Beiträge von Uera

    Für eine lange Zeit tat sie nichts, als ihn zu beobachten und mechanisch ihre Schüssel leer zu essen. Ihre ausgehungerten Sinne stürzten sich geradezu auf dieses neue Objekt und selbst als sie die Schüssel geleert hatte, blieb sie stehen und starrte ihn weiter untätig an. Es gab nichts zu tun.
    Zwischen diesen Mauern und Gittern wurde jeder neue Tag zu einer immer blasser werdenden Kopie des vorhergehenden. Nach kurzer Zeit hatten sich die Sinne schon an den wenigen Eindrücken sattgespürt und lechzten nach mehr, nach etwas neuem, dass sie verarbeiten durften. Bald begannen sie damit, sich selbst zu beschäftigen. Von den rauen Steinen schienen Gesichter hinabzusehen, jede Kerbe wurde ein hämisch verzogener Mund, jedes Loch ein starrendes Auge, das sich niemals schloss.
    Innerhalb weniger Wochen begann das Hirn damit, Situationen zu kreieren, die niemals stattgefunden hatten, noch jemals stattfinden würden. Ereignisse verschiedener Tage verschmolzen nahtlos miteinander, vernichteten alles, was von einem Zeitgefühl noch geblieben war. Der Wahnsinn klopfte leise an und nahezu jeder riss ihm weit die Tore auf.
    Was sich zunächst als lästige, aber halbwegs erträgliche Langeweile ankündigte, wurde bald jedem hier zur unerträglichen Qual, trieb so manchen dazu, rastlos auf und ab zu gehen, unaufhörlich, unermüdlich, stumpfsinnig in ihren Zellen umherzuwandern wie gefangene Tiere.
    Und nichts anderes sind sie., dachte Uera und widmete dem Echsenmann einen letzten Blick, bevor sie sich auf den Boden setzte und den leeren Blick an die Wand richtete. Und sie nannten Uera ein Tier? Weil sie sich nicht beugen ließ?
    Ihr eigener Geist hatte ähnliche Spiele mit ihr treiben wollen, doch sie hatte ihn schon oft genug in ihrem Leben dabei beobachtet, kannte ihn gut genug um sich mühelos über seine Tricks hinwegzusetzen. Uera hatte schon vor Jahren gelernt, ihre Empfindungen in die Falle zu locken, sie einzukapseln, tief in sich zu vergraben und sich stattdessen an Mustern festzuhalten, die unverrückbar waren. Tief in diese Teilnahmslosigkeit versunken, ließen sich mit einem Mal Dinge ertragen, die zuvor unerträglich schienen. Es war eine List, eine Technik, die nur wenige hier zu beherrschen schienen.
    Routinierte Abläufe gaben ihr Halt in der Leere. Dinge, wie die Rekapitulation von Fakten, die sie als richtig kannte und das Erinnern an möglichst viele Details, an das, was sie hier her gebracht hatte, beschäftigte ihren Kopf.
    Liegestützen, Rumpfbeugen, Klimmzüge, Schattenboxen … all das beschäftigte ihren Körper, sorgte dafür, dass sie bei Kräften blieb und zumindest ein paar Stunden in jeder Nacht schlafen konnte. Und dann waren da natürlich noch die nächtlichen Kämpfe, tief in den Innereien des Verlieses, verborgen vor der Außenwelt doch rege besucht von deren Wesen.


    Der plötzliche Aufschrei der Echse jagte einen Schrecken durch Ueras Glieder, ließ ihre Kopfhaut prickeln, als hätte ihr jemand kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Ihre Augen hefteten sich wieder auf ihn. Sie beobachtete stumm, wie er sich in eine sitzende Position quälte, wie sich die Pupillen der Schlangenaugen einstellten und schließlich scharfstellten. Ihre Blicke begegneten sich, fochten einen stillen Kampf, doch es löste keinerlei Regung in Ueras Gesicht aus. Dann sprach es ... er ... sie an.
    Ein Funke erschien in den ungläubigen, grauen Augen der jungen Frau. Einen Sekundenbruchteil später brach sie prustend in schallendes Gelächter aus. Kühl reflektierten die Steinwände das überzeichnet wirkende Geräusch, ließen es fast schon unheimlich klingen, verstörend. Sie konnte einfach nicht anders, die Situation war viel zu komisch um wahr zu sein und für einen Moment zweifelte sie ernsthaft ihren Geisteszustand an.
    Es fiel ihr schwer sich wieder zu sammeln und als sie schließlich wieder einigermaßen atmen konnte und ihr Lachen endlich verklungen war, musste sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel streichen.
    "Welch eine Ehre!", antwortete sie heiser, hüstelte noch ein kleines Lachen hinterher, setzte dann aber eine gefasste Miene auf und ihr Blick und ihre Stimme wurden schlagartig kalt. Hoffentlich bedeuteten seine Worte nicht, dass er zur redseligen Sorte der Trockenen zählte. "Wenn du etwas wichtiges zu sagen hast, raus damit."

    Das Geräusch eines schweren, weichen Gegenstandes, der schleifend über den Steinboden gezogen wurde, ließ Uera von ihrer Schüssel aufsehen. Ihr Blick ging zu den Gitterstäben. Was sich zunächst nach einem riesigen Zementsack anhörte, den die drei Männer hinter sich her zerrten, entpuppte sich als ein erstaunlich großer, muskulöser, aus irgendwelchen Gründen seltsam wirkender Körper. Ihre Augen leuchteten aus dem Dunkel der hintersten Ecke der Zelle den Männern entgegen, die den Leib eines neuen Insassen in seine Zelle hievten. Direkt gegenüber. Stumm fluchend erhob sich von ihrer Pritsche, blieb jedoch zurück. Nicht schon wieder. Sie hatte keine Lust auf einen neuen Zellennachbarn.
    Das metallische Klirren und Kreischen der Stange an ihrem Gitter tat in ihren Ohren weh, ließ eine steile Falte zwischen ihren Augen entstehen, doch sie bemühte sich, nicht all zu gequält zu wirken. Stumm fasste sie den Mann in ihren starren, stahlgrauen Blick. Es bereitete diesen Leuten so unvergleichlich viel Freude, sie zu schikanieren.
    Bleichbacke! Unbemerkt trat ein feindseliges Funkeln in ihre Augen, als er das Wort an sie richtete. Besuch für Dich. Noch ein Monster! Ueras Hand verkrampfte sich ohne ihr Zutun um die hölzerne Schüssel und den darin befindlichen Löffel und vor ihrem inneren Auge entstanden lebhafte Bilder davon, wie sie der Trockenhaut den ungenießbaren Brei eintrichtern würde und ihm dabei zusehen würde, wie er jämmerlich daran erstickte. Braaaaaaaav … brav aufessen!


    Äußerlich wirkte die Yassalar so gleichgültig als hätte sie die Worte nicht gehört und tatsächlich vernahm sie statt der derben, schon tausende Male gehörten Witze nur ein undefiniertes Murmeln, ohne darin die Konturen einzelner Worte zu erfassen.
    Als sich die Männer entfernt hatten, trat sie schließlich näher an das Gitter, sah mit eisiger Miene hinüber in die andere Zelle. Tatsächlich, der Kerl, der dort drüben am Boden lag, erinnerte auch sie an ein Tier. Uera konnte ovale, schillernde Schuppen an seinem Leib ausmachen. Anders als ihre Schuppen. Die eigenen, schwarzen und silbernen Schuppen waren fein, fast unsichtbar, glatt in die eine Richtung und rau wie Schleifpapier in die andere. Die des fremden Geschöpfes dort drüben wirkten glatt und kalt wie Schlangenleder. Plötzlich hob es den Kopf, sah sie an und Uera wurde schlagartig ein wenig übel.
    Unsicher, ob es an den zuvor mühevoll heruntergewürgten Breiklumpen oder an dem seltsam gestalteten Kopf lag, konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie wegsehen oder phasziniert starren wollte. Eine morbide Neugier heftete ihren Blick auf das Gesicht, machten es unmöglich ihn abzuwenden. War seine Nase gebrochen, oder sah sie immer so aus? Und was hatte es für Auswüchse an seinem Schädel? Es sah aus wie ... Knochen?
    Die goldbraunen, geschlitzten Augen des … Wesens … schlossen sich wieder und der Kopf sackte zurück auf den Boden. Dankbar darüber, dass es vorerst nicht sprach, blieb Uera in der Nähe des Gitters, lehnte sich an die Mauer und aß weiter, ließ ihren Blick unverhohlen über die am Boden liegendene Gestalt gleiten. Mit einem derart ... ungewöhnlichen Zellennachbarn hatte sie nicht gerechnet, es versprach doch interessant zu werden und sie nahm die stillen Flüche zurück.
    Was in aller Götter Namen hatten sie da nur gefunden? Und vor allem wo? Vielleicht sollte sie einfach fragen … wenn es denn sprechen konnte ... und wenn es wieder ganz bei Bewusstsein war.

    Nichts ließ einen Zweifel daran entstehen, dass er sie in der Hand hatte. Die Gewissheit, ihm und seinem Urteil nicht entgehen zu können, arbeitete sich durch ihr Bewusstsein, wie sich die Glut durch ein Stück Salpeterkohle fraß.
    Unter seiner pechschwarzen Haut verbarg sich ein gewandter Hai, der unvergleichbar kühl und berechnend war, aufmerksam lauernd seine Beute umkreiste, ihr den Fluchtweg abschnitt, geduldig den richtigen Moment abwartete, um zuzuschlagen. Doch für einen Augenblick schien er diese Aufmerksamkeit verloren zu haben und abgelenkt zu werden.
    Zunächst irritierte es Uera, doch im nächsten Moment begriff sie, was seine Aufmerksamkeit gefangen hielt. Ihre Augen hatten es scheinbar wieder getan, hatten sich verfärbt. Sie hatte keine Möglichkeit zu wissen, welche Farbe es diesmal gewesen war, etwa das bedrohlich violette Leuchten, das auch Yassalaraugen zeigen konnten? Das stählerne Blau eines Wintermorgens, das aquamarinfarbene Leuchten eines Vulkansees? Oder war es etwa eine meerische Farbe gewesen? Was auch immer es gewesen sein mochte, weder ihr noch ihm war es entgangen.


    Wie eine Welle, die vom Ozean an den Strand zurückgeworfen wurde, trat die Härte wieder in seine Züge und in seine Stimme. Gut. Sie verfolgte seine Schritte zur Tür, bemerkte die bauchige Flasche, die er aus dem mitgebrachten Korb zog. Das dunkle Gluckern der Flüssigkeit verhieß roten Wein und der Gedanken an einen kräftigen Schluck aus dieser Flasche ließ ein Seufzen in ihr aufsteigen, das sie jedoch nicht entkommen lies. Ein guter Zug oder besser noch ein paar Becher davon, würden ihr das Hinübergleiten in den Schlaf erleichtern, ihre dunklen Träume zumindest teilweise ertränken, doch sie wusste auch, dass sie sich jetzt keinen Alkohol erlauben durfte. Ihr erschüttertes Hirn würde Ruhe und Zeit brauchen, um sich heilen zu können und sie wusste, dass der Morgen ohnehin schon mit einem hämmernden Schädel beginnen würde.
    Mochte er seinen Fang nur begießen, sich der erfolgreichen Jagd erfreuen. Als er die Tür durchschritt, prostete sie ihm gedanklich zu, fixierte einen Punkt zwischen seinen Schulterblättern. Er schloss die Tür hinter sich. Ueras kalte Hand krallte sich um den Schlüssel auf dem Bett, wobei ihr die Decke von den Schultern glitt.


