Beiträge von Uera

    Er traf sie völlig unvorbereitet. Kein Bauchmuskel konnte angespannt werden und der Atem, den sie eigentlich hätte ausstoßen sollen, um die Folgen des Schlags zu lindern, blieb ihr in der Brust stecken. Sie wollte atmen, schnappte verzweifelt nach Luft, doch ihr Körper füllte sich nur mit einem krampfenden Schmerz, unter dem sie sich krümmen musste.
    Trotz des Anflugs von Panik konnte sie ein Schnappen der Kiemen unterdrücken, es war ohnehin nutzlos und schmerzhaft in der Trockenheit, und da sich ihr Sichtfeld zunehmend verdunkelte und zusammenzog, schloss sie die Lider. Uera schwankte, spürte sich auf die Knie sinken, sich schwer auf den Holzdielen aufstützen und wenn sie es vermocht hätte, so wäre ihr sicher ein Schmerzensschrei entkommen.
    Ihr Bewusstsein floh vor ihr und das Ringen nach Luft wurde immer unerträglicher, alle Gedanken blieben auf der Strecke und in ihrem Kopf hallten nur einige seiner Worte nach, als wollten sie Uera in die Dunkelheit begleiten. Erlöst … Herz deines Volkes … Schmutzblut …


    Ein rasselndes Aufschnaufen brachte nach nicht enden wollenden Sekunden des Erstickens endlich wieder Atemluft in ihre schmerzenden Lungen und das erste, was sie von sich gab, war ein schmerzerfülltes Wimmern. Diesem erbärmlichen Geräusch folgte zugleich ein kräftiges Husten und schließlich ein zitterndes Schweigen. Da ihr Gesicht dem Boden zugewandt war, konnte der Yassalar es nicht sehen, doch schmerzverzerrt wie es schien, so zuckte auch ein Grinsen über die Züge hinweg. Mit einer fahrig wirkenden Geste wollte sie Worte untermalen, die sie noch nicht über die Lippen bringen konnte und sie hustete heftig, bevor sie mit rasselndem Atem zu ihm aufblickte, sich halb aufrichtete. Ihre Iris war eisgrau, als wäre alle Farbe aus ihr gewichen, die Pupillen waren weit und unfähig, seinen Umriss scharfzustellen.


    In ihrem Herz wohnte keine Liebe für die niederen Völker … in ihrem Herz wohnte nur eins: der unbezwingbare Wille ihr Bestes zu geben dem Volk ihrer Ahnen nützlich zu werden. Er musste sie strafen, es war seine Pflicht … sie hatte sich dumm verhalten indem sie sich widersetzt hatte. Doch was wäre ihre Loyalität schon wert, wenn sie diese jedem entgegenbrachte, der ihr mit einem Messer in einem dunklen Hinterhof auflauerte und sie um ihr Leben erpresste?
    Auf der anderen Seite war das, was er ihr bieten konnte, unbezahlbar … es war in seiner Macht, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie verachtete sich selbst dafür, diese einfache Einsicht nicht schon früher getroffen zu haben. Es ging um mehr als sie überblicken konnte, es ging niemals um ihr Leben … es ging nie um sie. Sie war nur ein einzelnes, völlig insignifikantes Steinchen in einem Mosaik. Und sie musste sich in dieses einfügen. Er hatte vollkommen recht … sie hatte ihr Glück nicht begriffen, hatte ihre Chance nicht gesehen.


    Die Schmerzen durchtränkten ihren Körper mit einer eigenartigen Kraft, denn sie hatte gelernt, dass er ein Freund sein konnte … ein treuer Freund, wenn man ihn gewähren lies. Sie war zäh und während manch ein anderer womöglich noch auf dem Boden liegend nach Atem gerungen hätte, raffte sie bereits die Schultern und der Ausdruck ihrer blassen Züge wurde einsichtig, fast anerkennend.
    "Ich habe jede Strafe verdient ...", quälte sie dünn hervor, holte mehrmals flach und mühevoll Luft und sprach dann unter höchster Anstrengung weiter, "... was kann ich tun, Zay'rass … damit du mir eine zweite Chance gewährst?"

    Bereits das Knirschen von Stein auf Stein in seiner zusammengeballten Hand, die Vorstellung der Juwelen, wie sie in ihren Fassungen gegeneinander rieben, hatte ihr körperlich spürbare Schmerzen bereitet, doch was folgte, krönte all dies mit der intensivsten und tiefsten Angst, die sie jemals gespürt hatte. Noch bevor er die Klinge gegen sie erhob, ihre Klinge, die sie selbst bei mörderischer Schärfe hielt, hatte sie die dunkle Erkenntnis gewonnen, die sie wie zur Salzsäule erstarren lies. Sie wusste, sie hatte den Punkt erreicht, den sie nicht hätte überschreiten sollen. Und sie wusste, dass es sehr wahrscheinlich längst zu spät war, einen Schritt zurück zu machen.
    Ihr Herz jagte, schlug so hart, dass man es an ihrem Hals pochen sehen konnte. Ihr Innerstes zog sich krampfhaft zusammen, als könne sie so vor der Klinge zurückweichen, doch deren Schärfe blieb schneidend nah, so nah, dass sie sich einbildete, das klingende Geräusch hören zu können, mit dem sie durch Haut und Fleisch schnitt.
    Seine Worte phaszinierten Uera, fesselten ihren Geist, auch wenn sie im gleichen Moment wusste, dass er von ihrer Seele sprach, aus der er das Leben pressen würde bis nichts mehr zurückblieb, das ihr Körper beherbergen könnte. Dennoch verblieb eine abnorme Neugierde in ihr, die einen Moment lang die Überhand gewann. Wie viel Schmerz würde ihre Seele, ihr Körper verkraften, wenn sie ihn nicht davon abhalten konnte, ihr die zweifelhafte Ehre yassalarischer Folter zukommen zu lassen?


