es war. Die Begegnung mit einer Valisar war für viele kein leicht zu verarbeitender Eindruck.
    Was zusätzlich in Fanirs Stimme mitklang, so analysierte Silene es zumindest, war eine gewisse Bedrücktheit und eine Aussichtslosigkeit. Viele ihrer Besucher fühlten diese Beklemmung … viele hatten Angst vor dem morgen. Viele Jahre waren an Silene vorbeigezogen, viele Jahrzehnte spurlos an ihr vorbeigegangen … und das Ende der Tage war für sie nicht gekommen. Und wenn es heute kam, oder morgen ... war ihre Aufgabe in dieser Welt wohl erfüllt. Sie selbst schritt mit einer Gleichgültigkeit in jeden neuen Tag, die wohl nur eine Valisar vermochte.
    “Ihr sprecht von einem Gefühl, das ich selbst schon seit langem nicht mehr kenne.”, sagte die Seherin und strich sich eine silberne Haarsträhne aus dem regungslosen Gesicht. “Doch jedem Tag folgt ein neuer Tag. Jeder Tag ist wie eine neue, unbeschriebene Seite in einem Buch, das von unserem Leben gefüllt wird. Manch einer wünscht sich, dem wäre nicht so … doch am Ende sind wir für unsere Zeit auf dieser Welt und an jedem Tag tun sich neue Wege auf, die beschritten werden können.”
    Dass diese Wege selbstverständlich auch voller Schmerz sein konnten, lies Silene offen. Vielleicht vermochten es diese Worte jedoch, Fanirs Geist ein wenig zu öffnen, denn als Trost waren sie nicht gedacht. Silene maßte sich nicht an, tröstend auf jemanden zu wirken.
    Nachdem die Seherin ihre Worte gesprochen hatte, straffte sie ihre Schultern etwas und schob das samtene Säckchen auf dem Tisch zwischen sich und die Dai'vaar. Ihre langen Finger öffneten das Säckchen und es erklang das vertraute, zirpende Geräusch aneinanderschlagender glatter Steine. Silene bot Fanir ihre rechte Hand an, weißhäutig, kühl.
    “Nehmt meine Hand, schließt eure Augen und zieht nacheinander 5 Steine aus diesem Beutel”, wies sie Fanir an.

    Nun da Fanir näher getreten war, konnte Silene deren rotbraunes, gelocktes Haar sehen, die grünen Augen und natürlich die Narbe, welche das Gesicht junge Frau zeichnete. Ein interessantes Antlitz, auf welchem eine Geschichte geschrieben stand. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, dass in den grünen Augen ihres Gegenübers ein Funke lag, etwas feuriges und Silene war sich sicher, wen sie vor sich hatte. So respektvoll, so zurückhaltend und höflich … ein freundliches Feuer war es, das in der Dai'vaar brannte.
    “Ist es nicht so, dass die wertvollen Dinge im Leben nicht mit Geld bemessen werden können?”, fragte die Valisar zurück und ließ das schwache Lächeln etwas stärker werden. Sie konnte sehen, dass Fanir die Wahrheit sprach und niemand war, der sich Silenes Einblicke aus Geiz umsonst erschleichen wollte. “Habt keine Sorge, dieser Valisar bedeutet Geld schon lange nichts mehr. Mein Lohn ist der Dienst, den ich Euch womöglich erweisen kann.”
    Silene setzte sich in einer fließenden Bewegung und deutete auf den ihr gegenüberstehenden Stuhl. “Setzt euch nur.”, bot sie Fanir an und beförderte mit ihren langen weißen Fingern die Orakelsteine einen nach dem anderen zurück in ihren schwarzen Samtbeutel. Schließlich sah sie wieder zu Fanir auf. “Ich möchtet also, dass ich für Euch in die Zukunft sehe?”, fragte Silene und es klang, als wartete sie auf eine Bestätigung, auf eine bewusste Entscheidung ihres Gegenübers, die Silene erlaubte ihre Augen für Fanir zu öffnen. Was wollte die junge Frau sehen, was erhoffte sie sich ... und was davon würde Silene für sie sehen können?

    Die linke Wange der Seherin ruhte in der Schale ihrer Hand, der Ellenbogen aufgestützt auf den Marmortisch vor ihr. Tatsächlich zeichnete eine einzige Falte ihre ansonsten makellose weißen Stirn, als sie angestrengt über eine Deutung der gezogenen Steine nachsann. Die Steine sprachen nicht zu ihr, sie ergaben keinen Sinn. Je länger sie über das Muster nachdachte, desto mehr verwickelten und verwoben sich ihre Bedeutungen. Eine Herausforderung, der die Valisar ohne Zögern entgegentrat. Eine vom Zelteingang ausgehende Stimme unterbrach ihre tiefen Gedanken und brachte ihre Aufmerksamkeit an die Oberfläche.
    Silenes Blick, welcher zuvor so nachdenklich auf einem komplex wirkenden Legemuster aus Orakelsteinen geruht hatte, hob sich der Frau entgegen, die soeben den Vorhang zur Seite gezogen hatte. Im Vergleich zur staubigen, warmen Luft draußen auf dem Markt, wirkte es in Silenes Zelt ungleich kühler, was natürlich auch an der kühlen Präsenz der Valisar liegen mochte. Das bläuliche Licht aus den kleinen Laternen erfüllte den Raum gleichermaßen wie der dezente zitronige Weihrauchduft, welcher unbewegt aus einer Räucherschale aufstieg. Silene räusperte sich leise.
    "Gewiss.", antwortete sie auf Fanirs Frage, erhob sich leicht von ihrem Stuhl und vollführte mit ihrer Rechten eine einladende Geste. "Tretet ein, wenn Ihr mögt."
    Ihre Hände ruhten nun nebeneinander auf dem Marmortischchen, allein die Fingerkuppen berührten die steinerne Oberfläche. Silenes Gesicht zeigte kaum Regung, vielleicht ein leichtes, kaum merkliches Lächeln, doch sie hatte sich bemüht, ihrer Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen. Im Gegenlicht der ungleich helleren Straße konnte sie Fanir nicht gänzlich ausmachen, bis sie näher trat.

