Für eine lange Zeit tat sie nichts, als ihn zu beobachten und mechanisch ihre Schüssel leer zu essen. Ihre ausgehungerten Sinne stürzten sich geradezu auf dieses neue Objekt und selbst als sie die Schüssel geleert hatte, blieb sie stehen und starrte ihn weiter untätig an. Es gab nichts zu tun.
Zwischen diesen Mauern und Gittern wurde jeder neue Tag zu einer immer blasser werdenden Kopie des vorhergehenden. Nach kurzer Zeit hatten sich die Sinne schon an den wenigen Eindrücken sattgespürt und lechzten nach mehr, nach etwas neuem, dass sie verarbeiten durften. Bald begannen sie damit, sich selbst zu beschäftigen. Von den rauen Steinen schienen Gesichter hinabzusehen, jede Kerbe wurde ein hämisch verzogener Mund, jedes Loch ein starrendes Auge, das sich niemals schloss.
Innerhalb weniger Wochen begann das Hirn damit, Situationen zu kreieren, die niemals stattgefunden hatten, noch jemals stattfinden würden. Ereignisse verschiedener Tage verschmolzen nahtlos miteinander, vernichteten alles, was von einem Zeitgefühl noch geblieben war. Der Wahnsinn klopfte leise an und nahezu jeder riss ihm weit die Tore auf.
Was sich zunächst als lästige, aber halbwegs erträgliche Langeweile ankündigte, wurde bald jedem hier zur unerträglichen Qual, trieb so manchen dazu, rastlos auf und ab zu gehen, unaufhörlich, unermüdlich, stumpfsinnig in ihren Zellen umherzuwandern wie gefangene Tiere.
Und nichts anderes sind sie., dachte Uera und widmete dem Echsenmann einen letzten Blick, bevor sie sich auf den Boden setzte und den leeren Blick an die Wand richtete. Und sie nannten Uera ein Tier? Weil sie sich nicht beugen ließ?
Ihr eigener Geist hatte ähnliche Spiele mit ihr treiben wollen, doch sie hatte ihn schon oft genug in ihrem Leben dabei beobachtet, kannte ihn gut genug um sich mühelos über seine Tricks hinwegzusetzen. Uera hatte schon vor Jahren gelernt, ihre Empfindungen in die Falle zu locken, sie einzukapseln, tief in sich zu vergraben und sich stattdessen an Mustern festzuhalten, die unverrückbar waren. Tief in diese Teilnahmslosigkeit versunken, ließen sich mit einem Mal Dinge ertragen, die zuvor unerträglich schienen. Es war eine List, eine Technik, die nur wenige hier zu beherrschen schienen.
Routinierte Abläufe gaben ihr Halt in der Leere. Dinge, wie die Rekapitulation von Fakten, die sie als richtig kannte und das Erinnern an möglichst viele Details, an das, was sie hier her gebracht hatte, beschäftigte ihren Kopf.
Liegestützen, Rumpfbeugen, Klimmzüge, Schattenboxen … all das beschäftigte ihren Körper, sorgte dafür, dass sie bei Kräften blieb und zumindest ein paar Stunden in jeder Nacht schlafen konnte. Und dann waren da natürlich noch die nächtlichen Kämpfe, tief in den Innereien des Verlieses, verborgen vor der Außenwelt doch rege besucht von deren Wesen.
Der plötzliche Aufschrei der Echse jagte einen Schrecken durch Ueras Glieder, ließ ihre Kopfhaut prickeln, als hätte ihr jemand kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Ihre Augen hefteten sich wieder auf ihn. Sie beobachtete stumm, wie er sich in eine sitzende Position quälte, wie sich die Pupillen der Schlangenaugen einstellten und schließlich scharfstellten. Ihre Blicke begegneten sich, fochten einen stillen Kampf, doch es löste keinerlei Regung in Ueras Gesicht aus. Dann sprach es ... er ... sie an.
Ein Funke erschien in den ungläubigen, grauen Augen der jungen Frau. Einen Sekundenbruchteil später brach sie prustend in schallendes Gelächter aus. Kühl reflektierten die Steinwände das überzeichnet wirkende Geräusch, ließen es fast schon unheimlich klingen, verstörend. Sie konnte einfach nicht anders, die Situation war viel zu komisch um wahr zu sein und für einen Moment zweifelte sie ernsthaft ihren Geisteszustand an.
Es fiel ihr schwer sich wieder zu sammeln und als sie schließlich wieder einigermaßen atmen konnte und ihr Lachen endlich verklungen war, musste sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel streichen.
"Welch eine Ehre!", antwortete sie heiser, hüstelte noch ein kleines Lachen hinterher, setzte dann aber eine gefasste Miene auf und ihr Blick und ihre Stimme wurden schlagartig kalt. Hoffentlich bedeuteten seine Worte nicht, dass er zur redseligen Sorte der Trockenen zählte. "Wenn du etwas wichtiges zu sagen hast, raus damit."