    "Meine Seele ist in deiner Hand.", flüsterte Uera und es fiel ihr schwer, dem stechenden Blick standzuhalten. Sie atmete bebend ein, erschauderte, halb wegen der lähmenden Angst, halb wegen dem kalten Stoff, der die Wärme aus ihrem Körper saugte. Kraftlos wirkend hob sie die Hände ein wenig, entwaffnet, ausgeliefert. Mit unendlich langsamen Bewegungen und unter seinem wachsamen Auge schob sie einen Ärmel hoch, entblößte den Anfang eines verschwommen wirkenden Streifens schwarzer Haut, durchsetzt von Silberschuppen, der sich entlang der pochenden Pulsader zog und sich ungesehen weiter an ihrem Arm hinaufzog. Der Rest ihrer Haut leuchtete hell im Dunkel des Raumes, reflektierte mit einer Spur von perlmutternem Schimmer das wenige Licht. "Mit ihrer unvollkommenen, traurigen Hülle."


    Betend, dass der Anblick der Zeichen ihrer meerischen Herkunft seinen Zorn etwas besänftigen mochte, versuchte sie erfolglos aus seinem unbewegten Gesicht zu lesen. Noch immer wagte sie es kaum zu atmen ob der Nähe des Dolches zu ihrem Körper. Mit jedem Atemzug erwartete sie den Auftakt zu einem langen, qualvollen Sterben und in ihren grauen Augen zeigte sich ein unstetes Schimmern, als tobte hinter den glänzenden Flächen ein hoffnungsloser Kampf. Er wollte sie testen und auf des Messers Schneide stehend prüfen, doch was er bisher gekostet hatte war der Starrsinn und die Widerspenstigkeit, die in Uera wohnten und welche langsam, aber sicher unter der Furcht erstickten.
    Vielleicht hätte sie zustoßen sollen, als er vor ihre Dolchspitze getreten war. Vielleicht war dies alles der größte und der letzte Fehler, den sie in ihrem Leben begehen würde. Vielleicht war dies die allerletzte Chance, das Schicksal zu ihren Gunsten zu wenden.

    Ihr Blick stach unsichtbare Löcher in den schwarzen Rücken, den er ihr zugewandt hatte. Ihm in den Rücken fallen … ein verlockendes Stichwort, doch etwas hielt sie zurück, eben dies zu tun. Erst leise, dann immer lauter begann sie flach und humorlos zu lachen. Sie glaubte ihm kein Wort. Nicht eines.
    Ihr Blick glitt spurlos über die Muskelstränge seiner Arme, seiner Schultern, seines Rückens, die im schwach durch das Fenster fallenden Licht tiefe Schatten warfen. Wie er dort stand, am Fenster zur Straße, den Blick auf die nasse und doch unerträglich trockene Stadt gerichtet … es war nichts als ein Spiel für ihn. Er spielte mit ihr wie eine Katze mit ihrer Beute spielen mochte, wissend, dass sie ihr nicht entkommen konnte. Er versuchte, sie mit einer aussichstlosen Situation zu erpressen, die sie längst als solche akzeptiert hatte.


    Einen Atemzug dauerte es, dann tauchte sie nahe neben ihm auf und ihr Gesicht wirkte teilnahmslos, auch wenn sich in ihren Augenwinkeln ein kleines Bedauern andeutete.
    "Dann bleibt mir wohl keine Wahl … Zay'rass.", raunte sie und ihr Blick glitt ähnlich dem seinen über die im Dunkeln und Stillen liegende Straße. Noch immer tropfte es aus ihrem Haar und sie begann zu frieren, was sich in gelegentlichem Schaudern und einem immer sichtbarer werdenden Blauschimmer ihrer Lippen zeigte.
    Schweren Herzens löste sie schließlich ihren Gürtel, befreite ihn von der goldschweren Gürteltasche und ihrem Dolch. Den Dolch legte sie unweit von sich selbst auf dem schmalen Fensterbrett ab, ihren Gürtel legte sie zusammengerollt daneben, genauso wie die zuvor abgelegten Handschuhe. Es tat weh, doch sie widerstand der Versuchung, einen letzten Blick auf die edlen Steine in ihrer Tasche zu werfen. Es würde den Abschiedsschmerz nicht lindern. So kurz nur hatten sie ihr gehört … so kurz nur! Doch wie gewonnen, so zerronnen und so reichte sie dem Yassalar ihre Tasche, sah ihn dabei von der Seite an, nicht ohne ein kurzes Aufleuchten von Widerwillen in den Augen. Dann richtete sich ihr Blick wieder aus dem Fenster, auf einen unsichtbaren Punkt im Bindfadenregen.


    "Das hier ist mehr Wert als all das Geld, das aktuell auf meinen Kopf ausgesetzt ist. Zusammen mit meinem Kopfgeld … eine nette Summe. Möge es dir mehr nutzen als der Stadtwache."

    Sie hielt seinem Blick regungslos stand als die Sekunden verstrichen, in denen sie keine Antwort auf ihre Frage erhielt. Das Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren schwoll zu einem alles dämpfenden Dröhnen an, sie konnte den Blick nicht von den dunklen Iriden abwenden, die einen eigenartigen Sog entwickelten, je länger sie hinsah.
    Ein fröstelndes Gefühl nistete sich in ihrem Nacken ein, breitete sich unaufhaltsam aus, während ihre Gedanken jegliche Richtung verloren. Alles, an was sie noch denken konnte, war eine alte Erinnerung. Eine Erinnerung an ihren ersten Blick in die Tiefsee. Der in die schwärzeste See stürzende Blick, so tief, dass sie niemals ein Lichtstrahl durchdringen konnte, so tief, dass man ihren Grund nie lebend erreichen würde. Die endlose, übermächtige Tiefe, die jeden Körper zerschmetterte unter dem Druck zahlloser Tonnen Wasser. Die unermessliche Kälte, die aus dem Abgrund hervorquoll, aus der dunklen Ungewissheit, lauernd, lockend, ziehend. Völlig unbewegtes Wasser, keine Strömung, kein Wirbel, keine Regung. Kein Geräusch. Was mochte dort lauern ...