    Beim Schwelgen in Erinnerungen und beim Lesen alter Threads ist mir gerade etwas aufgefallen. Seit 4 Jahren hat Silene niemanden mehr in ihrem Zelt empfangen ... verrückt, wie schnell die Zeit vergeht! :oops:


    Silenes Zelt steht für alle offen. Ich bin durchaus in Schreiblaune und würde gerne meine Valisar ein wenig ausspielen, es darf gerne auch etwas längeres werden ... aber auch für Kurzbesuche ist Silenes Wahrsagerzelt jederzeit geeignet.
    Natürlich ist Silene auch außerhalb ihres Zeltes anzutreffen ... also wenn jemand eine Idee hat oder Lust hat, sich daran zu versuchen einen Gletscher zu schmelzen ... ;)


    ~~~


    Auf dem Marktplatz im Händlerviertel steht ein Zelt aus weißem Stoff. Der Eingang ist verschleiert, der Blick ins Innere verwehrt, doch dringt schwach bläuliches Licht daraus hervor. Eine silberne Glocke ist neben dem Eingang angebracht worden. Ein Hauch von Weihrauch weht Vorbeigehenden um die Nase, doch hört man keinen Laut aus dem Inneren des Zeltes und so manch einer mag sich fragen, was darin vorgeht. Ein Blick auf das Holzschild neben dem Eingang scheint diese Frage zu klären: es ist das Zelt einer Wahrsagerin. Einer Valisar, einem Geschöpf dem jegliche Gefühlsregung unmöglich war ... und deren Auge weiter und tiefer sehen konnte, als jedes andere.
    Tretet ein, wenn Ihr bereit dazu seid.

    Unter den eisig blauen Augen der Valisar bewegten sich viele Gesichter. Sie studierte einige der Besucher genauer, versuchte in ihrer Gestik und Mimik Emotionen ausfindig zu machen und sie korrekt einzuordnen. Es war nur eine Übung, doch sie hatte in letzter Zeit nicht viel Gelegenheit dazu gehabt. Sie war in den letzten Wochen wenig in Gesellschaft gewesen, aber sie hatte auch nicht nach ihr gesucht. Ihr Wahrsagerzelt auf dem Markt war geschlossen, sie hatte sich eine Auszeit genommen um sich zurückzuziehen, zu denken, zu orakeln und zu meditieren. Nun war es wieder an der Zeit, zu üben. Um besser zu verstehen können, was sie einst selbst beherrschte. Die farbenfrohe Palette echter Emotionen, die in ihrem eigenen Herzen zu einem einzigen Grau in Grau verschwommen waren.
    Silene hatte sich in festlichere Gewänder als sonst gehüllt, um diesem Anlass beizuwohnen. Statt dem üblichen Schwarz trug sie heute ein weißes, figurbetont geschnittenes Kleid. Lang und mit fließendem Rock, hochgeschlossen und mit hohem Kragen. Wer sie sah, musste sich wohl unwillkürlich den Schweiß von der Stirn tupfen, doch die Valisar schwitze nicht. Ihr war nicht warm, sie war von der üblichen Kühle erfüllt. An den Säumen des Kleides hatte ein kundiger Schneider mit Silbergarn zarte Stickereien angebracht, welche im Sonnenlicht funkelten wie kleine Eiskristalle. Sie trug keinen Schmuck, nur das Halsband mit dem Korallensplitter, ein Geschenk, dass sie über alle Maße wertschätze, lag um ihren Hals, verborgen unter dem Stoff. Ihr Haar lag offen und silbern auf ihren Schultern, wie durch Magie lag jede Strähne an ihrem richtigen Platz.
    Man konnte nicht sagen, dass sie die Parade der Sternengarde genoss, doch ihrem Auge gefielen die Gewandungen, die synchronen Bewegungen der Recken, die vielen Banner, Wimpel und Fahnen. Alte Erinnerungen waren an dieses Fest geknüpft. Sie hatte in den vielen hundert Jahren ihrer Existenz schon oft dieser Parade beigewohnt. In dem Teil ihrer Vergangenheit, in der ihr Herz noch warm geschlagen hatte, hatte sie den lauen Abend durchaus mit dem ein oder anderen Recken verbracht, schließlich war sie ein den Göttinnen der Liebe geweihtes Wesen … nun ließ sie der Anblick der Männer kalt. Alleine ihr Verständnis für Symmetrie sagte ihr, dass sie alle begehrenswert wirkten und auch die Gesichter der vielen Mädchen und jungen Frauen verrieten ihr vieles.
    Ihr eigenes Gesicht war wenig ausdrucksvoll, doch sie hatte ein sanftes Lächeln aufgelegt, nur einen Hauch von Krümmung in ihren Mundwinkel, speziell für diesen Anlass, denn es lag ihr fern, verstörend oder erschreckend zu wirken. Sie ließ sich im Strom der Leiber mittragen, berührte jedoch keinen davon. Jeder schien der Valisar auszuweichen, als spürten sie die Kühle ihrer Haut, als wäre sie von einer Aura umgeben, die andere Körper nicht duldete.
    Schließlich erreichte sie den Festplatz, noch bevor Nayara Eandara ihre Rede begonnen hatte. Ihr Blick glitt über die Gesichter in ihrer Nähe und blieb kurz an einem hellen, sorgsam geschminkten Gesicht hängen. Ein zartes Lächeln zeigte sich auf den Lippen der Menschin, ein Lächeln, dass die Valisar nicht besonders gut beherrschte und nicht sofort einordnen konnte. Silenes Blick verriet ihr ein sorgsam gepflegtes Äußeres, perfektionistisch wie ihr eigenes. Ihre Hand wanderte in einen weißen Stoffbeutel an ihrem Gürtel und beförderte einen kleinen, marmorierten Stein heraus, doch die Göttern gönnten ihr weder eine Deutung des Lächelns, noch einen Blick auf den Ausgang des Turniers.