    Sie erhob sich, so langsam und vorsichtig es nur möglich war, schlich zur Türe, drückte sie noch einmal fest in ihren Rahmen, nur um sicher zu gehen, dass sie ins Schloss gegangen war. Sie schloss von innen ab, löschte das Licht der Zaubermuschel. Dann warf sie einen abwertenden Blick auf den Trockenenfraß in dem Korb zu ihren Füßen, bemerkte Hunger, aber keinen Appetit, sodass sie den Korb unangerührt auf den Tisch neben den Wasserkrug stellte.
    Müßig musterte sie auch das Häufchen ihrer Kleidung, unter welcher sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Uera hob sie mühevoll auf, wrang sie achtlos auf den Boden aus, hängte sie über alle geeigneten Kanten, die sie in ihrem Zimmer finden konnte, bevor sie sich schließlich ächzend auf dem weichen Bett ausstreckte.
    Sie wand sich unbehaglich, drehte sich, keine Position findend, in der sie liegen bleiben wollte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so weich gelegen zu haben. Zudem stieg ihr nicht der vertraute Geruch von altem Stroh in die Nase, sondern der von Federn und ein schwacher Hauch eines fremden Geruches, den sie spontan nicht zuordnen konnte. Es erinnerte sie schwach an das Meer und doch ... sie stutzte für einen Moment. Es roch nach ihm.
    Schwach wie der Duft sein mochte, er genügte um ihre Sinne zu fesseln, die unablässig arbeiteten und ihr keine Ruhe gönnten. Noch immer drängten sich zahlreiche unausgesprochene Fragen hinter ihrer Stirn und Uera mahnte sich streng zur Geduld. Es würde der richtige Moment für jede dieser Fragen kommen. Geduld.
    So lag sie noch lange wach, mit den leisen Geräuschen des Gasthauses in den Ohren und regungslos in das Dunkel des Zimmers starrend, bis zur Nasenspitze zugedeckt, ehe sich endlich eine bleierne Müdigkeit über sie herabsenkte, ihre Lider niederdrückte und sie mitleidslos in die durchwühlten Fluten ihrer Träume warf.

    Eine Welle der Unruhe wogte durch den Gefängnistrakt, als eine Stimme vom Ende des Flures erklang. Für einige der Insassen würde es zum Abendessen, welches üblicherweise aus Brot vom Vortag und abgestandenem Wasser bestand, etwas von dem ekelerregenden, aber sehr nahrhaften Eintopf geben. Diesen zweifelhaften Leckerbissen würden allerdings nur jene erhalten, die sich für den heutigen Abend freiwillig meldeten. Wenn sich nicht genügend freiwillig meldeten ... würden sie willkürlich Insassen auswählen. Das übliche eben.
    Uera wog die Vor- und Nachteile ab, bewegte ihre schmerzenden Glieder und kam zum Schluss, dass sie eine Pause brauchte. Der gestrige Kampf war hart genug gewesen und mehr als knapp ausgegangen. Aber es hatte sich durchaus gelohnt, dachte sie und sah auf den mit Wasser gefüllten Eimer hinab, ehe sie sich in den hinteren Bereich ihrer Zelle zurückzog. Dem Lichtstreifen in ihrer Zelle nach, war es bald an der Zeit für die erste Mahlzeit des Tages und sie konnte hören, wie mit dem Austeilen begonnen wurde.
    Als der Bursche, der stets das Essen brachte, an ihrer Zelle vorbeikam, warf er zunächst einen prüfenden Blick hinein, schob dann rasch eine Holzschüssel mit einer undefinierbaren, grauen Masse durch eine Klappe in der Gittertüre. Uera blieb wo sie war und warf nur einen bösen Blick nach ihm. Bevor er fragen konnte, was er alle fragen musste, gab sie schon eine bissige Antwort.
    "Nein."
    Auf dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich erst Überraschung, dann zuckte er jedoch mit den Schultern und schürzte die Lippen. "Wirklich schade … ihr Weiber kämpft wie wilde Tiere.", feixte er in süffisanter Stimme, lachte leise und ging weiter zur nächsten Zelle.
    Ich bin das wilde Tier, das dich augenblicklich mit bloßen Händen in Streifen reißen würde., grollte Uera in sich hinein und holte sich ihre Schüssel mit dem unappetitlichen Brei. Voller Unlust und Ekel stocherte sie eine Weile in ihrem Essen herum, dann stellte sie die Schüssel beiseite. Später. Nun wollte sie sich zunächst sammeln, um ihre Rekapitulation dort fortzusetzen wo sie unterbrochen wurde.



    Als sie aus der Türe des Schlafgemachs getreten und ihr Blick auf den leeren Sessel gefallen war, hatte sie das blanke Entsetzen ergriffen. Weg. Er war weg. Ihr Instinkt übernahm augenblicklich und sie erstarrte, um zu horchen, doch als sie das Rascheln von Stoff hinter sich hörte, war es bereits zu spät gewesen.
    Etwas Schweres traf sie seitlich am Kopf. Uera schrie vor Schmerz und Überraschung auf, taumelte nach vorne und stürzte auf ein Knie hinab. Sie reagierte verzögert, im selben Moment, in dem sie nach ihrem Dolch greifen und herumfahren wollte, traf sie ein Tritt mit einem schweren Stiefel ins Kreuz. Mit dem Gesicht voran kam sie auf den Holzdielen zum Liegen und nur einen Augenblick später war der Nachtwächter über ihr und fixierte sie mit einem Knie zwischen den Schulterblättern. Verflucht, warum ist er so schnell? Warum bin ich so langsam?
    "Was haben wir denn da gefangen? Eine kleine Elster.", sprach der Mann mit einer dunklen Stimme, die vor Ironie troff. Stoßartig atmete sie aus, sträubte sich, denn sie konnte hören und spüren, wie er ihr den Dolch abnahm. Unnachgiebig lastete sein Knie auf ihrer Wirbelsäule. Uera spürte den Revolver zwischen ihrem Bauch und dem Boden, wie sich das kühle Metall an ihren Leib presste. Eine Chance. Nur eine. Sie mimte die Ergebene, leistete keine Gegenwehr mehr.
    Er betrachtete ihre Klinge stumm, prüfte die Schärfe mit der Kuppe seines Daumens und war für einen Sekundenbruchteil nicht ganz bei der Sache. Der Druck ließ etwas nach. Die Yassalar spannte ihren Körper, bewerkstelligte es, sich unter dem schweren Knie heraus zu winden, sich zu drehen und ihm noch im Liegen einen kräftigen Tritt mit beiden Füßen in sein fleischiges Gesicht zu verpassen.
    Sein schmerzerfülltes Grunzen war Musik in ihren Ohren. Mit beiden Händen im Gesicht konnte er nicht sehen, wie sie sich aufrappelte, doch der Schmerz schien in rasend zu machen und noch bevor Uera halb auf den Beinen war, stürzte sich der Wächter erneut auf sie.
    Nur diesmal erstarrte er zur Salzsäule, bevor er - mit ihrem rasierklingenscharfen Dolch in der Hand - die Distanz zwischen ihnen überwunden hatte. An ihrem ausgestreckten Arm zeigte der Lauf des schlanken Revolvers auf ihn, das Spannen der Waffe klang bedrohlich leise, ihr Finger legte sich sanft an den Abzug. Sie verstand nicht viel von Schusswaffen, aber so weit reichte ihr Wissen. Langsam richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf.
    „B-b-bitte … nicht schießen!“, stammelte der Wächter und seine Augen waren schreckgeweitet, das viele Weiß leuchtete hell im Dunkeln. Klappernd fiel der Dolch zu Boden. Uera fluchte in Gedanken, welche rasend auf eine Entscheidung drängten, denn der Mensch hatte sie gesehen, würde sie vermutlich wiedererkennen und das bedeutete nichts Gutes. Für einen Moment blieb sie einfach stehen, unschlüssig, unfähig auch nur einen Schritt zu machen oder ein Wort zu sagen. Warum denkst du noch nach? Schieß!
    Ueras Arm begann leicht zu zittern, kalt lagen ihre Augen in denen des Menschen. Seine Hände wollten in die Luft wandern, doch Uera hatte längst die Geduld und die Nerven verloren.
    Der Schuss zerriss die Stille der Nacht und der Hund vor der Türe jaulte so laut auf, dass man denken konnte, jemand hätte auf das Tier geschossen. Tatsächlich jedoch war es der Nachtwächter, der wie ein nasser Sandsack zu Boden fiel, regungslos vor Ueras Füßen liegen blieb und ihren Dolch unter sich begrub. Der Rückschlag der Waffe hatte Uera relativ unvorbereitet getroffen und greller Schmerz durchzuckte ihren Arm vom Handgelenk bis zur Schulter.
    Wie vom Donner gerührt und mit knisternden Geräuschen in den betäubten Ohren konnte sie sich nicht bewegen, bis plötzlich das Leben in sie zurückkehrte und sie rauschend nach Luft schnappte. Nichts wie weg von hier. Sie packte das Treppengeländer und schwang sich mit einer abenteuerlichen Bewegung darüber hinweg, direkt auf die Stufen, die sie sogleich herunterjagte. Sie konnte mit ihrem Arm nicht klettern, an der Hintertür lauerte tobend der Hund. Einen Moment später war sie durch die Vordertür gestürmt, hinaus auf die Straße.
    Sie flog durch die Stadt, jagte kreuz und quer durch die Gassen, alles, nur weg von dort, bis sie völlig außer Atem war. Schreie wurden laut. Versteck dich. Sie spürte, dass sie verfolgt wurde. Sie rettete sich in eine verwilderte Böschung, in den tiefsten Schatten, den sie finden konnte, rang nach Luft. Ihr Kopf schwirrte. Völlig verdattert bemerkte sie, dass sie den Revolver noch immer in der Hand hielt. Wie ferngesteuert schob sie ihn wieder hinter den Gürtel.
    Als sie nach einiger Zeit wieder zu Atem gefunden hatte und aus dem Gebüsch kletterte, bemerkte sie, dass sie von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet war und überall Blätter an ihr klebten. Und, dass direkt vor ihr eine Stadtwache mit einer Hellebarde stand, die wie zufällig direkt auf ihre Brust gerichtet war. Ihre Miene entgleiste und zeigte ein Abbild schierer Verzweiflung.
    "Vorsichtig jetzt.", sagte der ältere Mann bedächtig und setzte die Hellebarde auf, sodass die Spitze den Stoff ihrer Kleidung durchdrang. Uera konnte sie auf der Haut spüren. Er würde sie hier und jetzt abstechen, da war sie sich sicher. Sie hatte verloren. Vor lauter Zorn traten ihr Tränen in die Augen. "Leg die Waffe auf den Boden, Schätzchen. Ganz langsam."



    Man hatte sie verurteilt, doch weder hatte man sie richtig angehört, noch hatte man geprüft, ob die Pistole überhaupt diejenige war, mit welcher geschossen wurde. Nicht, dass sie eine Chance gehabt hätte, freigesprochen zu werden … aber dass die gestohlenen Wertgegenstände eindeutig dem Sammler zugeordnet werden konnten, hatte man dankbar als überführendes Indiz angenommen und Uera eingebuchtet.
    Grimmig sah sie auf ihre Hände hinab, ballte sie zu Fäusten. Dieser Tag vor exakt 465 Tagen kam ihr so fern und surreal vor, dass es ihr an manchmal schwerfiel, ihrer Erinnerung Glauben zu schenken. Es war dumm von ihr gewesen, zu schießen. Sie hätte ihn gleich zu Beginn aus dem Weg räumen sollen, schloss sie ein weiteres Mal und wandte sich dann mit einem brütendem Ausdruck dem Brei zu, den sie noch zu essen hatte.
    Nicht mehr lange. Bald würde sie dieses Loch endlich hinter sich lassen.