    Nur gedämpft vernahm sie seine Worte, doch sie waren laut genug, um sie der Oberfläche wieder etwas näher zu bringen. Eine steile Falte entstand zwischen ihren Brauen, sie wollte etwas sagen, doch ihr erstarrter Verstand fand keine Worte in der Leere. Sie verfolgte seine ruhigen Bewegungen, musterte jeden einzelnen Finger der fordernd ausgestreckten Hand. Erst mit einiger Verzögerung begriff sie den Inhalt seiner Worte und nur langsam versickerte die Schwere, die sich auf ihre Glieder gelegt hatte und ihre verkrampfte Haltung löste sich etwas.
    Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihm nach ihrer Beute und ihrer nackten Haut verlangte … war es nicht nur eine List, ein Manöver, eine Übung, die zeigen sollte, was sie aufgeben würde, um ihm dienlich zu sein? War der Befehl, sich vor ihm zu entblößen nicht nur ein träger Versuch zu sehen, wie viel Gegenwehr sie aufbringen konnte?
    Sie wusste nicht, welcher Teil seiner Worte dieses Verlangen in ihr geweckt hatte, doch alles was sie tun konnte, war ihr schmales Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen und ihm den in die Höhe gereckten Mittelfinger ihrer rechten Hand zu präsentieren. Sie ging davon aus, dass er bereits gelernt hatte, was diese Geste der Trockenen zu bedeuten hatte.


    "Interessiert dich der Inhalt meiner Tasche so sehr?", fragte sie mir rauer Stimme und als fiele ein besonderes Licht auf sie, flog ein sachter bläulicher Schimmer über ihre Iris. Sie ahnte, dass er auch diesen Worten absolut keine Wichtigkeit beimaß. Vermutlich hörte er nicht mal zu.
    Wenn er herausfinden wollte, wie viel einer wahren Yassalar an ihr war, würde sie ihm gerne ein paar Einblicke in ihr Inneres anbieten, aber dass ihr Äußeres keinem yassalarischem Maßstab genügte, musste ihm auch so klar sein. Sie schälte ihre weißen Hände aus den Handschuhen, hob sie auf Augenhöhe, brach den Blickkontakt und besah einen Moment nachdenklich die durchscheinenden Schwimmhäute, die sich zwischen den gespreizten Fingern spannten. Dann blickte sie wieder in die abgrundtiefe Schwärze in seinem Gesicht, versuchte mit aller Kraft dem schwindelerregenden Sog zu widerstehen.
    "Und was sagen dir ein paar Schuppen über meine Nützlichkeit?"

    Schau dich nur an, Tsa'lin!, raspelte seine eindringliche Stimme noch lange in ihren Ohren, auch dann, als er sie längst wieder losgelassen hatte. Sich dem Strom übergebend, den stromlinienförmigen Körper nur mit kleinen Bewegungen im Fluss haltend, mahlte sie nur stumm mit den Backenzähnen. Legst dich freiwillig in Fesseln ... wo deine Natur dich zur tödlichsten aller Jägerinnen machen würde. Sie hatte sich eine schnippische Antwort verkniffen, auch wenn sich hinter ihrer Stirn vielerlei Entgegnungen formten, die sie ihm nur all zu gerne entgegengeworfen hätte. Aber er hatte Recht, mit all seinen Worten. Die Fesseln der Gewohnheiten, die sie sich in Jahren des Lebens unter den Trockenen angeeignet hatte, boten jedoch auch alle ihre Vorteile. Sie boten ihr ein weitgehend unentdecktes Leben, mitten unter den Staubatmern, unter den Erbärmlichen. Ungesehen, unverdächtigt. Und diese Fesseln waren schneller abgelegt, als er vielleicht dachte. Sie fragte sich, ob er das auch realisierte … ob es vielleicht gerade das war, was ihn davon abgehalten hatte, sie auszuliefern.


    Sie begegneten auf der kurzen Strecke im Fluss niemandem, wofür Uera aus tiefstem Herzen dankbar war. Dennoch erlaubte sie sich den erheiternden Gedanken, dass es der Yassalar offenbar eher in Kauf nehmen würde, sich vor einem anderen bloßzustellen, als sie klägliches, ausgeblichenes Etwas zurückzulassen. Mit dem gleichen Maß an Neugierde wie Skepsis versuchte Uera sich auszumalen, was der Schwarzgeschuppte mit ihr vorhaben mochte und ein eisiger Stich in der Magengegend erinnerte sie daran, dass sie keine Ahnung hatte, was sie erwarten mochte.


    Uera schleppte sich aus dem Wasser, der Stoff ihrer Kleidung erstickend eng auf ihrer Haut klebend, das Gesicht bleichgewaschen. Sie verabscheute dieses Gefühl so sehr, dass sie sich am liebsten an Ort und Stelle die Kleider vom Leib gerissen hätte. Ein prüfender Griff versicherte ihr, dass sie ihre Gürteltasche samt Inhalt noch bei sich trug. Ihre Stiefel erzeugten leise quietschende Geräusche, als sie die Böschung hinauf lief, obwohl sie lange nicht so vollgelaufen waren, wie sie zunächst befürchtet hatte. Die gedanklichen Flüche von vorhin wiederholten sich in ähnlicher Form, als sich ihre Augen neidend auf den Yassalar richteten, der sich um einiges würdevoller aus dem Wasser erhoben hatte und nun nahe an einem Nervenzusammenbruch schien.
    Mit einem schweifenden Blick hatte sie sich rasch orientiert, folgte den Schritten ihres Gebieters jedoch nur zögerlich, als er eiligen Schrittes auf die Tür eines Gasthauses zuging. Das Korallenriff.
    Zu teuer, zu sauber, zu hell für Uera. Sie bevorzugte die zwielichtigen Tavernen der Stadt, falls sie einmal den ein oder anderen Gedanken ertränken wollte. Dort wo sie einzukehren pflegte, hob niemand besonders lange den Blick von seinem Krug, egal wer eintreten mochte. Unabhängig von diesem Gedanken hätte sie jetzt durchaus etwas vertragen können. Etwas starkes. Leise seufzend öffnete sie ihren Haarknoten, schüttelte die nassen Silberhaare noch vor der Tür aus, bevor sie eintrat.