    Das Eis konnte gerbrochen werden. Silene wusste. Es war ein Teil des Fluchs.
    Konnten die Göttinnen ihnen den Fluch schon nicht nehmen, so konnten sie zumindest den Valisar die Möglichkeit schenken, ihn selbst zu brechen. Sie stellten damit die ganze Welt auf die Probe. Denn wer es wagt, eine Valisar zu lieben, sein warmes Herz dem Eissturm aussetzt, mit der Aussicht auf ein sicheres Scheitern ... wer dennoch nicht zögert, auch wenn die Kälte an ihm zu fressen beginnt, sich an seiner Angst labt - der ist entweder dumm, oder hat die Macht einen Fluch der Götter zu brechen.
    Die Göttinnen hätten ihnen keine andere Möglichkeit geben können. Sie, die reinen Verkörperungen der Liebe, hatten auf die größte Macht gesetzt, die sie kannten. Die Liebe. Und es war nicht so, als wäre es gänzlich unmöglich den Fluch zu brechen. Auch das war Silene klar. Denn jene Frau, die sie gerade vor sich hatte, diese geheimnisvolle, dunkle, flüsternde Valisar, war eine von jenen, die den Fluch der Gefühllosigkeit überwunden hatten.
    Doch so viel Wissen über die Vergangenheit, über Flüche und Segen, über die Götter und ihre Geschöpfe ... so viel Klarheit darüber auch in ihren Gedanken herrschen mochte, es herrschte ebenso viel Dunkel. Wo viel Licht war, da war auch viel Schatten und so barg sich in der Seherin viel dunkles, das sie niemals wieder hervorholen wollte.


    Es gab Fehler in Silenes Konzept, und die Seherin wusste um sie. Sie wusste, wo die Lücken in ihrem logischen Gewebe aus Argumenten waren, sie wusste sie zu schützen, zu übersehen, zu umgehen. Sie hatte gelernt, andere Wesen nicht in diese Falle tappen zu lassen, hatte gelernt, sich geschmeidig darum zu winden über die gähnenden Löcher in ihrem Weltbild nachzudenken.
    Es war eine Gratwanderung, denn was konnten die Valisar besser als zu denken? Nie war es ihr so schwergefallen ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, wie in diesem Moment.
    Es war gefährlich. Silene wusste.


    Sie sprach von Erinnerungen. Wie fühlten sich Erinnerungen an? Wie war es zu fühlen und sich an eine Zeit zu erinnern, in der man nicht fühlte? War es ähnlich wie Silenes Erinnerungen an eine andere Zeit, eine Zeit in der sie tanzte und sang und lachte und liebte?
    Es konnte nicht das gleiche sein und doch musste es sich ähneln. Silenes Gedanken strichen um Fragen, die sie der anderen stellen wollte, doch sie verwarf sie alle ungesagt. Bis auf eine. Eine eiskalt brennende Frage, die knisternd zwischen ihnen stand.


    "Was bleibt, außer Erinnerung?"

    Ein Schatten lag auf Silenes Gesicht. Ein Schatten, geworfen von einem unersättlichen Drang, der an die Oberfläche quellen wollte und es doch nicht schaffen konnte. Ihr gesenkter Kopf und ihre in die Stirn gefallenen, weißsilbernen Haare verwehrten ihr den Blick nach vorne. Nichts drang durch das massive Eis, niemals war es einem Drängen gelungen, es zu brechen. Sicher schritt sie auf der eisigen Oberfläche ihrer selbst, wusste, dass das Gefrorene nicht brechen konnte und wusste zugleich von den Grauen, die darunter lauerten.
    Alte Erinnerungen drängten sich in vielen Gesichtern unter der Eisfläche, versuchten mit ihren weichen Fingerkuppen das Eis zu scharren, klagten stumm darüber, dass sie es nicht vermochten. Die Seherin kannte sie alle, viele der Gesichter gehörten zu Wesen, die sie einst, vor so vielen Jahrzehnten, ihre Freunde genannt hatte. Sie wusste nicht, was das noch bedeutete, was es bedeutet hatte. Freund. Das Wort hatte keinen Nachgeschmack auf Silenes Zunge. Kein Wort hatte das. Freunde. Es war wie eine Feststellung, eine Klassifizierung, ein Wortgerüst, das viele Dinge umfasste, die Silene schon lange nicht mehr empfand. Dinge, die Silene nicht mehr in ihrem Leben brauchte. Sie spürte unter ihrer dunklen Bluse das Bruchstück einer Koralle liegen, ein Bruchstück eines Schicksals, das sich blutrot an die weiße Haut schmiegte und von einem Meereselfen erzählte, der ihr einen Namen gegeben hatte. Silene Weitseherin. Doch wie weit konnte sie wirklich sehen? Was mochte geschehen, wenn das Eis brechen sollte? Was würde mit der Valisar geschehen? Sie würde zerbrechen, ersticken, ertrinken in einer Springflut aus Schmerz, der ihr so lange Zeit gefehlt hatte, Silene war sich sicher und gleichzeitig sagte ihr Verstand, dass sie dies niemals wissen konnte.


