Der Nachtelf hätte seine Kapuze nicht abnehmen müssen, um Silene seine Herkunft zu verraten. Doch die Geste tat ihre Wirkung.
Flüchtige Gedanken streiften sie in ihrer steingleichen Starre, doch die einzige Bewegung, die man vernehmen konnte, war das Niederschlagen ihrer Augenlieder und ein tiefes Atmen.
Es klang fast wie ein Seufzen und doch war es nicht mehr als ein kaltes Ausatmen, das Ausstoßen eines kalten Hauchs. Silene blickte den Elfen lange an, ließ ihre Gedanken wie Wolken vorrüberziehen, hörte sich seine Fragen schweigend an, ehe sie sich endlich aus ihrer Starre löste und das Kinn ein wenig anhob um ihn genauer anzusehen.
Im Halbdunkel des Zeltes, im geheimnisvollen Schimmern der blauen Laternen, im Meereslicht, schienen seine Augen zu leuchten wie die der zahlreichen Nachttiere, denn sie saugten jedes noch so spärliche Licht auf um zu sehen. Mit diesen Augen konnte er selbst im Dunkel vermutlich perfekt sehen... wie ironisch, dass ihm deswegen noch lange nicht der Blick in die Zukunft gewährt wurde.
Silene erkundete Gemeinsamkeiten, die sie hatten. Es war ein Zusammentreffen zweier Verfluchter, zweier Sehnsüchtiger. Was hatte es zu bedeuten, dass eine Sehnsucht nach der Sonne, genauso grausam sein konnte, wie die Sehnsucht nach all den Gefühlen? Oder war sie gar noch grausamer? Zu wissen, dass man sie niemals erreichen konnte, erfüllt bis in die letzte Faser von Sehnsucht, Trauer, Hass auf eine Göttin, Verzweiflung, Wut und ungebändigter Zorn ... Schmerz. Das Gefühl von Schmerz.
Eines der Gefühle, die SIlene besonders begehrte. So viele beneideten sie darum, es nicht zu empfinden.
Er wünschte sich Objektivität. Eine solch reiche Quelle an Objektivität wie Silene konnte man wohl kaum finden.
Sie analysierte die Gründe für die ersten Fragen, die er ihr entgegenbrachte, für die ersten Worte, die er an sie richtete. Sie wägte ab, welche der Fragen ihm wichtiger war, welche zuerst einer Antwort bedurften.
"Seid gegrüßt.", erwiderte sie höflich, ließ ein Lächeln über ihre Lippen perlen. Sie verengte ihre Augen unmerklich ein wenig, als sie berechnete, wie weit sie gehen konnte. "Lasst mich mit einer Frage antworten: Konntet Ihr auf jenem Schild, dort draußen an meinem Zelt - etwas davon vernehmen, dass meine Fähigkeiten jemandem vorenthalten bleiben?"
Silene löste die Geste ihrer Hände auf und legte sie stattdessen aufeinander. "Betrachtet es realistisch... das ergäbe keinen Sinn."
Wieder ließ sie ein Lächeln durch den Raum schweben, doch diesmal starb es schon bevor es auf ihrer Mimik erscheinen konnte. Sie sah ein schweres Schicksal auf dem Nachtelfen lasten, ein Schicksal, weit schwerer als man es vermuten könnte. Das alles ging über die Verachtung einer Hautfarbe, einer Göttin oder eines Volkes hinaus ... es waren tiefe Wunden, die er mit sich trug, die er verbarg.
Nun, da seine Kapuze sein gesicht nicht mehr verdeckte wurden sie seinen Gesichtszügen offenbar; sie sprachen ihre ganz eigene Sprache. Sie begegnete seinem goldenen Blick ohne ihr Zutun mit blanker Kälte.
"Zu Eurer ersten Frage.", nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. "Was ich verlange, hängt davon ab, was es Euch wert ist Eure Antworten zu erhalten."