    Ein ungutes Gefühl überkam sie, als sie die regnerische Nacht hinter sich ließen und das warme, trockene Innere des Gasthauses betraten. Sie hatte die letzte Chance einer Flucht ungenutzt verstreichen lassen. Es war vorbei, hatte keinen Zweck mehr. Sie ergab sich dem Lauf der Dinge. Wenn sie heute in ihr Verderben geführt werden würde, so war es ihr Schicksal.
    Den mehr als fragenden Blick des Wachmanns quittierte sie mit einem drohenden Funkeln aus ihren stahlgrauen Augen. Schweig. Zu seinem Glück beging er nicht den Fehler, sie anzusprechen.
    Ihre Schritte hinterließen nasse Abdrücke auf dem sauberen Boden, doch es war ihr einerlei. Sie folgte ihrem Zay'rass stumm und mit unlesbarer Miene die Treppe hinauf, wagte ob der angespannten Stimmung nicht, ihn anzusprechen. Doch als sie schließlich das Zimmer erreichten, das er sich wohl gemietet hatte, erschien ein dünnes Lächeln auf ihren Lippen.


    "Nicht übel.", sagte sie mit einem Hauch von Ironie in der trockenen Stimme, strich sich einige nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht, trat nach ihm über die Schwelle. Ihr Blick streifte die saubere, gepflegte Einrichtung anerkennend. "Warum nicht aus dem Vollen schöpfen?"
    Das Lächeln fiel von ihrem Gesicht ab wie ein totes Blatt von einem Baum, als sie sich dem Yassalar zugewandt hatte. Zum ersten Mal seit er sie in dem kleinen Hinterhof angegriffen hatte, gönnte sie sich einen längeren Blick, versuchte in seiner Körperhaltung und in seinem Mienenspiel einen Anhaltspunkt dafür zu finden, was als nächstes geschehen würde.
    "Nun.", sprach sie mit ausdrucksloser Stimme und ein kühler Ausdruck zeichnete sich auf ihrem blassen Gesicht ab. "Warum sind wir hier."

    Es gab einige wenige Geräusche, welche die blasse Yassalar so liebte, dass es sie geradezu nach ihnen dürstete und sich ihr scharfes Ohr in der Stille nach ihnen sehnte. Das Fauchen der Luft, wenn sie die Glut einer Esse in die Höhe jagte. Das regelmäßige, sandige Reiben eines feuchten Wetzsteins an einer Klinge. Das knirschende Schmirgeln von Diamantpapier auf einem edlen Stein. Und das Geräusch eines ins Wasser eindringenden Körpers.
    Ein Schauer überkam sie und es drängte sie, es ihm gleich zu tun, einzutauchen in die Wellen des Flusses, welcher unaufhaltsam seinen Weg durch die Stadt fraß, alles und jeden mit ins Meer ziehen wollte. Doch ihre Schritte verebbten, sie kam langsam zum Stehen, so nahe am Wasser, wie es ihr die Uferbefestigung erlaubte.


    Es regnete, mit Nachtschwärmern war kaum zu rechnen und Uera lenkte ihre Aufmerksamkeit alleine auf die unstete Oberfläche des dunklen Wassers, das den schwarzen Leib des Yassalars verschlungen hatte. Mit grauen Augen tastete sie nach ihm, versuchte ihn auszumachen, doch er war ein schwarzer Leib in schwarzen Fluten und jede Suche war vergebens.
    Still fluchte sie über die Stiefel, die sie noch eben sicher übers Pflaster getragen hatten und die ihr nun Bleigewichte an den Füßen wären, sie verfluchte die Notwendigkeit der trockenen Kleidung auf ihrer bleichen Haut, die ihr eben noch die notwendige Tarnung gegeben hatte und nun nutzlos und vollgesogen an ihr ziehen würde. Ihr war elend, denn sie wollte nichts an diesem Ufer zurücklassen und gleichzeitig wollte sie keine weitere Sekunde verlieren und dem Yassalar folgen. Für einen kurzen Moment verharrte sie regungslos in der Uferböschung, starrte in die Wellen. Entfernt knatterte eine letzte Lichtfontäne am Himmel, warf für einen kurzen Augenblick ein eigenartiges Licht auf ihre Umgebung, zeichnete ihren Schatten scharf umrissen auf das Wasser.


    „Da drüben!“, rief eine sich überschlagende Stimme. „Am Wasser! Da steht einer von ihnen!“


    Ihr kam ein gleichermaßen entnervtes wie erschrockenes Stöhnen über die Lippen. Wie hatten es diese verfluchten Trockenhäute geschafft, ihnen zu folgen?
    Mit verärgert wirkenden Bewegungen und unter zahlreichen Flüchen beugte sie sich vornüber, zog die Schnallen an den Stiefeln fester, denn sie hatte nicht vor, ihr Schuhwerk an den Dessibar zu verlieren. Die schweren Regentropfen stürzten sich geradezu vom Kuppelhimmel, als wollten sie alles trockene Leben ertränken, doch Uera schlug die Kapuze zurück, setzte ihr Gesicht dem strömenden Regen aus. Unelegant, aber mit mürrischer Sorgfalt stopfte sie sich die Kapuze in den Kragen, warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. Sie waren noch viele Schritte entfernt. Sie schenkte den regennassen, schwerfälligen Gestalten, die mit rußenden Fackeln angerannt kamen, nur ein kurzes säuerliches Lächeln.
    Mit einem flach angesetzten Sprung durchbrach auch Uera schließlich die Wasseroberfläche, ließ sich vom aufgewühlten Nass umspülen und weit in Richtung der Hauptströmung ziehen, der sie nur mit einem gewissen Kraftaufgebot widerstehen konnte. Die relative Kälte des Stromes umfing sie wie ein eisiger Mantel. Im selben Moment, in dem sich ihre Kiemen dem Dessibar öffneten, schlug sie die silbergrauen Augen auf, um sich nach dem anderen umzusehen. Die Strömung zerrte an ihrer Kleidung, drang in die Stiefel ein, so fest diese auch an ihren schlanken Waden anliegen mochten.