    Eine Schattengestalt tauchte in ihrem Blickfeld auf, direkt vor ihr, direkt in ihrem Weg. Eine Gestalt, der ihren nicht unähnlich, sie erkannte sogleich die Valisar mit ihrer makellos weißen Haut, dem leichtfüßigen Gang, dem Winterhimmelblau ihrer Augen. Für einen Moment flogen ihre Gedanken gezielt auf die andere zu, wollten analysieren, abtasten, interpretieren, dann hielten sie inne. Silene zögerte, zu schwer war es abzuwägen, was zu tun war, nun da die andere Valisar in ihrem Weg aufgetaucht war und sich zu ihr umgedreht hatte. Silene blieb stehen.
    Lange hatte sie keine ihrer Schwestern getroffen, in ihrer Zeit unter der Kuppel waren es nur wenige, deren Wege sich mit ihrem schnitten. Sie hatten sich kaum etwas geben können … es waren fruchtlose Zusammentreffen. Kälte, die Kälte nährte, Eis, das sich kalt an Eis rieb, jeden letzten Tropfen der Regung zu Kristallen gefror, sie alle in eine endlose Spirale von Validierung und Negation trieb. Lediglich der Austausch an Wissen war für Silene von Interesse gewesen, der Austausch über vergangene Jahre und Geschehnisse, die ihren Augen verborgen geblieben waren, Zusammenhänge, die sie nicht gesehen hatte. Und davon gab es wenige.


    Die andere trug schwarze Kleider, schwarz wie die Nacht, die tiefste Nacht, die Silene in ihrem langen Leben jemals gesehen hatte. Das silberweiße Haar erinnerte an ihr eigenes, auch wenn diese voller waren, länger und sich üppiger wellten, wallten, die schlanke Gestalt umhüllten. Silene schloss, dass ihr Gegenüber verführerisch aussah, sie verglich Proportionen und Verhältnisse miteinander, wog ab, wie sehr sich die andere Valisar von der Masse der Kuppelwesen abhob und stellte fest, dass sie eine außerordentlich auffällige Gestalt abgab. Auffälliger als die Gefühllose selbst.
    Das schmale Lächeln der dunklen Lippen versprach geheime Gedanken, die sie nicht offenbarte, zumindest nicht auf den ersten Blick. Silene wusste, dass dieses Lächeln echt war. Keine der perfekten Imitationen, die Silene beherrschte, kein genau gesteuertes, exakt ausgeführtes Kunststück der Mimik. Widersprüche, zu viele Widersprüche, um sie jetzt in diesem Moment aufzuklären, denn die Stille zwischen den beiden dauerte zu lange an, Silenes Blick lag schon viel zu lange auf dem Gesicht der anderen, brannte schon zu lange in den kalten Augen, die doch tausend mal wärmer waren, als ihre eigenen.
    Silene ließ eine Kopie des Lächelns auf ihren Lippen erschienen, dass sie im Gesicht der anderen erfasste. Ungleich schmaler wirkten ihre blassen Lippen in ihrem blassen Gesicht, geisterhaft die weißen Wimpern über dem endlosen Eis ihrer Iris.


    "Verzeiht.", sagte sie, machte jedoch keine Anstalten weiterzugehen. Unhörbare Stimmen pressten sich an ihre Ohren, drängten sie, ihr sehendes Auge zu öffnen und in den Fäden der Zukunft zu lesen, doch die Seherin lies sie pressen. Später. Möglicherweise.

    Listen! you hear the grating roar
    Of pebbles which the waves draw back, and fling,
    At their return, up the high strand,
    Begin, and cease, and then again begin,
    With tremulous cadence slow, and bring
    The eternal note of sadness in.


    Matthew Arnold


    ~ ~ ~ ~ ~


    Ein eisvogelblauer Abendhimmel spannte sich hoch über Nir'alenar, der Perle, die sich in ihrer gläsernen Muschel barg. Neblig und steif hatte der Tag begonnen, mit einem fast unsichtbaren, leise knisterndem Reif auf den Pflanzen. Doch die sonst so zarten Strahlen der Kuppelsonne hatten den Boden rasch erreicht und erwärmt, sodass es ein ungewöhnlich warmer Tag für diese Jahreszeit wurde. Nicht nur Silene, die Valisar mit der Gabe die Zukunft zu sehen, auch andere Wesen, die unter der Kuppel weilten, konnten in dem stählernen Blau die ungestüme Nacht herannahen sehen. Keine Wolke war es, die den nächtlichen Sturm ankündigte, kein kalter Luftzug. Selbst die Vögel in den Stadtbäumen sangen vereinzelt noch vergnüglich ihre Lieder. Nein, es war vielmehr die Spannung, die in der Luft lag. Eine geradezu knisternde Ladung, welche die Bewohner der Stadt Blicke an den Himmel werfen ließen.