    Was auch immer sein Vorhaben sein mochte, es schien ihn auf längere Zeit in Nir'alenar zu halten. Sie hätte gerne erfahren was es war, dass ihn hierher gebracht hatte, alleine um zu wissen, an was sie von nun an mitwirken würde, doch sie wusste, dass es der falsche Augenblick für solche Fragen war. Ihr Kopf fühlte sich schwer wie ein Felsbrocken an, doch sie nickte zu seinen Worten.
    Der Gedanke, die erbeuteten Edelsteine jetzt schon zu Geld zu machen, stieß ihr jedoch sauer auf. Besonders die Saphire … diese herrlichen, dunkelblauen, klaren Steine, an deren kühles Strahlen nichts heranreichen konnte … es stach in ihrem Herz. Aber sie wusste auch, dass sie keine Wahl hatte und trotz ihrer Erschöpfung und der herankriechenden Müdigkeit musste Uera keinen Augenblick überlegen, wo sie den zweifelsohne besten Preis für die Saphire und Brillanten bekommen würde. Mit solchen Schmuckstücken konnte man schließlich nicht einfach zum erstbesten Händler auf den Schwarzmarkt spazieren. Es musste jemand sein, der keine Fragen stellte und Uera kannte genau so jemanden.


    Er sah zum Fenster. Sie hörte, dass der stürmische Regen einem milden Nachtregen gewichen war, der alles durchweichen würde, was ihm schutzlos ausgeliefert war. Dann sah er wieder zu ihr und der lauernde Blick ihres Zay'rass traf sie wie ein Pfeil. Ohne ihr Zutun zog ein azurblauer Schleier über ihre grauen Iriden hinweg, der an die Farbe des Meeres in Küstennähe erinnerte.
    Sie realisierte etwas und es hinterließ ein eigenartiges Gefühl in ihr. Er wusste nicht wirklich, mit wem er es zu tun hatte. Sie musste rätselhaft auf ihn wirken, mindestens genau so undurchsichtig wie sie sich oft sich selbst vorkam. Dieser erste Eindruck, den er von ihr gewonnen hatte ... wie viel verriet er über sie? Wie viele Fragen hatte sie aufgeworfen und wie viele würden morgen dazukommen?
    Uera scheute sich nicht, ihm mehr zu verraten, von ihrer Zeit in Caraska zu erzählen … und wie sie schließlich hier her kam. Er wollte es offenbar wissen, war sogar gespannt, erwartungsvoll und diesen Funken Interesse, kalt wie er sein mochte, galt es zu schüren. Wann hatte sich schon jemals jemand in irgendeiner Hinsicht für sie interessiert?
    Außerdem konnte sie kaum nicht erwarten, dass ihr auch nur ein Quäntchen Vertrauen entgegengebracht werden würde, solange sie die sich schwärzende, erbärmliche Niedere war, die stahl wie eine Elster und deren sonderbare Beweggründe im Dunkeln lagen.


    "Das wirst du.", antwortete sie ruhig und mit fester Stimme. Mit einem Blinzeln war auch der letzte schwache Eindruck von Farbe wieder aus ihren Augen verschwunden.

    Ihr Mitleid für die unterbezahlte Hebamme hielt sich in Grenzen. Stattdessen hatte Uera die Szene mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck verfolgt. Die herabwürdigende Art des Yassalar schien die geprellte Frau einzuschüchtern, sie setzte all dem nicht viel entgegen und ihre Worte klangen zwar hasserfüllt aber so haltlos, dass sie sich ihre Luft hätte sparen können.
    Es war eine angemessene Bezahlung. Kein halbwegs denkfähiges Wesen hätte eine solch horrende Summe für einen so einfachen Dienst verlangt und Uera zweifelte die Intelligenz der Frau an. Dennoch … Uera versuchte sich auszumalen was sie dem nächstbesten Trockenen, dem sie über den Weg laufen würde, über den Yassalar und die angeschlagene Blasse erzählen würde. Weibergeschwätz war eine nicht zu unterschätzende Kraft im Gefüge der Stadt und etwas, auf das man ein wachsames Auge haben musste und das man sorgsam zu seinem Vorteil nutzen sollte. Gerüchte verbreiteten sich hier wie ansteckende Krankheiten. Nicht umsonst hatte es ihr Gesicht auf die Anschlagwände gebracht, auch wenn sie sich die größte Mühe gegeben hatte, keine Zeugen zu hinterlassen.


    Die Hebamme rauschte hinaus. Uera neigte ihr Gesicht dem Yassalar zu, der noch eben ihren Kopf begutachtet hatte. In direkter Nähe zu ihm, meinte sie seine bedrohliche Aura als ein Prickeln auf der Haut zu spüren, er nahm den Raum gänzlich für sich ein, als dulde seine Erscheinung keine andere neben sich. Im Zwielicht wirkte seine Haut schwärzer als die dunkelste Nacht, schwärzer als der tiefste Schatten. Ihre Augen wollten sich in all dem dunklen Glanz verirren, fanden keinen Ort, an dem sie bleiben konnten.
    Der Junge mit dem Schlüssel riss sie mit seinen gestammelten Worten harsch aus ihren abgleitenden Gedanken. Uera reimte sich in ihrem strapazierten Kopf zusammen, was das bedeutete und ihr Blick glomm müde dem ausdruckslosen schwarzen Antlitz des Yassalar entgegen. Er warf seinen Schlüssel neben sie auf das Bett, doch ihre Augen blieben unverwandt an seinem Gesicht hängen.
    Die Worte in seiner sonoren Stimme waren keine Frage, aber er schien dennoch auf eine Entgegnung zu warten. Stumm nickte sie, es drängte sich eine Frage auf ihre Lippen, doch er hatte die Antwort schon vor langem vorweggenommen. Ich bin keiner dieser Reinen, die ihre Diener wie Tiere halten.


    "Das wäre nicht nötig gewesen.", brachte sie trotzdem hervor und lies es im Unklaren, ob sie damit nur die Beanspruchung seines Bettes meinte, das Herbeiholen einer Heilkundigen oder gar die Geschehnisse des ganzen Abends. Ihr Blick flackerte voller Abneigung dem Kind entgegen, dessen Gesicht immer noch regungslos in der Tür verharrte. Der stechende Blick der Yassalar sprach mehr als tausend Worte, woraufhin der Junge tatsächlich verschüchtert den Kopf zurückzog, die Tür leise schloss und draußen auf dem Flur wartete. Dann sah sie ungleich nüchterner wieder zu dem Yassalar auf.
    "Was erwartet mich morgen?"

    Endlich dämmerte Uera, dass er eine Heilkundige für sie aufgetrieben hatte. Zu dieser späten Stunde? Skeptisch musterte sie die Frau, die einen recht erschöpften Eindruck auf sie machte und deren Atem noch immer beschleunigt war. Sie warf den Sack, den sie unter dem Arm getragen hatte, neben Uera auf das Bett. Das metallische und hölzerne Klappern daraus beunruhigte sie.


    Wunde am Hinterkopf. Richtig. Natürlich hatte sie bemerkt, dass sie eine Platzwunde davongetragen hatte. Sie hatte das Blut an ihrer eigenen Hand gesehen, gespürt, wie es ihren Nacken hinabrann - aber war das ein Grund zur Sorge? Platzwunden bluteten immer stark, aber solange der Knochen darunter intakt war, würde sie von alleine wieder zuheilen, wie die viele andere Verletzungen, die sie sich in ihrem Leben zugezogen hatte. Dumm nur, dass diese an einer Stelle war, die sie nicht sehen konnte, so musste sie sich gänzlich auf die Einschätzung der Menschenfrau verlassen und notfalls auch auf deren Nähkünste.
    Mit einem gewissen Maß an Unwillen, aber wortlos kam sie der Aufforderung nach und drehte der Frau den Rücken zu. Sie begann damit Ueras rot verfärbtes Haar um die Wunde herum zu scheiteln, um das Ausmaß der Verletzung abschätzen zu können. Ihre Handgriffe wirkten energisch, aber nicht grob und so ließ Uera die Prozedur ohne zu Zucken über sich ergehen.
    Die Hebamme zog einen Stoffbeutel voller Mullbinden aus ihrem Sack und eine Flasche übelriechender Wundtinktur und nahm ihre Arbeit wieder auf. Sie verwendete die gelblich-braune Tinktur großzügig, spülte die Wunde gründlich aus, verlor kein Wort. Wenn sie sich Fragen stellte und darüber rätselte, wie diese seltsame Situation zustande gekommen war, dann lies sie sich nichts davon anmerken.
    Wie zu erwarten brannte die Flüssigkeit wie Feuer und Uera biss ihre Zähne so fest zusammen, dass es knirschte, ballte die Hände unter der Decke zu Fäusten und kniff die Augen zusammen.


    "Das muss genäht werden.", beschloss die Heilkundige schließlich, ließ von Ueras Kopf ab und kramte schon nach ihren Sachen, als Uera sie unterbrach und von der Seite anfunkelte.
    "Muss es?", hakte sie spitz und zwischen den Zähnen hindurchgepresst nach, wandte sich der Frau zu und sah ihr fest in die Augen. "Wie groß?"
    Unsicher flackerte der Blick der Menschenfrau zu dem Yassalar hinüber, der sich aber abgewandt hatte und sich anderen Dingen zu widmen schien, dann wühlte sie weiter in ihrer Tasche herum, bis sie eine zweite Flasche und ein großes ledernes Etui gefunden hatte. Die Utensilien, die Uera dabei in dem Sack entdeckte, bestätigten ihren Verdacht und ihr Ausdruck wurde argwöhnisch. Eine Hebamme? Ernsthaft?
    "Drei Fingerbreit. Blutet stark, aber die Wundränder sind glatt. Es ist einfach zu nähen und wird schnell verheilen.", antwortete sie sachlich und Uera konnte sehen, wie der Ärger darüber, infrage gestellt zu werden, in den Menschenaugen aufloderte. Die Blicke der beiden Frauen fochten ein stummes Blickduell, doch schlussendlich nickte Uera leicht und wandte der Hebamme wieder den Rücken zu. Wenn dieses Weibsbild auch nur einen Fehler machen würde, würde das der letzte in ihrem Leben sein. Uera hatte es sich abgewöhnt, zimperlich zu sein.
    "In Ordnung. Mach weiter."


    Die Hebamme öffnete das Etui, welches mit feinen Pinzetten, einem Skalpell und Klingen, einer feinen Schere und diversen anderen Utensilien gefüllt war, dann wusch sie ihre Hände mit der klaren, beißend riechenden Flüssigkeit aus der zweiten Flasche. Sie zog ein kurzes Stück Faden auf eine gebogene, feine Nadel, tränkte ihn in der Flüssigkeit. Eine saubere Art zu arbeiten, das musste man ihr lassen.
    "Stillhalten."
    Der erste Stich schmerzte ein wenig, der zweite deutlich mehr, und es folgten noch drei weitere, die sich anfühlten als wolle die Hebamme ihren Schädel durchbohren, doch die Frau arbeitete zügig. Gut für sie.
    Als sie fertig war, die Fäden abschnitt und bereits still damit begann, ihre Utensilien wegzupacken, entspannte sich Uera ein wenig und öffnete ihre Fäuste. Ihre Fingernägel hatten tiefe Kerben in ihren Handballen hinterlassen und ihre Augen waren wässrig, doch sie war in der Lage den Schmerz als gegeben zu akzeptieren. Vorsichtig tastete sie nach der frischen Naht und fand sie am höchsten Punkt des Schädels. Die Hebamme klemmte sich derweil ihren Sack wieder unter den Arm und sprach in müdem Ton weiter: "In zehn bis zwölf Tagen müssen die Fäden gezogen werden. Bis dahin die Naht trocken halten."
    Suchend tastete Ueras Blick nach dem schwarzen Antlitz des Yassalar. Ein wenig Spott lag in ihren Augen und ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln.