    „Wohin?“, rief sie die Frage ins Wasser, übergab ihre Stimme dem Element, dem sie zustand. Sie wusste, dass er es hören würde.

    Tsa'lin. Schon wieder dieses Wort. Er schien ihr einen Namen gegeben zu haben. Blieb nur zu hoffen, dass es kein Schimpfwort war.
    Natürlich war sie ihm gefolgt. Er hatte ein beachtliches Tempo vorgelegt. Es schien Uera zwar mehr als leichtsinnig angesichts des steten Regens und der Tatsache, dass das schlüpfrige Pflaster seinen nackten Füßen kaum Halt bot, doch trotz allem kam sie nicht umhin, seine Gewandtheit zu bemerken. Er mochte seine Schwierigkeiten auf diesem ungewohnten Terrain haben, aber jede einzelne seiner Bewegungen verriet auch den gnadenlosen Jäger in ihm.


    Geräuschlos schob sie sich aus seinem Windschatten und trat neben ihn. Ein Hauch Genugtuung lag auf ihren Zügen, als sie die Augen für einen Moment schloss, um sich besser konzentrieren zu können. Ein Moment Stille, dann ein zögerliches Neigen des Kopfes, dann schlug sie die Augen wieder auf, machte einen kleinen Schritt an ihm vorbei und lies dabei eine Hand ein wenig in der Luft schweben, als wollte sie ihn damit zurückhalten. Uera wagte einen Blick um die nächste Hausecke, die Straße hinab, aus der sie leises Getrippel vernommen hatte. Nur ein großer Straßenköter, der in einiger Entfernung nach einem trockenen Platz suchte.
    „Nichts relevantes.“, antwortete sie, wandte sich mit undurchschaubarer Miene wieder dem Yassalar zu und widmete sich dann dem zweiten Teil seiner Frage.
    Sie hatten sich dem Randbereich des Viertels genähert, wo die Wohnpaläste kleiner und merklich heruntergekommen waren, die ein oder andere Residenz leer stand und langsam zu verfallen begann. Die Straßen waren enger, weniger frequentiert und weniger lukrativ für Straßendiebe. Was wiederum bedeutete, dass das Aufgebot an Stadtwachen vernachlässigbar war. Dennoch, es war Vorsicht geboten. Jenseits der Straßenkreuzung führte die schummrig beleuchtete, leicht abschüssige Straße in sanften Biegungen weiter.
    „Das Wasser ist nah.“


    In knappen und akkuraten Worten beschrieb sie den sichersten Weg zum Kanal. Kaum hatte sie ihre Beschreibung abgeschlossen, setzte sie ihren sehniger Körper in Bewegung und hatte nach wenigen gestreckten Schritten ein ähnliches Tempo erreicht wie zuvor. Die Hauswände flogen nur so an ihr vorbei, doch ihr Gehör und ihre Augen waren stets einen Schritt vorraus.
    Sie ließ sich nie weit zurückfallen, blieb zumeist auf einer Höhe mit dem Yassalar, behielt ihn im Auge, sodass es ihm unmöglich war, eine falsche Abzweigung zu nehmen. Es gab viele blind endende Gassen hier, die nur in beengte Höfe führten, einen durch verwilderte Gärten stolpern ließen oder gar mit einer senkrechten Wand endeten. In den schmaleren Gassen mit den überhängenden Gebäuden war der Untergrund streckenweise nahezu trocken. Unter Ueras Stiefelsohlen machte es keinen großen Unterschied, doch der Yassalar musste dankbar sein für den griffigeren Untergrund.


    Ihr Körper bewegte sich wie von selbst in den tiefen, sicheren Schatten, ohne viel bewusstes Zutun und so drängten sich ihr einige Überlegungen auf, kreuzten ihre Gedanken. Keine Frage, er hatte sie in der Hand. Obwohl es ihr ein Leichtes gewesen wäre, davonzulaufen … sie traute es dem Jäger zu, sie bald wieder aufzuspüren und sie konnte sich nur ausmalen, was ihr dann blühen mochte. Außerdem … war es nicht auch immer ihr Wunsch gewesen, ihrem Volk letztlich doch dienlich zu sein? Dies hier mochte die einzige Chance sein, die sie jemals dazu erhalten würde. Der letztere Gedanke löste schließlich eine verbissene Entschlossenheit in ihr aus, die sich in ihrer angespannten Körperhaltung und im Spiel ihrer Kiefermuskeln abzeichnete, als vor ihren Augen die vom Regen genährten Fluten des Dessibar auftauchten.
    Sie würde nicht enttäuschen.

    Kaum, dass er ihr den Rücken zugewandt hatte, fiel die Maske der Beherrschtheit von ihrem blassen Gesicht und was darunter zum Vorschein kam, war alles andere als gefasst. Niemand würde sie erwischen. Er unterschätzte sie und das schmerzte Uera an einem Punkt, den sie nicht für so verletzlich gehalten hatte. Sie spie noch einmal auf das Gras aus, versuchte den aufkeimenden Zorn gemeinsam mit dem Blutgeschmack loszuwerden, ehe sich ihre Gesichtszüge wieder glätteten.