    Nur nicht Silene. Die Valisar sah nicht an den Himmel. Ein unnützer Blick, der nichts neues verriet.
    Traurig.


    Traurig fühlte sich die Valisar nie. Früher hatte sie es gekannt, jenes schmerzende Ziehen in der Brust, die Enge, wie sie in der Kehle entstand, das trockene Brennen, dass sie in den Augen weckte. Früher hatte sie oft geweint, aus Freude, aus Trauer, aus Verzweiflung oder in entfesselter Lust. Heute blieb ihr Auge trocken, so trocken wie es schon seit Jahrzehnten war. Trocken wie das Straßenpflaster unter ihren Schuhen.


    Langsam und doch zielstrebig lief sie die Straße hinunter, auf ihrem Weg zu ihrem Anwesen, der durch den Park führte. Wie hätte es auch anders sein können, wie hätte eine Valisar schlendern können, wie hätte sie sich in der Leichtigkeit des Laufens verlieren können? Wie wäre es ihr möglich gewesen, zu genießen was sie tat - ihr Auge schweifte, ja, doch sah es gezielt Dinge an, betrachtete, beobachtete.
    In sich spürte sie das kalte Sehen. Es war das einzige Gefühl, dass sie hatte behalten dürfen. Sie fühlte es nicht jeden Tag, nicht jederzeit, doch in diesem Moment, jetzt grub es in ihr. Wie der weiße, dichte Rauch, der über einer Räucherschale aufstieg, wand sich dieses Sehnen durch ihr Innerstes, berührte das erfrorene Herz, ließ es unter der Berührung aufseufzen und erzittern, wie vor Äonen Silene unter der Berührung Geliebter geseufzt hatte.
    Dieses Gefühl war gefährlich, denn niemals wieder wollte sie ein warmes Herz erdrosseln. Nie wieder wollte sie das Gefühl in anderen auslöschen, wie sie es getan hatte. Silene, die Verfluchte, sie hatte Herzen gebrochen, verletzt, zerrissen, verbluten lassen. Nun, da ihr eigenes Herz nicht mehr bluten konnte, nun, da es erstarrt war, starr und kalt, staubig wie die Oberfläche eines Mondes, konnte sie all dies nicht mehr empfinden.


    Manchmal, da merkte Silene, wie sich das alte Herz daran erinnerte, an längst vergangene Zeiten. Als Silene noch fühlte, als die Valisar noch warm war. Jeden Tag lebte, als sei es ihr letzter. Diese Tage waren längst vergangen, keiner lebte mehr, der ihr von diesen Zeiten hätte erzählen können. Niemand, der sie damals gekannt hatte, wandelte noch unter der Kuppel. Niemand, der den Unterschied hätte sehen oder beschreiben können, außer ihr selbst.
    Altes Herz ... altes, kaltes Herz. Wie viel Zeit ist vergangen, seit wir zum letzten Mal im Licht badeten? Wie lange ist es her, dass wir pulsierten, warm, seidig, rauschend das Blut unter der Haut fühlten? Wann hatte der Wind das letzte mal einen Duft getragen ... ein Gefühl, eine Stimmung übertragen? Hat er das jemals getan?
    All diese hohlen, leeren Jahre, sie drängten sich der Valisar auf, sie wurden überpräsent, sie würgten sie, sodass die Valisar nicht mehr flach und lautlos atmete, sondern die Luft zischend einatmen musste.


    Sie erinnerte sich gut an die ersten Tage nachdem der Fluch sie traf, denn für die Gefühllose lagen diese Tage nicht weit in der Vergangenheit. Für gefühllose, alterlose Wesen verging die Zeit anders. Mit dem Gefühl für Liebe und dem Gefühl der Wärme, weicht auch der Sinn für die Zeit. Ganz zu Beginn war es, als wäre sie gestorben. Ein Nichts. Stille. Silene war tot. Lediglich das vertrocknetes Abbild eines Wesens, dass einst vor Leben gesprudelt hatte.


    Wann verschwammen die Grenzen so sehr, dass man sie vergaß?
    Wie lange musste man lügen, bis aus der Lüge Wahrheit wurde?
    Oder hatte sie diesen Punkt schon längst erreicht?