    "Mit Nachtzuschlag … macht das mindestens 8 Goldstücke.", verkündete die Hebamme dann, sah unschlüssig zwischen den beiden Yassalar hin und her und wirkte so, als habe sie es enorm eilig, wieder zu verschwinden.

    Mit ruhigen Bewegungen und einer Lautlosigkeit, wie sie nur geübte Diebe an den Tag legen konnten, war sie den schmalen Flur hinabgegangen. Das abgewetzte Parkett wollte unter jedem Schritt ächzen, doch Ueras leichtfüßiger Gang verursachte kaum ein Geräusch.
    Der angrenzende Raum, ein geräumiges Speisezimmer, bot mit mottenzerfressenen Wandteppichen, einem wuchtigen, antiken Tisch und ebenso klobigen Stühlen nichts Interessantes für die junge Yassalar und so ging sie an der offenstehenden Türe vorbei, löschte dabei in beiläufig wirkender Manier eine den Flur erhellende Öllampe. Ihre Augen brauchten kein Licht um zu sehen.
    Die anderen Zimmer hatten sich als ähnlich uninteressant herausgestellt und so beschloss sie, sich das nächste und letzte Stockwerk und damit auch die Wache vorzunehmen. Schläfrig wie er war, hielt sie es für leicht, ihn entweder zu umgehen oder aus dem Weg zu räumen. Uera verharrte, lauschte und vernahm an der Grenze des Hörbaren ein gleichmäßiges Atmen vom oberen Ende der Treppe.
    Mit fließenden Schritten huschte sie die Stufen hinauf und tastete sich in den Raum vor. Dort saß er, dösend, in einem Sessel, die Arme auf dem Bauch verschränkt und den Kopf zur Seite geneigt. Eine weitere Öllampe flackerte von einem Beistelltisch und tauchte den Raum in ein unstetes Licht. Das Bellen des Hundes war noch immer nicht verklungen und der Schlaf der Wache wirkte nur flach. Es war also entschieden.
    Ueras Puls beschleunigte sich, während sie der Wache Schritt für Schritt näher kam. Sie hielt die Luft an und ihre Linke war fest um den Griff ihres Dolches geschlossen, als sie wie ein Schatten an die Lampe heranglitt und auch sie löschte. Er bemerkte Uera erst, als sich ihre Hand bereits auf seinen Mund gelegt hatte. Einen Wimpernschlag später ließ ein gezielt ausgeführter Schlag in die Schläfenregion die Wache kraftlos zusammensacken und halb von seinem Sessel rutschen. Uera atmete erleichtert auf. Etwas hielt sie davon ab, ein Blutbad anzurichten. Es reichte aus, wenn er bewusstlos war.
    Als er sich auch nach einer Weile nicht regte, nahm Uera ihm seinen billigen Dolch ab, wandte sich zufrieden ab und betrat das Schlafgemach des Sammlers, begann damit, Schubladen aufzuziehen und ihren Inhalt auf dem Boden zu verteilen. Es gab keinen Grund, dabei besonders leise zu sein, aber sie wollte keine Zeit verschwenden.
    Ueras Augen weiteten sich erstaunt, als sie die unterste Schublade eines Nachtkästchens öffnete. Es lag ein schlanker Revolver darin, mit einem fein ziselierten, goldverzierten Lauf und einem Griff aus schwarzem Perlmutt. In der kannelierten Trommel befand sich lediglich eine einzige Patrone, doch weiteres Wühlen in der Schublade beförderte etwas mehr Munition zutage. Gute Beute, die sie vielleicht noch heute zu viel Geld machen konnte. Uera selbst hatte sich nie mit Schusswaffen anfreunden können. Sie war eine Diebin. Wenn sie tötete, so musste es leise geschehen.
    Sich die Waffe hinter den Gürtel klemmend, sah sie sich weiter um, bis ihr Blick an einem Holzkästchen voller Intarsien hängenblieb, das vorne mit einem zierlichen Schloss zugehalten wurde. Als sie es anhob, konnte sie das Klimpern einer Kette, das Aufeinanderschlagen kleiner Steinchen und das Kullern von Perlen hören und bevor sie sich nach einem Schlüssel umsah, zog sie den Dolch. Sie setzte ihn geschickt an und öffnete das Kästchen im Handumdrehen wie man eine Auster öffnen würde.
    Uera grinste breit und in ihr wallte überschwängliche Freude auf, als sie den Inhalt untersuchte. Ein Armband, besetzt mit Brillanten und Turmalinen. Ohrringe aus blutroter Koralle und strahlend weißen Perlen und – das beste – eine kleine Sammlung verschiedener Granate, die sich einzeln gefasst an eine Goldkette reihten. Besonders der größte, fast schwarze Stein, der ein fast schon beunruhigend dunkles Leuchten besaß, ließ Ueras Herz schneller schlagen und sie konnte sich nur schwer von seinem Anblick losreißen. Ein berauschend schöner Almandin, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
    Ein letzter Raum noch, denn dort musste sich der Großteil der Waffensammlung befinden, dann wollte sie das Weite suchen und so ließ sie das Schlafgemach in seiner Unordnung zurück und ging in den Raum zurück, in dem die bewusstlose Wache lag.



    Ueras Stirn presste sich an die kühlen Eisenstäbe der Zelle. Sie hätte den Wächter damals gleich töten sollen. Es war das unnötige Zögern und die Unsicherheit, die sie hier her gebrachten hatten. Die Ungeduld. Aber sie hatte ihre Lektion gelernt. Nie würde sie diesen Fehler wiederholen. Niemals.
    Was war das Leben eines Trockenen schon wert?

    Ein Klacken des Riegels im Inneren des Türschlosses, der Schlüssel wurde abgezogen. Ihre Miene verhärtete sich noch mehr und die zusammengepressten Lippen zuckten spöttisch. Es war zu erwarten gewesen.
    Ueras farbloser Blick hing noch für einen Moment in der Luft, genau dort, wo ihr … Gebieter den Raum verlassen hatte. Nun, da sie alleine war, wirkte der Raum plötzlich so verlassen und still, dass ihr bewusst wurde, wie viel Raum seine eindrucksvolle Präsenz eingenommen hatte.
    Er hatte eine Leere hinterlassen, die sich nur zaghaft wieder zu füllen begann, als die weiße Yassalar nach Geräuschen aus den Eingeweiden des Hauses lauschte. Es musste bereits sehr spät sein, denn es lag eine träge, schläfrige Stille über dem Gebäude und Ueras eigener Puls und Atem sowie das leise Klopfen einzelner Regentropfen waren laut genug, um das leise Gemurmel und Rascheln aus anderen Räumen zu überdecken.


    Mit einem tiefen Ausatmen zog sie die Beine heran, schlang die Arme um die kalten Glieder und senkte die Stirn auf die Knie herab. Ihre weißen Schultern hoben und senkten sich gleichmäßig unter den langsamen Atemzügen in der Enge der eigenen Umarmung.
    Wie unzählbare Male zuvor, war sie alleine mit ihren Gedanken, betäubt, wie nach langem Schwimmen in eisigem Wasser, genau dann, wenn der Schmerz der schneidenden Kälte verblasste und einer langsam einer herankriechenden Wärme Raum machte.
    Längst hatte Uera vergessen, wie oft ihr das eigene Leben wie ein sinnloses Chaos aus Grausamkeiten erschienen war. Wie oft ihr nichts als die letzte, unumstößliche Hoffnung geblieben war, dass es einen verborgenen Zweck gab, den sie erfüllte oder erfüllen würde. Von dem sie eines Tages möglicherweise erfahren würde. Der alles erklären würde.
    Man hatte es ihr nie leicht gemacht und trotzdem hatte sie diese eine Überzeugung nie abgelegt. Natürlich hatte sie mehr als ein Mal daran gedacht, ihrer elenden Existenz ein Ende zu setzen, doch die Angst einen sinnlosen Tod zu sterben und unverrichteter Dinge zu verschwinden, war stets größer gewesen, als der egoistische Gedanke an eine Erlösung ihrer selbst. Stattdessen hatte sie sich vom Leben stählen lassen und gelernt, ihren Fokus auf ein Ziel zu richten, dass über ihrem eigenen Wohl stand. Und genau das galt es jetzt zu tun.


    Mühevoll löste sie ihre Haltung auf und kroch näher auf das Bett zu, an dessen Eckpfosten sie sich auf die Beine ziehen konnte. Wie ein Schatten, der sich erst nach ihr erhob, stieg die Schwärze vor ihren Augen auf und mit einer reichlich uneleganten Bewegung setzte sie sich schließlich auf die Bettkante am Kopfende des Bettes. Das unangenehm kratzige Gefühl in ihrem Hals ließ sie nach dem nahen Wasserkrug greifen und nach kurzem Zögern einen langen Schluck daraus trinken. So viel würde ihr Zay'rass wohl entbehren können. Sie seufzte erleichtert, räusperte sich und stellte die Karaffe wieder ab. Dann zog sie die dünne Bettdecke heran, wickelte sich darin ein und wartete stumpf starrend auf die Rückkehr des Yassalar, während ihre Gedanken stille Kreise zogen.


    Sie war beherrscht, hatte alles, was sie ablenkte, weit zurückgedrängt und so war nichts als Leere in ihrem Blick, als sich die Tür unerwartet früh wieder auftat. Er konnte nicht weit gekommen sein und zu ihrer Überraschung war er nicht alleine, sondern in Begleitung einer Trockenen, welche eine unerträgliche Unruhe mit sich brachte. Er hatte etwas mitgebracht und neben der Tür abgestellt, doch Uera war auf ihn und die Menschin konzentriert, die einen Sack unter dem Arm trug.
    "Guten Abend.", sagte die Yassalar spröde und noch immer war ihr Gesicht ohne jeden Ausdruck, während ihr Blick dunkel an der Hebamme vorbei zu dem ruhig wirkenden Yassalar ging.

    Vier Schritte zum Lichtschacht. Vier Schritte zum Gitter. Zurück zum Licht. Zurück zum Gitter.
    Pausenlos, doch mit ruhigen, weichen Schritten ging die Yassalar in ihre Zelle auf und ab. Mit jedem weiteren Schritt auf dem schmutzigen Boden lockerte sich ihre verspannte Muskulatur ein wenig und ihr Gang wurde weicher.
    Endlich hielt Uera inne, nahe an den Gitterstäben, schloss ihre Hände fest um die rostigen Stangen und spähte hinüber in die verlassene Zelle. Ihr Blick war leer, ohne Bedauern, denn es verlangte ihr nicht nach Gesellschaft. Neue Insassen waren ihr zu gesprächig, stanken nach Angst. Es war Uera nur recht, dass die Zellen – solange der Platz reichte - so belegt wurden, dass niemand einen Gesprächspartner hatte. Das Geplapper und Rufen der anderen Insassen ging ihr langsam aber sicher auf die Nerven, Uera vermisste ihre Stille und sie hoffte, dass die ersten Nächte in diesem Etablissement diese bald wieder herstellen würden.
    Sie neigte den Kopf auf die linke Schulter, dann auf die rechte, bis ein erlösendes Knacken ihren Nacken befreite. Die silbernen Haarsträhnen, die ihr dabei ins Gesicht fielen, strich sie energisch zurück hinter die Ohren. Ihr Haar war seit ihrer Ankunft hier rasch gewachsen, lag mittlerweile in silbernen Strähnen auf ihren Schultern und sie hasste es. Es störte sie und hätte sie auch nur etwas annähernd scharfes zur Verfügung gehabt, hätte sie das Silberhaar augenblicklich zurückgestutzt. Natürlich hatte sie nichts dergleichen in ihrer Zelle, nicht mal einen rostigen Nagel hatte sie finden können und daran würde sich auch so bald nichts ändern. Mit einem sachten Kopfschütteln versank sie wieder in Gedanken und ihr war, als klingele das Hundebellen noch heute in ihren Ohren ...