    Wie ein Schatten nahm sie seinen Platz auf der Mauer ein, als er ihn freigab. Leichter und kleiner als er, kauerte sie hoch oben auf dem Stein, strengte ihr feines Gehör an. Selbst im prasselnden Regen und unter dem Knallen der Feuerwerkskörper konnte sie definitiv Schritte auf den Straßen hören. Noch waren die Schritte fern und sie konnte nicht bestimmen, welcher Art sie waren - doch Uera legte auch wenig Wert darauf, es herauszufinden. Das plötzlich schnappende Geräusch von Kiemen irritierte Uera und sie konnte ein verärgertes Zischen und einen strafenden Blick auf den Yassalar hinab nicht unterdrücken. Zügel deine Kiemen. Es ist auch so schon schwer genug etwas zu hören., schien ihr Blick zu sagen, doch die dazu passenden Worte blieben ihr gerade noch so im Hals stecken. Sie schloss, dass er wohl noch nicht all zu lange an der Luft weilte.


    „Fünf.“, wisperte sie knapp an der Hörgrenze, bevor ihr etwas entgegnet werden konnte. Sie schloss kurz die Augen, horchte nochmals nach, ehe sich ihr Blick wieder auf den Yassalar hinabsenkte, dessen Körper wie lebendig gewordenes schwarzes Metall im Regen glänzte. Sein nasses, silberweißes Haar leuchtete im Dunkel der Gasse so hell, dass es fast in ihren Augen wehtat. „Zwei auf dem Weg von der breiten Allee hier her, drei nähern sich parallel zu dieser Straße … von links.“
    Vor ihrem inneren Auge entfaltete sich eine detaillierte Teilkarte des Viertels. Sie würde ihm sicher nicht blind hinterherlaufen, direkt in die Arme der Stadtwache und er durfte nicht erwarten, dass sie ihm noch an den Fersen klebte wie ein nasses Blatt, wenn es ernst werden würde.
    „Wohin auch immer dein Weg führen mag ... Zay'rass … der klügste Weg führt nach rechts, Richtung Dessibar.“, schloss sie etwas hörbarer, schmeckte neugierig das fremde Wort auf ihrer Zunge und landete mit einem katzenhaften Sprung neben ihm auf dem Pflaster. Es war an der Zeit, die Beine in die Hand zu nehmen.

    Elektrisierend durchzuckte der Schreck ihr Innerstes. Diese plötzliche Nähe, diese Berührung, diese Worte - es brachte sie halb um den Verstand. Nichts hasste sie mehr, als angefasst zu werden und doch ... war das hier anders. Während sich ihr Kern wand und sträubte, breitete sich ein warmes Prickeln auf ihren Schuppen aus, das sie so nicht kannte. Wie gelähmt wagte sie es kaum zu atmen, geschweige denn zurückzuweichen oder dem Impuls nachzugeben, seine schwarze Hand einfach wegzuschlagen.
    Zay'rass. Etwas sagte ihr, dass das nicht sein Name war, doch gleichzeitig war es ihr egal. Sie erwartete nicht, dass er ihr seinen wahren Namen nannte und es war ihr gleich, bei welchem Namen er sie nennen wollte. Such dir einen heraus, der dir gefällt.


    Ein zweiter Schreck durchzuckte ihren Körper nur einen Moment später, als das Feuerwerk zischend den Himmel zerschnitt und ihr Blick gleich seinem an den Himmel schnellte. Diesmal brachte es sie in Bewegung, löste die erstarrten Muskeln, löste ihr Gesicht aus der Hand des anderen. Mit einem Mal kehrte sie in den Moment zurück, erfasste die Situation. Sie hatte ihre Umgebung schändlich missachtet, sie befanden sich viel zu nahe am Geschehen, viel zu tief in einem von zahllosen Wachen gespickten Bereich des Viertels.
    Sie war verletzt, spürte, wie der mit warmem Blut vermischte Regen an ihrem Nacken hinabrann, doch all das zählte nun nicht, sie wollte nur noch eins: so schnell wie möglich fort von hier.


    Der Befehlston seiner Stimme perlte spurlos an ihrem Geist ab, sie hatte sich schon längst nach seinem Dolch umgesehen, ihn gefunden und aufgehoben. Die Kapuze über ihren triefnassen Kopf ziehend kehrte sie zurück, kaum dass er seinen Satz beendet hatte. Nach einem kurzen, abschätzenden Blick auf die Klinge bot sie dem Yassalar seine Waffe offen an, mit dem Griff voran, wie es sich gehörte.
    Ihre grauen Augen stachen ihm aus dem Dunkel der Kapuze entgegen. Ihre Miene zeigte nichts als Anspannung und langsam niederbrennenden Stolz. Niemals hätte sie etwas vergleichbares für einen anderen getan. Niemals.


    Der Fluchtweg ihrer Wahl war nach wie vor der Weg über die Dächer. Nass wie die Ziegel waren, mochte es ein gefährliches Unterfangen sein, doch sie wusste, wo sie ihre Füße hinsetzen konnte. Schon wollte sie sich in Bewegung setzen, doch etwas lies sie auf den anderen Yassalar warten. Fragend und finster wanderte ihr Blick in seinem Gesicht umher. Niemals zuvor hatte sie an jemanden anderen gedacht als sich selbst, wenn sie sich ihre Wege suchte.


    "Wir ...", kam es ihr leise über die regennassen Lippen und ihre Mundwinkel zuckten kurz nach oben. Schnell und stark … aber ist er geschickt wie ich?