    Klirrend zerbrach eine weitere Sekunde und lies ihre Splitter auf die Valisar niederregnen. Wie an jedem Tag der Woche, wie an jedem Tag ihres Lebens als Erfrorene, war sie aus einem traumlosen Schlaf erwacht, sich weder wach noch schläfrig fühlend, weder zuversichtlich noch verbittert. Nichts.
    Wie immer wand sich das Nichts in ihr, streckte wabernde, klebrige, neblige Finger nach ihr aus, berührte sie ungespürt und ungesehen. Die Zeit verrann, verstrich, floss dahin wie ein ruhiger Strom, so erschien es den Warmblütigen, den Fühlenden, den Lebenden. Silene wusste, dass dem nicht so war. Sie wusste, dass der Fluss der Zeit zuweilen durchwühlt wurde, sich schäumend an spitzen Felsen brach, durchdringen zischte und geiferte wie ein tollwütiger Hund. Und hin und wieder, wenn auch selten, stand sie still wie erfroren. Wie ein knisternd erstarrter See, umsäumt von im Frost zerbrechenden Erinnerungen.
    So war der heutige Tag ein gesehender Tag wie jeder. Es war nicht, dass Silene wusste, gesehen hatte, was heute geschehen würde. Das Wissen darum interessierte sie auch nicht ... warum sollte sie dies in Erfahrung bringen wollen, es brachte ihr nichts, keine Idee eines Gefühls. Wofür so manch ein Fühlender ein Vermögen gegeben hätte - zu sehen, was Silene sah - es ging spurlos an ihr vorrüber. Sie sah nicht für sich selbst.


    Sie hatte all ihre Wärme, all ihre zauberhaften Gefühle und Stimmungen, ihr Herz, ihr Leben ... all dies hatte sie verloren und nur eines hatte sie anstatt dessen erhalten. Das Sehen.


    So raffte sie ihre schwarzen Gewänder - ein bodenlanger schmuckloser Rock und eine weitärmelige Bluse mit zarter Spitze am Kragen - wie an jedem Tag der Woche, wie an jedem Tag ihres Lebens, setze sich aufrecht an das kleine Tischchen mit dem dunklen Samtsack voller Steine. Sie faltete die Hände in gewohnter, eingeübter Manier, strich sich ihr Silberhaar hinter ihre Ohren, schloss die Lider über ihren eisigen Augen, von einem Schleier verborgen, und wartete.


    Ungerührt saß sie, während ein weiterer Moment zerklirrte, zerplatze wie ein Spiegel auf den man einen Stein geworfen hatte.

    Hallo ihr Lieben!


    Nachdem ich zur zeit eine enorme Lust aufs Schreiben verspüre und auch ein wenig mehr Zeit dafür habe als letztes Semester - bin ich wieder hier und Silene öffnet die Pforten zu ihrem Zelt. Wer auch immer es wagen wird, es zu betreten ... dem wird sie versuchen die Zukunft zu deuten.


    Aber ich muss natürlich auch sagen, dass ich es vielleicht mal 1-2 Wochen nicht schaffen werde zu antworten, aber ich werde es natürlich versuchen :)


    Ich freue mich auf neue Gäste,
    Silene aka Layia

    In manchen Momenten wurde Silene ihr enormes Alter bewusst. Man konnte nicht sagen, dass sie sich alt fühlte - wie hätte sie das auch bewerkstelligen sollen - nein, es war ihr, als habe sie den Zenit ihres Lebens erreicht, gleichzeitig wissend, dass es ihn nicht gab. Wie Liliande und Yanariel es ihr auferlegt hatten nicht sterblich zu sein, hatte der Fluch Silene das Gespür für die Zeit genommen, das Gefühl vorbeiziehender Momente geraubt.
    Sie saß der Cath'shyrr gegenüber, in jenem von diffusem meerischem Licht erfüllten Zelt in dem sie sich zuerst begegnet waren. Nichts erinnerte an die kurze, lange Reise, die sie beide unternommen hatten, nichts konnte der Cath'shyrr sagen, ob sie nur kurz die Augen geschlossen und sich einem Gedanken hingegeben hatte oder tatsächlich für lange Momente in eine andere, noch verwirrendere Welt gesehen hatte. Auch Silene mit ihrem fehlenden Gefühl für die Zeit konnte ihr es nicht sagen.


    "Ich habe nichts gesagt. Es ist was Ihr sagtet.", sprach die Seherin schließlich, fasste Yareas Worte wieder auf und ein feines Lächeln zierte die weißen Lippen. "Ihr habt es bereits verstanden, glaubt mir."


    Die kühle Hand der Valisar löste sich von Yareas, die Finger fanden ihren Zwilling an der anderen Hand, bildeten einen Globus, einen Kosmos aus weißen, langen Fingern. Der eiskalte Blick unter den wie von Reif gesäumten Wimpern lag auf den Zügen ihres Gegenübers, das Lächeln auf den Lippen wirkte erstarrt.
    Silene wusste, dass Yarea ihre Worte im Gedächtnis behalten würde, denn was man dort gesehen hatte, konnte man nicht vergessen. Was man dort sah, war nichts anderes als das, was man ohnehin schon gewusst hatte. Noch bevor man sich selbst die Frage danach gestellt hatte. Ein Paradoxon. Ein Verwirrspiel der Götter. Ein Glück.

    Die Seherin ließ ein lobendes Lächeln auf ihren Lippen erscheinen, eine der zahllosen Nuancen, die sie beherrschte. "Gut. Nebel, Schatten, Schemen ... " Silene trat ein paar Schritte zurück, verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, begann durch den Raum zu streifen, den Blick an die Deckengewölbe gerichtet. Nach einem langen Schweigen wandte sie sich wieder Yarea zu. "Eure Zukunft ist genau so, wie Ihr sie soeben gesehen habt. Sie erscheint Euch genau so, wie Ihr wollt, dass sie erscheint."