    Kaum hatte das Vieh begonnen, sich die Kehle aus dem Hals zu bellen, war auch schon der Nachtwächter erschienen, den Uera hinter den abgedunkelten Fenstern vermutet hatte. Lautlos hatte sie den Kopf gereckt und einen kurzen Blick über die Dachkante geworfen, sodass sie den Wächter an der Balustrade stehend ausmachen konnte. Natürlich hatte er mit seinen kleinen, trockenen Schweinsäuglein im schlecht beleuchteten Hof niemanden ausmachen können und sein Blick war erst gar nicht in Ueras Richtung vorgedrungen.
    "Was ist denn jetzt schon wieder?", hatte er gekeift und in den Innenhof hinabgespien. "Halt endlich die Schnauze, Drecksvieh, und bell erst wieder, wenn wirklich etwas passiert!"
    Schließlich war er laut fluchend wieder im Haus verschwunden, hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Ueras Mundwinkel zuckten zufrieden nach oben. Nicht verriegelt. Wie nachlässig.
    Bevor sie es jedoch wagte, sich zu rühren, hatte sie noch abgewartet, ob der Nachtwächter an der Hintertüre erscheinen würde, um dem Hund eigenhändig das Genick zu brechen. Er schien das ohrenbetäubende Bellen ignorieren zu wollen.
    Das Tier hatte ihre Witterung aufgenommen, dessen war sich Uera sicher. Es verursachte einen solchen Krach, dass es Uera gleich war, dass es laut rumpelte, als sie nach einem gewagten Sprung vom Dach auf dem Balkon landete. Sie warf dem tobenden Tier einen spöttischen Blick über das Geländer zu. Armes Tier. Niemand versteht dich.
    Sie öffnete die Türe, die der Wächter erst vor wenigen Augenblicken zugeworfen hatte, einen Spalt weit und gleich einem Schatten glitt sie in den dahinterliegenden Raum, lauschte nach den verebbenden Flüchen des Nachtwächters, der sich auf der Treppe ins obere Geschoss bewegte und widmete sich dann in aller Ruhe dem Interieur des Anwesens.
    Uera erinnerte sich daran, wie jedes einzelne Textil im Inneren nach dem Rauch des Schattenkrauts gestunken hatte, wie der eigenartige Geruch schwer in der Luft gehangen hatte. Das Bellen des Hundes war nur gedämpft zu hören gewesen, sodass das Ticken einer wertvollen Standuhr an ihr Ohr drang. Ein Arbeitszimmer. Und an der Wand über dem ausladenden Schreibtisch hatte sie das erste Schmuckstück entdeckt: einen fremdländisch wirkenden Säbel, dessen metallene Scheide über und über beschlagen und mit Rubinen besetzt war. Die Schneide des Säbels wirkte schon aus Entfernung stumpf, doch ein zartes Muster verriet den gefalteten Stahl. Eine rote Tassel hing staubig vom Griff hinab. Protzig, unhandlich und vermutlich schon lange unbrauchbar, aber sorgfältig gefertigt. Anerkennend war ihr Blick über die Waffe gewandert, doch Uera hatte den Säbel getrost hängen lassen. Ihr stand der Sinn nach brauchbaren Waffen. Nach Klingen, die Leben rauben konnten. Und nach den edlen Steinen, welche die Frau des Sammlers in ihren Gemächern horten musste, wenn sie den Geschichten Glauben schenken konnte.

    Uera zuckte unter der Berührung seiner Hand zusammen, erschauderte, doch befolgte seine Anweisung und rührte sich nicht, während er Worte in dieser fremd-vertrauten Sprache von sich gab, auch wenn ihr Herz wieder zu rasen begann.

    Was tust du?, formten ihre Lippen stumm, doch sie sprach die Worte nicht aus. Die Frage pochte im gleichen Takt wie der dumpfe Schmerz durch ihren Kopf, wollte sich schon auf ihre Zunge legen, doch Uera hielt sie für den Moment zurück.
    Seine Hand löste sich wieder von ihrem Nacken und nichts war geschehen. Zumindest nichts, das sie wahrnehmen konnte … und wieder sagte er nichts, sondern wandte sich ab. Sie atmete hörbar aus. Er war ihr ein Rätsel, wie so viele andere Wesen auf dieser Welt, doch wenn es seiner Natur entsprach, keinen seiner Gedanken vor ihr auszusprechen, würde sie sich daran gewöhnen müssen.


    Als Uera hörte, wie er zur Tür ging, sanken ihre Hände neben ihren Körper und sie drehte langsam Rumpf und den Kopf ein wenig, bis sie über ihre Schulter blicken konnte. Wohin wollte er denn gehen, mitten in der Nacht? Und er wollte sie wirklich alleine hier zurücklassen? Er hatte sie zwar vorübergehend außer Gefecht gesetzt … aber sie blieb zumindest theoretisch eine unvertrauenswürdige Diebin, die niemand freiwillig mit seinem Eigentum zurücklassen würde. Verwirrt zogen sich ihre Brauen zusammen, aber ihr Geist war zu müde, um sich neben viel wichtigeren Fragen auch noch diesen zu widmen.
    Uera hatte ihre Fassung längst wiedergefunden, kühl und ausdruckslos waren ihre Augen in den Raum gerichtet, wanderten an seiner schwarzglänzenden Gestalt hinauf. Er würde bald wieder zurück sein. Gut.


    "Deine Befehle sind Gesetze … und nicht verhandelbar.", sagte sie und ein schmerzliches Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor es wieder verblasste und sie ungleich nüchterner hinzufügte: "Keine Sorge. Ich laufe nicht weg."
    Was durchaus der Wahrheit entsprach, denn sie war schlichtweg nicht in der Lage, besonders weit zu laufen, geschweige denn die Treppe schadlos zu überwinden, die sie zuvor hinaufgegangen waren. Das Abschließen würde er sich sparen können, sollte er es vorhaben. Und abgesehen davon, wollte sie nicht gehen.
    Sie brauchte Zeit, Zeit und Ruhe um die Geschehnisse dieses Tages zu überdenken, doch bereits das kurze Aufleuchten ihrer Bedeutung hatte gereicht, um einen Beschluss zu fassen. Was sie auch ertragen musste, um diesem einen Sinn näher zu kommen, sie würde es ertragen. Sie hatte verstanden. Sie blieb und sie würde geduldig sein, noch geduldiger als bisher in ihrem Leben. Er hatte ihre Narben gesehen, konnte ihre Zähigkeit beurteilen, doch von der endlosen Beharrlichkeit, die sie vor allem hinter den kühlen Mauern von Caraskas Gefängniszellen erworben hatte, hatte er noch keine Kostprobe erhalten. Und, bemerkte sie schließlich: er hatte noch nicht gehört, was sie schließlich nach Nir'alenar geführt hatte.


    Er hatte den Schlüssel in der Hand, drehte ihn im Schloss, entriegelte die Tür. Das Geräusch erinnerte sie schwach an das Gefühl der Befreiung, doch Uera nahm es mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Aufmerksam wartete sie, ob er von außen abschloss.

    Heute war es ungewohnt laut in ihrem Trakt des Gefängnisses. Zwar waren die dunklen Zellen, die sich zahlreich an den Flur reihten, selten voll belegt, doch gestern waren einige neue Insassen dazugekommen. Einige riefen unverständliche Worte, verlangten nach dem süßlichen Gestank des Schattentabaks, hämmerten gegen die Mauern, die Böden, die Gitterstäbe. Aber auch sie würden sich an die Stille gewöhnen müssen, denn sie gewann am Ende immer, sie würde jede einzelne Faser ihres Verstands durchdringen, mit ihren trockenen Hirnen spielen, bis sie keinen klaren Gedanken mehr formen konnten. Ihre Beobachtung und Erfahrung hatten Uera gelehrt, dass sich dann an einem gewissen Punkt erwies, aus welchem Stoff jemand gemacht ist. Entweder, sie würden akzeptieren, adaptieren, ausharren, die Stille heimlich nutzen um ihre Gedanken zu klären, oder – und das geschah weitaus öfter – sie würden sich vollständig verlieren, ausdruckslos starrende Marionetten ihrer eigenen Furcht werden.
    Sie hatte einige wenige von ihnen gesehen, als sie an ihrer Zelle vorbeigeführt worden waren, doch die einzige Zelle, die sie von den Gittern ihrer Zelle aus im Blick hatte, stand schon seit Wochen leer. Der letzte, der dort seine Strafe hätte absitzen sollen, war nach einem kurzen Aufenthalt freigekauft worden. Eine Hoffnung, mit der sich Uera definitiv nicht beschäftigen musste.
    Uera strich ruhelos durch ihre Zelle, wie sie es an jedem Tag tat, rezitierte in Gedanken die Geschehnisse, die sie hier her gebracht hatten.