    Gegen ihren Willen flackerte ihr Blick einen Augenblick lang auf die Klinge hinab. Oft schon hatte sie diese Klinge den Puls eines Wesens schmecken lassen und diesen ohne Zögern für alle Zeit zum Schweigen gebracht, doch niemals zuvor hatte es sie mit einem derartigen Unbehagen erfüllt. Das berauschende Gefühl der Macht über Leben und Tod wollte sich nicht einstellen, es blieb alleine das demütigende Gefühl ausgeliefert zu sein, ihr hart und schmerzhaft schlagendes Herz und ihr Atem, der gepresst und gequält klang.


    Die Wahl vor die er sie stellte, war eine Farce. Es gab keine Wahl. Es hatte ihn nur Momente gekostet, ihr ganzes Weltbild zu ergründen und er traute sich offenbar zu, es so gut zu kennen, dass er sich völlig ungeschützt vor ihre Klinge stellte, die Klinge, die schon vielen anmaßenden Wesen den letzten Atemzug geschenkt hatte. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie nicht zustoßen können.
    Er konnte es nicht wissen, doch für Uera schien er der letzte Stein in einem Mosaik zu sein, dass nun endlich ein Bild ergab, die Gelegenheit, auf die sie schon seit jeher gewartet hatte. Es war als würde seine Stimme ihrem Körper jede Spannung nehmen. Ihr Griff um den Dolch wurde lockerer, ihre Knie weich und es kostete immer mehr Kraft, den Blick auf die dunklen Augen zu konzentrieren, und ihn nicht an dem perfekt geformten Körper hinabgleiten zu lassen, dunkler als die schwärzeste Nacht, glänzender als der reinste Obsidian, die sie in ihrem Leben bisher gesehen hatte.


    Ohne ihr bewusstes Zutun entfernte sich die rasiermesserscharfe Klinge etwas von seinem Sternum. Sie würde es nicht wagen, ihn zu zeichnen. Nicht so. Allein der Gedanke daran ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Nur eine Armlänge vor ihr stehend war seine Präsenz übermächtig, das Bedürfnis mehr Abstand zu gewinnen war gleich stark wie das ziehende Gefühl, diese glattschuppige Haut berühren zu müssen. Es war ihr offen lesbar ins Gesicht geschrieben.
    Er erwartete eine Antwort, eine Entscheidung. Ihre Augen verengten sich misstrauisch und nahmen einen etwas ungläubigen Ausdruck an. Was, wenn es nur eine Täuschung war?


    „Dienen.“, wiederholte sie trocken, bestätigend, sich völlig bewusst, dass sie hiermit ihre Entscheidung traf. Der Dolch fand mit einem schleifenden Geräusch seinen Platz an der Lederscheide an ihrem Gürtel. „Wie?“

    Mach die Augen auf, Schmutzblut, hallte es in ihrem Kopf wider. Sie waren offen. Ihre mit Nachtsicht gesegneten Augen versuchten seine Gestalt in allen Details zu erfassen, jeden abperlenden Regentropfen auf der wie eingeölt wirkenden Haut zu verfolgen. Sein Anblick verworr ihre Gedanken immer mehr, je länger sie hinsah. Sie wusste, was sie vor sich hatte. Und er wusste nun offenbar auch, was sie war. Der Regen wurde stärker, wusch ihr Gesicht immer heller und versickerte in ihrer Kleidung.


    Für den Bruchteil eines Moments wollte sie dem Befehlston des Yassalar Folge leisten, einen Moment lang wollte zumindest ihr Körper gehorchen. Dann schloss sich ihre Hand um so fester um den Griff ihres Dolches. Sein spöttischer Blick schmerzte dort wo er auf ihr lag mehr, als ihr pochender Kopf und der oberflächliche Schnitt an ihrem Hals vereint. Neben grenzenloser Bewunderung begann Trotz in ihr aufzusteigen. Sie wusste ihn überlegen … doch er hatte seine Waffe verloren, sie hielt ihre noch in der Hand und diesen Hauch einer Überlebenschance wollte sie nicht aufgeben, trotz der deutlichen Aufforderung.


    Er kam ihr näher, näher als es ihr recht war und sie schob sich auf dem nassen Gras davon, kam wieder auf die Füße, hielt Abstand. Sie bemühte sich, dem Yassalar fest in die schwarzen Augen zu blicken, reckte ihr Kinn ein wenig.
    "Was ...", begann sie, kämpfte die aufwallenden, wild durcheinanderjagenden Gedanken nieder ohne ihren Blickkontakt zu unterbrechen. "Womit habe ich diese Ehre verdient?"
    Keine Ironie verbarg sich in ihrer Stimme, denn sie meinte es genau so, wie sie es gesagt hatte. Warum stand diese Ausgeburt der Perfektion vor ihr, gerade ihr, und wollte ihr an den Kragen? Was hatte sie getan um das zu verdienen? Auf ihren rußverschmierten Lippen tauchte ein schmales Lächeln auf. Offensichtlich war sie es sogar Wert, einen sicherlich sehr schmerzhaften Tritt einzustecken, denn noch war sie am Leben.
    Langsam richtete sie sich vollständig auf, streckte die langen, schlanken Gliedmaßen, raffte die Schultern nach hinten und lenkte den stolzen Blick geradeaus, wo er seinem ungerührt begegnete.