    Besaß man die steinerne Gleichgültigkeit eines Wesens, das zu Gefühlen nicht befähigt war, deren blasse Erinnerungen an diese ausgehöhlt, erfroren waren, so war es ein leichtes zu warten. Zeit spielte keine Rolle und Silene wollte, dass Yarea von alleine begriff. Sie beobachtete jede Bewegung der Cath'shyrr genau. Hinzunehmen, dass man nichts Fassbares sehen konnte, nicht klar sehen konnte, vernebelt zu sein von diesem golden glänzenden Gut, dass Silene längst nicht mehr besaß - das musste für sie schwer sein. Nun, da die junge Frau die einmalige Gelegenheit hatte, ihre Zukunft zu sehen, nun, da sie sich auf der Ebene befand auf der Silenes Auge stets für andere sah, nun konnte sie nichts sehen, dass ihr Auskunft gab.


    "Auch deswegen habe ich Euch hier her gebracht. Das Leben ist wechselvoll. Jeder Augenblick verändert Eure Zukunft. Jedes Wort, das Ihr sprecht, jede Entscheidung, die Ihr trefft, vermag Euch eine andere Zukunft zu bringen."
    Eine Seherin, die sich geschlagen gab? Für Yarea nicht sah, wie sie anderen sah? "Ich weiß, es ist nicht das, was Ihr Euch von mir erhofft habt. Doch gedenkt dieser Worte, wenn Ihr das nächste Mal sprecht, denkt, entscheidet."


    Silene atmete lautlos ein und ihr Blick wanderte wieder an den unsteten Gewölben entlang.
    "Seid geduldig. Ich sehe Proben. Ungeduld, die Eure Sache gefährdet. Die Zeit arbeitet für Euch.", sagte die Seherin, tastete sich hinter den Nebel und die Schemen, wie es ihr Auge gewohnt war. "Auch sehe ich, dass Neigungen in Euch wach werden, von denen Ihr bisher nichts ahnen konntet. Stellt Euch diesen. Findet heraus, ob sie Euren Überzeugungen widersprechen."
    Nachdem diese Worte gesagt waren, begab sich zurück an das Tischchen, wartete bis auch Yarea sich gesetzt hatte, bot ihr erneut die schneeweiße Hand an. Es gab in diesen Gefilden nichts mehr zu sehen, auch nicht für Silene.

    Welche Stränge Silenes Gedanken woben, blieb der Cath'shyrr verborgen, denn die Valisar zeigte keinerlei Regung. Kein Schleier verbarg das blanke Gesicht, den Fluch der auf allen Valisar lastete zu verbergen, das Gesicht verriet sich in eiseskalter Makellosigkeit. Ein flüchtiger Gedanke wand sich hervor, ein perfektes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. An einem Ort wie diesem war es ein leichtes, es zu vervollkommnen. Noch während es auf ihren blassen Lippen verweilte, erhob sie sich und ging um das Tischchen herum, verweilte vor Yarea, die Hände ineinander verwoben vor dem Körper ruhend. Der Cath'shyrr gegenüberstehend verstärkten sich Kontrast und Ähnlichkeit der beiden Gestalten, Silene vernahm eine Annäherung, verfolgte mit eisigen Augen die Bewegung, die weißsilbernes Haar forttrug. "Ihr seid die Meisterin der Illusionen, Yarea.", sagte sie und ihr Blick sah wieder in die Augen ihres Gegenübers.


    "Was nun geschieht, liegt an Euch. Was seht Ihr, wenn Ihr Euch umseht?", sagte Silene, hob eine Hand um schweifend an die weiße Kuppel über ihnen zu deuten. "Was seht Ihr in den spiegelnden Welten hinter den Wänden? Tretet nur näher heran und sucht danach."


    Mit diesen Worten trat die Seherin näher an die Cath'shyrr heran, einen kalten Hauch mit sich tragend, überquerte die Distanz zwischen ihnen mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Etwas in ihrer Anwesenheit erfüllte die Atmosphäre mit einer Ahnung von Endgültigkeit. Der Duft der Ewigkeit haftete der Valisar an, umwehte sie und druchtränkte auch die Luft an diesen Ort. Nah und real wirkte die blasse Gestalt, zugleich doch fern, wie eine porzellanene Puppe, deren Züge man um alles berühren möchte um zu erfahren ob sie sich weich anfühlen.
    Eine der weißen, feingliedrigen Hände kam federleicht auf der Schulter der Cath'shyrr zu liegen, nahm sie mit sich um näher an die Wände zu treten. "Seht genau hin.", forderte die Seherin Yarea auf und wies erneut auf die diffus wirkende weiße Fläche. Ihre eigenen Augen begannen bereits im Nebel zu graben, sie waren es gewohnt, beschritten bekannte Wege.

    "Wohlan, denn, Yarea.", sagte die Valisar und schlug einen leicht bedeutungsvolleren Ton an, nahm die Berührung ihrer Hände als winziges Tor wahr, das sie nun durchschreiten musste. Der Weihrauch drängte sich den Nasen auf, umnebelte den ein oder anderen Sinn, nahm den Dingen ihre Kanten und scharfen Umrisse und stellte sie doch klarer heraus. Silenes gläserner Blick aus blasstoten Augen lag wider Erwarten nicht auf dem Antlitz der Cath'shyrr, sondern versenkte sich in ihr selbst als sie die Lider schloss. Sie bat Liliande und Yanariel um ihren Beistand, dann begann es.