    Es war ein kühler Abend gewesen, doch die Stadt hatte ihre drückende Luft nur unfreiwillig gehen lassen. Der Tabakrauch zog wie ein übelriechender Nebel durch die Straßen und hatte auch Uera eingehüllt, die sich kaum Mühe geben musste, nicht aufzufallen. Mit der Kapuze über den kurz geschorenen Haaren und einem halb in einem Halstuch verborgenen Gesicht war sie ausreichend vermummt um unerkannt in der strömenden Masse an Trockenhäuten mitzutreiben. Bald jedoch verließ sie die Hauptstraßen, schlug ihren Weg in die vereinsamt wirkenden Gassen ein, die eng waren, voller Ratten und über denen sich die Häuser aufeinander zuneigten, sodass nur ein schmaler Streifen Himmel sichtbar blieb. Im Schatten war ihre dunkle, dünne Gestalt so gut wie unsichtbar.
    Das Anwesen des Sammlers wirkte etwas heruntergekommen, die Jahre hatten an den geschwärzten Holzbalken gefressen und die Fenster blind werden lassen. Sie konnte kein Licht hinter den Scheiben sehen, doch Uera mahnte sich zur Vorsicht. Es konnte gut sein, dass dort drinnen bei Kerzenlicht einer der unterbezahlten Wächter seine Schicht schob.
    Das Haus lehnte sich an das benachbarte, leerstehende Gebäude, als wäre es nicht in der Lage für sich zu stehen. Sicher, dass sie alleine auf der dunklen Straße war, trat sie auf die Tür des Nachbargebäudes zu, die nur noch schief in einer Angel hing und sich mit sanfter Gewalt öffnen ließ. Es war stockfinster im Inneren, doch Ueras Augen sahen im Dunkeln wie Katzenaugen und ihr blieb nichts verborgen. Sie watete durch den Unrat, den Staub der vielen Jahre, doch sie interessierte sich nicht für den schmutzigen Kram hier, ihr eigentliches Ziel war der gemeinsame Hinterhof der Gebäude, über den sie in das andere Anwesen einsteigen wollte.
    Sie spähte aus einem mit Spinnweben behangenen Fenster hinaus und änderte den Plan augenblicklich, als sie den großen, zottigen Hund entdeckte, der vor der Hintertür des Anwesens mit einer großzügig bemessenen Kette angebunden war und den Schlaf der Gerechten schlief. Sie hasste diese Tiere mit einer Leidenschaft. Sie waren mit ihrer Nase und ihrem Gehör so viel schwerer zu betrügen als ein Mensch. Sie waren so viel schneller und hatten zudem ein garstiges Gebiss, dass sich nur all zu gerne in Waden grub.
    Ihr Blick fiel missmutig auf den marode wirkenden Balkon, der sich an das Anwesen des Sammlers drückte und den sie vielleicht über das Dach erreichen konnte. Ein Risiko. Aber anders würde sie nicht an dem lästigen Köter vorbeikommen.
    Einen Augenblick später war sie bereits in den noch staubigeren Dachboden vorgedrungen und drückte ein Dachfenster auf, entschlüpfte in die Nachtluft, die hier oben nicht besser war, als unten auf der Straße. Bemüht, keine Geräusche zu verursachen zog sie sich aus dem Fenster, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und tastete sich auf dem eingesunkenen Dach vorwärts. Die Ziegel des alten Daches wackelten unter ihren Stiefeln und das Gebälk knarrte leise, wo sie auch hintrat. Schließlich geschah, was geschehen musste: ein Ziegel löste sich und Uera hielt die Luft an. Wie in Zeitlupe konnte sie das fallende Stück Ton beobachten, wie es über die anderen Ziegel rutschte, über die Dachkante glitt, sich einmal in der Luft drehte und schließlich klirrend laut auf dem Pflaster des Innenhofes zerplatzte. Intuitiv duckte sie sich, presste sich so nahe an das Dach, wie nur möglich, atmete tief aus um sich noch flacher an die kühlen Dachziegel schmiegen zu können.
    Nur einen Sekundenbruchteil später war die Luft von einem ohrenbetäubendem Bellen erfüllt, das sie Nacht zerriss wie ein schwarzes Tuch.

    Für einen Moment hatte der Blickkontakt gehalten, doch im nächsten starrte Uera schon in die Leere, wo zuvor noch der Yassalar gestanden hatte. Das Leuchten in ihren Augen brach und hinterließ ein stählernes Grau, in welches sich ein dunkles Blau einmischte, das sich wie Tinte in einem Glas Wasser verlor. Langsam kroch ihr Verstand der Tatsache hinterher, dass er nichts mehr sagte. Sie hörte genau, wie er Schluck um Schluck trank, was das schmerzhafte Kratzen in ihrer Kehle noch verstärkte.
    Es hinterließ ein beklommenes Gefühl in ihr, dass er ihr kein einziges Wort, nicht mal die kleinste Geste der Bestätigung schenkte. Sie wusste nicht einmal, ob sie es als Duldung interpretieren durfte, dass er sich abwandte, ob der Befehl, sich nicht zu bewegen, nun erloschen war. Vielleicht … aber war das alles? War er fertig mit ihr? Hatte sie gerade die Chance erhalten, um die sie zuvor gebeten hatte … oder musste sie noch mehr von dem durchmachen, was ihr heute widerfahren war?

    Die Anspannung in ihrem Körper ließ trotz der nagenden Ungewissheit nach und sie wagte es, sich von der angestrengten Haltung auf allen Vieren unendlich langsam in eine sitzende Position sinken zu lassen. Ihre Muskeln waren kalt, ermattet, sie war am Ende ihrer Kraft. Die verspannten Schultern sanken etwas herab und gaben ihrem gezeichneten Rücken eine leichte Rundung, als sie ihr Gesicht für einen Moment lautlos in die Schale ihre Hände presste, die taube Haut rieb und dann mit zwei Fingern einer zitternden Hand Druck auf ihre Nasenwurzel ausübte, versuchte, damit die pochenden Schmerzen hinter ihrer Stirn zu bändigen.


    Einige nicht gerade unwichtige Fragen kämpften sich durch die zäh wie Sirup fließenden Gedanken, doch sie wusste, wann es besser war abzuwarten und zu schweigen statt zu fragen. Sekunde um Sekunde vergingen und schleppend stellte sich eine Ordnung in ihrem Kopf ein, mit der sie arbeiten konnte.
    Wenn es wahr sein mochte, er sein Angebot ernst meinte und sie tatsächlich zu seinem Werkzeug werden konnte … so hatte ihr Leben heute eine erneute, harte Wendung genommen. Doch ungleich der vielen anderen Einschnitte, die aus ihrem Leben einen hässlichen Flickenteppich aus Schicksalsschlägen gemacht hatten, hatte dieser vielmehr einen zielführenden, ordnenden Charakter. Eine willkommene Ordnung, die Sinn in eine sinnlos erscheinende Aneinanderkettung unglücklicher Umstände bringen konnte. Das, auf was sie gewartet hatte, seit sie alt genug war, solche Gedanken zu formen. Das, was sie sich vor ihrem inneren Auge so oft ausgemalt hatte und was sie tausende Male wieder verworfen hatte.
    Eine fremd wirkende Emotion regte sich in ihrer Brust, machte sich selbstständig, riss mit plötzlicher Gewalt eine wahre Lawine an Gefühlen mit sich und es drängten sich Tränen in ihren Augen, die nicht aus Schmerz stammten, den man körperlich spüren konnte. Es konnte einen Sinn ergeben, alles ergab am Ende einen Sinn! Wie hatte sie jemals zweifeln können? Wie hatte sie so dumm sein können … so verblendet? Mitgerissen von einem Strom schwer zu beherrschender Gefühle, irgendwo zwischen Furcht und Zuversicht, zwang sie sich zur Beherrschung, gab sich die beste Mühe, diese Gefühle niederzuringen, für die es in ihrer Welt keinen Platz gab und niemals geben würde. So würde sie nicht nützlich sein.
    Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass sich zumindest zwei, drei der salzigen Tropfen aus ihren Augen befreiten und, einmal freie Bahn erhalten, an ihrem Gesicht hinabrannen und zu Boden tropften. Sie hoffte inständig, dass ihm diese Zeichen der Schwäche entgangen waren.

    Anmerkung: Dieser Thread spielt etwa 10 Monate in der Vergangenheit.
    ---


    "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
    Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
    Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse


    ---


    Ein schmaler Streifen Sonnenlicht drang durch den vergitterten Spalt, hoch oben in der Mauer. Das blasse Licht verkündete einen weiteren Morgen, der sich hinter den Mauern, weit über ihrem Kopf, auf die dunkle Stadt ergoss, doch reichte das Licht kaum aus, um die dunkle Gefängniszelle zu erhellen. Aus unruhigen Träumen erwacht, zählte Uera den 456. Morgen seit dem Tag, an dem sie den bisher einschneidendsten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Oder war auch dies nur ein grausamer Wink des Schicksals gewesen, das ihr eine Lektion erteilte und wollte, dass sie daran wuchs?
    Die Erinnerung an diesen Tag war seit dem etwas verblasst, doch Uera rief sie sich täglich in den Sinn, damit sie kein Detail jemals vergessen würde. Träge erhob sie sich von ihrem Lager, mühte sich, ihre mageren Glieder zu strecken, von denen sie jedes einzelne deutlich spürte, und sie begann an diesen einen Tag vor mehr als einem Jahr zurückzudenken.


    Ablehnung war ihr nicht unbekannt gewesen, doch nach den vielen Wochen der erfolglosen Suche nach einem Schmiedemeister in Caraska, der sie lehren wollte, hatte sie genug davon erfahren. Sie hatte ihre Suche endgültig aufgegeben, wollte weiterziehen, Richtung Küste, Richtung Meer ... doch die dunkle Stadt mit ihren schwarzen Häuserwänden, hatte sie in ihren Bann gezogen, hielt sie aus unerfindlichen Gründen länger fest, als sie gedacht hatte. In den vergangenen Jahren hatte sie viele Städte gesehen, viele Orte, an denen sich die Trockenen in ihrem Reichtum suhlten und viele Orte, an denen die Armut zum Himmel schrie – doch kein Ort war vergleichbar gewesen mit Caraska.
    Niemand verließ das Haus ohne Waffe. An vielen Tagen zog man im Morgengrauen einen Toten aus einem der Abwasserkanäle. Nahezu jeder hatte in seinem Leben schon gestohlen, geraubt oder gemordet. So gut wie nie verschwand der Geruch nach Schattentabak gänzlich aus der Luft und mit ihm der Geruch nach Ruß und Asche aus den vielen Schmieden.


    Hier, in ihrer Zelle, roch sie nichts davon. Prüfend tasteten Ueras Finger über ihre Unterlippe, deren Schwellung verriet, dass sie gestern aufgesprungen war. Sie ging auf einen Eimer sauberen Wassers zu, den sie sich gestern verdient hatte, ließ sich davor auf die Knie sinken. Es war kaum eine nennenswerte Menge, doch es reichte zumindest aus, um ihre Haut zu benetzen, ihre Kiemen zu befeuchten, das unangenehm raue, spannende Gefühl zu lindern, dass ihren ganzen Körper überzog. In diesem Verlies trocknete ihre Haut nicht so schnell aus wie an der freien Luft, schon gar nicht so rasch wie bei der Arbeit an der Esse, doch sie war fern von jedem Wasser und es hatte sie schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr umspült.


    An jenem Tag vor vielen Monaten war sie zum letzten Mal geschwommen, erinnerte sie sich mit einem Stich im Herzen, im relativ klaren Nass eines Kanals, der rauschendes Flusswasser an ein Wasserrad spülte, mit welchem eine stampfende Hammerschmiede betrieben wurde. Der Abend und die Nacht waren rasch über die Stadt hereingebrochen und dann, wenn in anderen Städten das Leben erstarb, schien es Caraska es genau anders herum zu sein. Die Straßen waren gut gefüllt, genau wie die Tavernen, Bordelle und auch die Häuser in denen der Konsum des Schattentabaks geradezu zeremoniell stattfand. Uera hielt sich von diesen Häusern fern. Alleine der schwache Geruch des verbrannten Krautes, der vielen wie ein Parfum anhaftete, war schon genug, um ihr Kopfschmerzen zu bereiten und so hatte sie sich diesen Häusern niemals mehr als absolut nötig war genähert.
    Stattdessen hatte sie sich an leichte Beute gewöhnt. Niemandem konnte so leicht sein ganzes Hab und Gut gestohlen werden, als den Berauschten. Und wenn die gut betuchten Damen und Herren ihrer Sucht nachgingen, war zumeist keine Seele mehr zuhause und wachte über ihr Eigentum. So hatte sie sich an jenem Abend auf dem Weg zu einem Anwesen gemacht, dass sie schon vor längerem entdeckt hatte und das eine gute Ausbeute versprach. Es war das Haus einer der vielen Waffensammler Caraskas und dafür, dass er so einige Schätze besaß, erschien ihr sein Haus nur spärlich bewacht. Die Vorfreude auf reiche Beute hatte Uera damals zu ungeduldig gemacht, zu unruhig und vor allem: unvorsichtig.


    Mit einem bitteren Ausdruck in Ueras Gesicht, schöpfte sie mit den Händen Wasser aus dem Eimer, füllte ihren Mund, durchspülte ihre Kiemen mit dem kühlen Nass, ließ es kontrolliert wieder aus ihnen ausströmen, ehe sie sich wieder der staubigen Luft verschlossen.
    Ein erlösendes Gefühl, das wohl nur ein Meereslebewesen fern seiner Heimat kennen konnte.

    Mit beiden Händen versuchte sie vergeblich den Aufprall ihrer Knie abzufangen, als er sie mühelos zu Boden brachte. Das hässliche Knirschen zusammengebissener Zähne wurde von einem dumpfen Schmerzenslaut untermalt, als das Pochen in ihrem Schädel für einen Moment an Intensität zunahm und sich ein erneuter Funkenregen vor ihren blinden Augen ergoss.
    Er spielte mit ihr, wusste, dass jede plötzliche Kopfbewegung, jede Erschütterung Schmerz bedeutete. Zorn wallte in ihr auf, gegen ihn, doch vor allem gegenüber sich selbst und ihrer eigenen Erbärmlichkeit. In ihrer Brust entstand das Gefühl, in die Tiefe gezogen zu werden und sie wusste, wenn er sie noch ein einziges Mal treffen würde, würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Kampf gegen die Ohnmacht verlieren.


    Die Hände am Boden zu Klauen verkrampft und mit benommenen Sinnen, spürte Uera, wie ihr Haar zur Seite geschoben wurde. Ihre unfokussierten Augen hatten Schwierigkeiten damit, seinen direkten Blick zu entgegnen und sprangen stattdessen zwischen seinen Augen hin und her, fanden keine Ruhe. Gedämpft drangen seine Worte an ihr Ohr, doch sie lauschte angestrengt, stumm, ließ sich keines der vielen Worte entgehen, die er an sie wandte. Er würde sich nicht wiederholen.
    Was war es für eine eigenartige Form von Freiheit, die er ihr gewähren wollte? Mit jedem seiner Worte wurde die Falte zwischen ihren zusammengezogenen Augenbrauen tiefer. Sie würde tun und lassen dürfen, was sie wollte, würde sagen dürfen, was sie wollte … aber? Aber was?
    Als er schließlich näher kam, so nahe, dass sie sein Gesicht in seiner Vollkommenheit scharf sehen konnte und sich seine warme Hand auf ihre legte, diese flach auf den Boden drückte, hielt sie verkrampft den Atem an. Was er sagte, brannte sich tief in ihren Verstand ein. Sie würde Befehlen bedingungslos Folge leisten müssen. Kein Zögern. Es war eine klare Bedingung, es waren klare Regeln. Sie würde nicht zögern. Fast wollte sie nicken, doch ihre Kopfverletzung ließ es nicht zu, so glomm wortlos das Verstehen in im abgestanden Grau ihrer Augen.


    Etwas änderte sich in der Luft. Ein wenig der Spannung wich aus ihr, als wäre sie in die Worte, die Schläge, die Schmerzen geflossen und darin abgeleitet worden, wie ein Gewitter die Abendluft entlud und sie kühl, still und bereinigt zurückließ. Auch etwas an seinem Blick veränderte sich, er sprach zu Ende, die willkommene Wärme, die sein Körper abstrahlte entfernte sich und Ueras Gesicht verschwand wieder hinter dem Vorhang ihrer Haare. Als ihr schließlich die Bedeutung seiner Worte klar wurde, konnte sie es nicht fassen.
    Wenn sie alles richtig machen würde, keinen Fehler begehen würde … dann würde er ihr die Sprache ihres Volkes beibringen? Er wollte sie ... belohnen? War das sein Ernst? Sie wagte kaum seinen Worten Glauben zu schenken … doch warum sollte er sie noch anlügen? Ihre Gedanken überschlugen sich, wirbelten durcheinander und stoben dann auf ein einziges Ziel zu. Dies war ihre Chance.


    Uera verlangte ihrem gepeinigten Körper ein langsames Heben des Kopfes ab, spürte, wie sie die letzte Kraft verließ, doch für diese Worte musste sie noch reichen. Zwischen den Haarsträhnen, die auf ihrem Gesicht lagen, leuchtete das Silbergrau zweier plötzlich wacher Augen auf.
    "Ich kann ... will damit leben … ", sagte sie entschlossen, holte Luft und fast wäre ein Lächeln auf ihren weißen Lippen erschienen. "... ich werde dich nicht enttäuschen."

    Zu ausgekühlt waren Ueras Glieder, um unter der Hand wegzutauchen, zu verzögert ihr Reaktionsvermögen, um ihren Kopf auch nur halb wegzudrehen. Geblendet von einem Blitz aus purem Schmerz und mit einem halb erstickten Aufschrei riss sie die Arme hoch, viel zu spät, presste ihre Hände auf ihren Hinterkopf, als könnte sie so dem berstenden Gefühl in ihrem Kopf entgegenwirken. Die Laute, die sie dabei hervorbrachte ähnelten nun mehr denen eines Tieres, welches halb leidend, halb wütend ein kehliges Grollen von sich gab. Er hatte es geschafft, ihr die Tränen in die verschlossenen Augen zu treiben, vor denen tausende Funken aufflogen.


    Dann war es mit einem Mal, als fiele ein schwerer Vorhang über sie, der jegliches Licht raubte und alles in Schwärze tauchte. Als ihre Umgebung nur Momente später flimmernd wieder vor ihr auftauchte, hämmerte ihre Schädel und ihr blieb das beunruhigende Gefühl, dass ihr ein paar Sekunden der Vergangenheit fehlten. Sie brauchte einen langen Moment, bis sie ihr Körpergefühl zurückgewann und sie sich dazu bringen konnte, die Augen zu öffnen, in denen selbst das schwache Licht der Lichtmuschel stach wie glühende Nadeln.
    Sie wusste nicht, wie sie es zustande gebracht hatte, aber sie war nicht gestürzt, sondern lediglich einen Schritt nach vorne gestolpert, hatte sich mit zwischen den Armen verborgenem Gesicht eingekrümmt bis ihre Ellenbogen die gebeugten Knie berührten. Schwankend stütze sie sich mit einer Hand auf, während die andere noch immer auf den Quell ihrer Pein gepresst war, als könne sie so verhindern, dass weiterhin der Schmerz daraus hervorquoll.


    Ueras Zunge klebte an ihrem Gaumen, gelähmt und unfähig Worte zu formen. Langsam sickerte die Erinnerung an seine Worte zurück in ihren Kopf. Nicht bewegen, hatte er gesagt. In Ordnung … aber was war mit dem Schürhaken? Für einen Moment bildete sie sich ein, das schneidende Brennen spüren zu können, das ein Hieb mit dem Feuerhaken hinterlassen konnte, sie erinnerte sich an die vielen Farben die ein Bluterguss haben konnte … doch sie war geistesgegenwärtig genug um zu wissen, dass es nur eine aufgescheuchte Erinnerung war, die sich ihr aufdrängte.
    Sie traute ihren Beinen kaum ihr eigenes Gewicht zu, so gering es auch sein mochte, und ihr war bereits schwindlig, ohne dass sie sich bewegte. Sie versuchte erst gar nicht, sofort wieder aufzustehen. Mit hängendem Kopf konnte sie ihn hinter den silbrigen Haarsträhnen nicht sehen, war auf diese Art erst gar nicht versucht, seinen ohne Frage zornigen Blick zu suchen. War sein Wesen selbst von so zorniger Natur, oder war es tatsächlich ihr Fehlverhalten, dass ihn aus der Haut fahren lies? Sie verachtete sich für die eigene Dummheit … noch einen Fehler durfte sie sich nicht erlauben, sonst war sein Interesse womöglich so schnell verraucht, wie es zuvor aufgetaucht war. Alles an der Situation brachte Uera weit in die Vergangenheit, zurück in ihre Kindheit, in der es sich als die beste Taktik erwiesen hatte, entweder still zu schweigen oder noch besser: sich unterwürfig zu geben. Es war kein Stolz mehr geblieben, wehrlos kauerte sie halb am Boden, halb auf den Beinen, machtlos, kraftlos und ohne ein Gegenwort, das ihr noch eingefallen wäre.
    Ihre flachen Atemzüge boten kaum genug Luft für Worte und ihre Stimme klang so rau, dass er es schwer haben musste, die Worte zu verstehen, die sie mühsam hervorbrachte.


    "Ich ... entschuldige mich … Zay'rass ... für meinen Un ... meine Unbeherrschtheit."

    Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, als der Blitz den Nachthimmel erhellte und ihr Kopf ein wenig sank, ihre Augen den Blick in die Ferne verloren und stattdessen qualvoll aufleuchteten. Auf ihrer Stirn erschienen Falten der Anstrengung und ihre Lippen schienen blutleer.

    Warum? Eine grausame und schwer zu beantwortende Frage, die nur jemand stellen konnte, der es nicht besser wusste. Sie mutmaßte, dass er, da er ein reinblütiger Yassalar war, vermutlich nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie es sein mochte, eine Ausgestoßene unter Ausgestoßenen zu sein. Er wühlte mit seinen Fragen eine empfindlich junge Vergangenheit auf, die sie lieber ruhen lassen wollte.


    "Warum bin ich nicht geflohen...", wiederholte sie seine Frage mit einem bitteren Unterton. "Erst war ich zu jung um mich zu wehren, zu fliehen … und wohin hätte ich fliehen sollen? Wozu?"
    Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie Freiheit erfahren und wie konnte man sich nach einem Geschmack sehnen, den man nie zuvor geschmeckt hatte? Verloren wie sie war, war ihr damals nichts anderes geblieben, als sich anzupassen, zu adaptieren, wegzustecken was niemand sonst wegstecken konnte. Zu ertragen, was nicht ertragbar war.
    Das Kratzen in ihrer Kehle wurde so aufdringlich, dass sie ihre regungslose Haltung auflösen musste und in ihre Armbeuge hustete. Erst als sie wieder zu Atem kam, bemerkte sie, dass es totenstill geworden war. Alleine der Regen brandete in Wellen geräuschvoll gegen die Scheiben, unerbittlich und kalt, perlte am Fensterglas ab wie all der Hass und die Feindseligkeit irgendwann an ihrem verhärteten Selbst abgeperlt waren.
    "Später … später war es mir egal und ich blieb um mehr zu lernen und dann zu verschwinden, sobald sich eine günstige Gelegenheit bot."
    Als der alte Schmied unvermittelt gestorben war, hatte sie genau das getan. Das Schmieden hatte ihr etwas wichtiges gegeben - das Gefühl etwas zu beherrschen und wenn es nur die Macht über die Form eines Stückes Metall war. Unter den zornerfüllten Hammerschlägen, in die alles floss, was sie sonst ungerührt ertrug, hatte sich irgendwann jedes Metall ihrem Willen gebeugt.


    Da seine erste Frage ihrer Meinung nach ausreichend beantwortet war, widmete sie sich der Frage nach ihrem Namen, denn sie schien ihm wichtig zu sein und die Dunkelheit in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, musste sie es erfahren. Er sprach die Sprache der Yassalar, er würde ihr sagen können, ob die Worte, die sie in ihren Träumen hörte eine Bedeutung hatten. Wenn er ihre Frage überhaupt hören würde und sich dazu herabließ, sie zu beantworten.
    "Niemand hat mir jemals einen Namen gegeben. Er stammt aus einem Traum.", sprach sie trocken doch dann sprang ihr Blick unvermittelt auf sein Gesicht, hoffnungsvoll, tastete nach den dunklen Augen. "Es ist Z'sharr, nicht wahr? Was bedeutet er?"