    Ein Nebel legte sich über ihre Seherkraft, ihr Seherauge trübte sich, sich alleine zu dem Zwecke dieser Reise für Yarea öffnend, weit genug, dass auch sie durch dieses Auge sehen konnte. Das Gefühl von Zeit verschwand, als Silene sich mit Yarea in den Zustand tiefster Meditation versenkte, in einen Zustand in dem auch für Yarea die Strömungen im Meer des Schicksals spürbar wurden.
    Die Präsenz der Seherin machte sich nur noch durch die Sachtheit einer Berührung bemerkbar, ein Hauch hätte die Cath'shyrr wie aus einem Traum geweckt, nicht wissend ob sie für einen Moment geträumt oder gewacht hatte. Dann klärte sich der Nebel, es hob sich der Schleier von ihrer beider Augen und es bot sich das Bild eines leeren Raums. Weder Imagination noch Realität war er, seine Wände bestanden nicht und doch konnte das Auge der Cath'shyrr sie ebenso sehen, wie Silene sie sah. Ein einzelnes Schicksal hatte sie herausgelesen wie eine Nadel aus einem Heuhaufen, wie einen einzelnen Faden aus einem Gewirr tausender roter Fäden.
    Weiter bildete Silene ein Erscheinungsild für sie beide heraus, einen Ort, der nicht existent war und doch auch existierte, ein weißer Raum mit dem gleichen Tisch und dem gleichen Paar Stühle, dem gleichen Paar Gestalten, eine Valisar, eine junge Cath'shyrr. Ob sie sich noch in eben jenem Zelt befanden mit seinem meerischem Schimmer oder irgendwo fern jedes realen Ortes konnte man nicht aus ihm erfahren.
    Die Seherin hatte diese Form gewählt, damit sich die Cath'shyrr niedersetzen konnte, damit sie etwas vor sich und mit sich hatte, dass sie kannte. Die Cath'shyrr würde in ihr eigenes Schicksal blicken können, es wie ein Portrait an den Wänden oder wie eine Geschichte in einem Buch lesen können, in der Form, die sie für sich heraussuchte. Es wäre keinerlei Bild vonnöten gewesen, auch Silene benötigte es schon lange nicht mehr.


    Ein tiefes, meeresgleiches Rauschen drang von irgendwo hervor, als sie angekommen waren, sie beide tief genug in sich selbst versunken waren, um gemeinsam zu sehen. Silene öffnete die stahlblauen Augen wieder, wartete auf Yareas Ankommen und ihr Erwachen am Ort der Seherkunst, in den Hallen, in denen sich Schicksale wie gewundene Pfade auftaten und erklärten. "Lasst Euch Zeit.", klang die vertraute Stimme der Valisar nahe und doch auf diffuse Art fern. "Ihr seid an einem Ort, an dem die Zeit nichtig ist."

    Die Valisar nickte sacht, faltete die Hände erneut in leicht veränderter Art und ließ sie in ihrem Schoß zur Ruhe kommen. Ungewöhnlich erschien ihr diese Begegnung, denn selten verlangte es jemanden nach der Zukunft als eine Vergangenheit späterer Tagen. Es war ungewöhnlich, dass eine Frau, deren Augen vor jungem Leben sprühten, nach Erinnerungen fragte, die sie im Herbste ihres Lebens erzählen wollte. Es war mehr als Neugierde, mehr als nur die verlockende Gelegenheit in eine Welt blicken zu dürfen, die sonst verschlossen blieb.
    Silene wägte ab, ob sie Yarea erzählen sollte, ob sie die Steine oder den Rauch befragen sollte, doch ihr sehendes Auge hatte schon längst ein anderes Ziel gefunden. Phantasie wohnte hinter der Stirn der Cath'shyrr, eine Phantasie, die es Silene ermöglichte sie selbt reisen zu lassen. So ließ die Valisar einen weiteren Hauch von Lächeln erscheinen, mit dem Ziel, ein wenig ihrer unheimlichen Wirkung zu verdrängen, Vertrauen zu wecken. Denn gab es Vertrauensunwürdigeres als einen emotionslosen Geist?


    "Ihr fragt mich nach dem, was mir wichtig erscheint ...", sprach Silene und ließ ihren Blick ruhen, abflauen, doch stach er immer noch eisig aus ihrem Gesicht heraus. EInen Moment zogen ihre Gedanken tatsächlich an Wichtigem vorbei, berührten es vorsichtig mit spitzen Fingern und zogen sie erschreckt wieder zuück, als sie sich verbrannten. Ein Hauch der Melancholie war spürbar, sie schlich sich unbemerkt ein und nistete in Silenes Worten. "Ihr wollt nicht erfahren, was einer Valisar wichtig dünkt."


    Eine Silbersträhne glitt vor Silenes Gesicht, wurde von weißen, langen Fingern wieder an ihren Platz zurück getragen, als sei dies eine wichtige Handlung, als sei es eine bedeutsame Geste um ihre Worte zu unterstreichen. Ihr Geist begann aus dem Schicksalsgeflecht zu lesen, die Fäden heranzuholen, die den Weg der Cath'shyrr beschrieben. Dann hob sie ihre kalte Handfläche der Jüngeren entgegen, bot sie ihr an. "Ich kann Euch mein Auge öffnen und Euch auf dem Weg zu Euren Schicksalsfäden begleiten. Doch seid auch gewarnt. Was ihr Zukunft nennt ist veränderlich, jede Eurer Entscheidungen kann sie verändern, Dinge die Ihr seht müssen nicht eintreten und nicht alles werdet Ihr sehen."