    Geduldig wartete sie darauf, dass sich der Yassalar an ihr sattgesehen hatte, widerstand dem Bedürfnis ihr Gewicht auf ein Bein zu verlagern um sich die aufrechte Haltung etwas angenehmer zu machen. Seine Worte klangen nach Hohn in ihren Ohren, das weiße Aufblitzen seines schiefen Grinsens ließ einen Knoten in ihrer Kehle entstehen, während ihre Augen einen tristen Ausdruck trugen. Die Spitze ihrer Zunge presste sich fest an die Innenseite ihrer Zähne, welche diese und die hämische Entgegnung, die auf ihr lag nicht freigeben wollten.
    Nichts auf dieser Welt würde ihrer Haut jemals die richtige Farbe geben können, würde das Weiß tilgen und mit ihm das falsche Blut in ihren Adern. Nichts würde ihr jemals den Anblick der eigenen Unvollkommenheit ersparen. Sie war und würde für immer das Produkt einer Verbindung bleiben, die es nicht hätte geben dürfen, die schmutziges Blut in Ahnenlinien gebracht hatte, die verschwendete Mühe und Zeit war.


    Bevor sie dem Drang nachgeben konnte, den Worten freien Lauf zu lassen, hatte er bereits ihren Ellenbogen ergriffen und sie folgte ohne Gegenwehr, sodass er sie kaum ziehen musste. Die plötzliche Berührung ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen und holte auch den Schmerz zurück, der in ihrer Körpermitte wohnte. Seine um ihren Arm geschlossene Hand fühlte sich glühend heiß auf ihrer ausgekühlten Haut an und so nah wie er ihr plötzlich war, spürte sie die Wärme, die sein schwarzer Körper abstrahlte. Er sprach gebieterisch, doch auf eine sanfte Weise, was Uera etwas verwirrte und auch die Bedeutung seiner Worte überraschten sie, zeugten sie doch von einem plötzlichen Interesse. Womöglich war die Neugierde zumindest für den Moment stärker geworden als die Lust darauf, sie zu Tode zu foltern. Ein Funken Hoffnung.


    Es machte sie nervös, wie er so um sie herumschlich und es fiel ihr schwer, seinen Bewegungen nicht zumindest mit den Augen zu folgen. Ihre Gedanken rasten, versuchten Fakten zu sammeln, die ihn interessieren würden. Schließlich schloss sie die Lider für einen Moment, atmete ruhig, schlug sie dann wieder auf und fixierte daraufhin einen imaginären Punkt weit hinter den Wänden des Raumes.


    "Uera.", krächzte sie, musste sich räuspern um ihrer rauen Kehle verständlichere Worte abringen zu können. "Im Meer geboren, als Säugling vor 33 Jahren unter die Kuppel gebracht. Sie hielten mich für das Opfer eines Schiffunglücks …", ein verächtliches Schnauben "... hielten mich für eine ertrinkende Trockene und … retteten … mich. Von einem Auffanglager an der Küste Yarsais brachte man mich in Waisenhäuser nach Kyora, nach Essyr, Dhara und über viele Umwege in den Süden Alizars, nach Fals'dain, wo ich das Schmiedehandwerk erlernte."
    Unter den vielen Erinnerungen, die ihr in den Sinn kamen, waren nur wenige, an die sie sich erinnern wollte, an ihre Zeit in Fals'dain jedoch erinnerte sie sich gerne. Es war eine gute Zeit gewesen, hart und lehrreich. Einige blasse Narben auf ihren Armen zeugten von Verbrennungen, die sie sich in der ersten Zeit reichlich zugezogen hatte, doch auf ihrer hellen Haut waren diese nahezu unsichtbar. Die vielen Stunden an der Esse und die weitaus zahlreicheren Stunden des Kohleschaufelns und Bedienen des Blasebalgs hatten ihren Willen und ihren Körper gestählt. Auf eine eigenartige Weise vermisste sie die Arbeit mit Metallen, Legierungen und Edelsteinen sogar, schon lange hatte sie das glockenreine Klingen eines Hammers auf einem Amboss nicht mehr vernommen.
    Es musste dem Yassalar schwerfallen, sich Ueras sehnige Gestalt mit einem Schmiedehammer in den Händen vorzustellen, doch sollte er Zweifel daran hegen, dass sie die Kraft dazu besaß, war sie gerne bereit ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
    Sie hielt einen Moment inne, lauschte nach den Schritten seiner nackten Füße auf dem Holzboden, bevor sie weitersprechen wollte.

    Als sie in seine von Erbitterung erfüllten Augen sah, zog sie unwillkürlich den Kopf ein wenig ein und ihre Schultern zuckten, als müsste sie sich unter der Erinnerung eines Hiebes wegducken. Doch es kam keiner und er sprach kein Wort, bewegte sich keinen Deut, zeigte nur diesen grollenden Blick und das Spiel angespannter Kiefermuskeln. Gegen wen oder was war dieser Groll gerichtet? Gegen sie?


    Restlos. Stück für Stück. Das waren seine Worte gewesen und als sie den nächsten Kälteschauer überstanden hatte, so löste sie schließlich die klamme Verschränkung ihrer Arme auf. Mit fest aufeinander gepressten Zahnreihen widmete sie sich ihrem Schuhwerk, zog die triefenden Stiefel aus, die ihre Füße nur unfreiwillig freigaben. Sie landeten mit einem schweren, nassen Geräusch auf dem Holzboden, unweit des Restes ihrer Bekleidung zu dem sich Momente später klatschnasse Socken, Unter- und Beinkleider gesellten.


    Nacktheit … nichts, was Uera jemals übermäßig genossen hätte, doch es war auch kein Schamgefühl in ihr, als sie die Arme neben ihren Körper sinken ließ und sich erst halb und schließlich ganz zu ihm umdrehte. Abgesehen von ein paar vereinzelten, wie verirrt wirkenden schwarzen Schüppchen hier und dort, war der Rest ihres Körpers hell wie die Innenseite einer Austernschale. Tatsächlich konnte sie bereits spüren, wie die Feuchtigkeit von ihrer Haut verdampfte, doch sie fror nach wie vor, konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken.
    Unter den mühsamen Atemzügen zeichneten sich ihre Rippen leicht ab, was ihre ohnehin schon schlanke Gestalt fast schon mager wirken ließ. Ihr Körper wirkte in erster Linie funktional und voller sehniger Kraft, stromlinienförmig, haarlos, glatthäutig. Er erlaubte keinen Prunk, keine verführerischen Formen, sondern wartete mit wohldefinierten Muskelgruppen, kleinen, festen Brüsten und einem flachen Bauch auf. Es kostete sie viel Kraft, aufrecht zu stehen, dem Drang sich vor Schmerz zu krümmen nicht nachzugeben.
    Mit einem Gesicht leergefegt von jeder Emotion stand sie schließlich da, deplatziert wirkend, abwartend, hilflos. Ihre Hände schlossen sich ohne einen festen Griff, öffneten sich wieder.


    Er wollte sehen, wie viel einer wahren Yassalar an ihr war, sie hatte ihm einen freien Blick gewährt. Zu gerne hätte sie gewusst, was er erwartet hatte, als er seinen Befehl ausgesprochen hatte, was er nun dachte hinter der nachtschwarzen Stirn, doch längst hatte sie das Gefühl beschlichen, dass es dem Reinen nicht um den Anblick ihrer nackten Haut ging. Nackte Haut war etwas, das er mit Sicherheit genug zu Gesicht bekommen konnte, wenn es ihm danach verlangte. Was er sehen wollte, war ihr Wille, wie er dahinschmolz … wie sie sich dem seinem unterordnete. Etwas in ihr wand sich wie eine Seeschlange angesichts dieses Gedankens und des tauben Gefühls, das ihren Kopf durchdrang. Gehorsam. Nichts, das sie ohne ein Ringen mit sich selbst leisten konnte.
    Ihr Kinn korrigierte sich einen Zentimeter nach oben und ein Hauch eines Lächelns zupfte an ihren Mundwinkeln. Sie sagte nichts, doch der leere, farblose Blick konnte alles bedeuten. Was nun?

    Sie hörte ihm aufmerksam zu, obwohl sie noch immer damit beschäftigt war, eine Atemtiefe zu finden, welche das Stechen in ihren Lungenflügeln zu mildern vermochte. Der Schmerz steckte noch immer wie ein Messer in ihrer Körpermitte und schien sich tiefer und tiefer zu bohren, verhinderte, dass sie sich vollständig aufrichten konnte.
    Langsam wurde ihr Blick klarer, doch seine Gestalt und sein Gesicht verschwammen noch immer vor dem schattigen Hintergrund des Zimmers. Rätselte er etwa über sie? Investierte Gedanken in sie? Wahrscheinlich würde er recht behalten und Zi'llail würde ihre Augen niemals gnädig auf sie richten, doch die Gunst dieser Göttin war ohnehin ein unerreichbares Traumgespinst. Sie maßte es sich nicht an, so etwas wie Gnade von der Göttin der Rache und des Hasses zu erwarten, bereits danach zu fragen erschien ihr vermessen. Viel mehr brannte ihr eine andere Frage unter den Nägeln … würde sie Gnade von ihm erwarten können?
    Kalt lagen seine Augen auf ihrem bemitleidenswerten Anblick und seine verschränkten Arme brachten noch mehr Distanz und Ablehnung mit sich, als sein schwarzer Blick alleine schon ausdrückte. Sie suchte erfolglos nach dem Vergnügen, welches ihm ihr Schmerz breiten sollte. Gab es tatsächlich noch den Hauch einer Chance, oder war es nur ein ausgefeiltes Spiel, eine List, eine Täuschung? Längst hätte er sich nehmen können, was er wollte und doch … was hielt ihn davon ab?


    Was es auch war, ihre Optionen hielten sich in Grenzen. Jedes Sträuben würde mehr Schmerz bedeuten, jede Bewegung in die falsche Richtung würde mit eiserner Härte bestraft werden und wenn sie heute Nacht sterben sollte, dann wollte sie ihren Tod nicht durch unnötige Widerworte herauszögern.
    Mit diesen schicksalsergebenen Gedanken kämpfte sie sich schließlich auf die Beine, schwankte etwas und obwohl es sie mit schwindelerregenden Schmerzen erfüllte, streckte sie den sehnigen Körper, versuchte ihn geradeaus anzusehen. Mit klammen Fingern öffnete sie die Schnallen, welche die Lederweste verschlossen, schälte sich ungelenk heraus und lies das schwere Kleidungsstück achtlos zu Boden fallen.


    "Ein Hai würde sich an mir einen Splitter in den Gaumen ziehen und mich freiwillig wieder ausspucken.", spottete sie krächzend, kehrte ihm im gleichen Atemzug den Rücken zu und zog mit einer schmerzhaften, aber halbwegs kontrollierten Bewegung auch die letzte Schicht Stoff aus, der nasskalt auf der Haut ihres Oberkörpers geklebt hatte. Die Luft auf ihrer nackten Haut fühlte sich eisig an, ließ sie erschaudernd die Arme vor der Brust verschränken, während ihr schuppengezeichneter, schmaler Rücken seinem Blick schutzlos ausgesetzt war. Ausgehend vom Kreuzbein kroch dort ein schwarzer Streifen an ihrer Wirbelsäule empor, verbreiterte sich auf Höhe der sich abzeichnenden Schulterblätter und verschwamm dort mit dem Weiß ihrer Haut, bis das Schwarz völlig verblasst war. Wenn er genau hinsah, würde er dort zwischen dem Schwarz und Weiß und dem silbernen Funkeln einzelner Schuppen schwache Narben entdecken, die leise von der ein oder anderen Tracht Prügel in ferner Vergangenheit erzählten.


    Stillschweigend flackerte ihr Blick über ihre Schulter, sah nach dem Yassalar und nach einer Regung in seinem kalten Gesicht.