    Dem letzten Blitz folgte zaghaft ein leises Donnern. Um ein Haar hätte sie es geschafft, doch jede Faser ihres Körpers war von Schmerz getränkt und als sie mit dem Gesicht voran auf dem feuchten Gras landete, bemerkte sie, wie ihr langsam aber sicher die Kraft ausging. Sie raffte sich auf, drehte sich so schnell sie konnte auf den Rücken, spuckte auf den gepflegten Rasen aus und fand erst jetzt Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen und - vor allem - ihren Dolch zu ziehen.
    So nahe war sie einem der ihren erst ein einziges Mal in ihrem Leben gewesen, doch der letzte Yassalar, dem sie begegnet war, hatte sie nicht in diesem Aufzug gesehen. Geschwärzt, versteckt unter einer Staubschicht. Sie spürte schwere Tropfen auf ihrer ungeschützten Haut zerplatzen. Mit ihrer Tarnung würde es bald nicht mehr weit her sein, wenn der Regen stärker würde.
    „Schwör auf Zi'llail so viel du willst!“, spie sie ihm mit rauer Stimme entgegen, bemerkte, dass er beiläufig sein Z'sharr abgelegt hatte. Jeden Moment erwartete sie, dass sich der Yassalar auf sie stürzte und jeden verstreichenden Augenblick nutzte sie, um ihre Kräfte zu sammeln. Wie viele würde er ihr geben, schwer atmend, wie er vor ihr stand?
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihre Zunge befeuchtete nervös die nach Blut und Asche schmeckenden Lippen, trug ungewollt etwas Kohle davon. Es schien, als hätte Zi'llail wahrlich noch eine Rechnung mit Uera offen, nun da sie ihr ihresgleichen auf den Leib hetzte. Ihre Augen leuchteten inzwischen in einem bedrohlich wirkenden Blau, ihre Lippen bebten wie ihre Schultern und der Dolch, den sie gut sichtbar vor sich hielt. „Was hattest du erwartet. Was willst du von mir?“
    Tatsächlich konnte sie sich nicht vorstellen, was er von ihr wollte. Ihr Leben, mutmaßte sie. Doch wofür? Geld? Ein Kopfgeldjäger? Im Geiste musste sie lachen … war ihr Kopf doch weitaus weniger wert als das, was sie momentan in ihrer Tasche trug. War sie endlich einem der ihren begegnet, nur um zu sterben? Oder war dies die Prüfung, auf die sie seit so vielen Jahre wartete?

    Ein greller Blitz aus Schmerz durchzuckte ihren Schädel, als ihr Hinterkopf gegen die Mauer geschleudert wurde, ihre Zahnreihen schlugen aufeinander und der Aufprall presste jede Luft aus ihrer Lunge. Ein zweiter, dumpfer Schmerz folgte gleich einem Donnergrollen und gab ihr das Gefühl, dass ihr Schädel zersprang.
    Gefangen zwischen einer Klinge an ihrer Kehle und der Mauer in ihrem Rücken, blieb ihr nichts als der von Schrecken ergriffene Blick nach vorne, ihrem Angreifer direkt ins Gesicht. Der salzige, metallische Geschmack ihres Blutes breitete sich auf ihrer Zunge aus.
    Zwischen den Wellen des Schmerzes, die alles in Dunkel tauchten, sah sie die schimmernden Züge des Schwarzhäutigen deutlich vor sich und als seine Worte an ihr Ohr drangen, der scharfe Klang den Schleier um ihr Bewusstsein zerriss, fühlte sie ihr Herz in tausend Stücke zerbersten. Yassalar.
    Sie verstand kein Wort, doch der schwarze Blick, der sich tief in ihren pochenden Schädel zu bohren schien, war eindeutig. Eine falsche Bewegung und es würde die letzte ihres Lebens sein. Hinter ihrer Stirn fochten Bewunderung und Furcht einen aussichtslosen Kampf.
    Bebend rang sie nach Luft. Er entblößte ihr Gesicht, nahm ihr die letzte Möglichkeit auch nur einen einzigen Teil ihres Gesichtes vor ihm zu verbergen. Ueras Gedanken überschlugen sich.
    Niemals ohne einen Kampf. Reflexartig bleckte sie die zusammengebissenen Zähne, rosa gefärbt durch ihr eigenes Blut, versuchte ihrem schmerzverzerrten Gesicht einen möglichst wehrhaften Ausdruck zu verleihen. Ein lautloser Blitz zerbrach die Dunkelheit.
    "Vorsichtig", presste sie hervor und wie niemals zuvor bereute sie es, kein Wort Z'sharr zu sprechen.
    Völlig unvermittelt schnellten ihre Hände an die Dolchhand des Yassalars, packten das kräftige Handgelenk mit einem eisernen Griff und drückten es mit aller Kraft fort von ihrer Kehle. Der gebotene Gegendruck verlieh ihrem leichten Körper genügend Halt um sich gegen die Mauer in ihrem Rücken zu stemmen, flink ein Bein heran zu ziehen und dem Yassalar einen gewaltigen Tritt zu verpassen, in welchem alle Kraft steckte, die sie aufbringen konnte. Plötzlich befreit, doch mit benebelten Sinnen stolperte sie davon, auf die nächste Mauer zu in der Absicht diese zu erklimmen.

    Die Yassalar mit dem geschwärzten Gesicht spähte zwischen dem Schmuckwerk aus Grün hindurch und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass sich mittlerweile die meisten Gäste zu ihren Plätzen begeben hatten und lauthals anfingen zu singen und zu feiern. Sie hielt nach interessanten Opfern Ausschau, doch es fiel ihr schwer sich zu entscheiden. An nahezu allen Handgelenken und Fingern leuchtete Gold und Silber auf, hier und da strahlte ein Rubin an einer Kette, ein Diamant an einem Ring und es klimperten Goldblättchen an Ohrringen. Eine bleiche, schwarzhaarige Dame, die einen Schuss Elfenblut abbekommen haben musste, trug gleich mehrere Ketten aus schwarzen Perlen und Perlmuttscheiben, würdig eines Yassalarhalses. Was erlaubt sich dieser widerlicher Abschaum!, spie Uera in Gedanken und hätte ihr den meerischen Schmuck am liebsten von ihrem langen Schwanenhals gerissen. Sie hieß die Trockenhaut vieles, das besser unausgesprochen blieb.
    Plötzlich blieb Uera jedoch der Atem in der Kehle stecken. Ihre Fingerspitzen prickelten. Ein phaszinierendes Collier aus einem dutzend perfekt geschliffener Saphire hatte ihren Blick gefangen. Für einen Augenblick vergaß sie beinahe, wo sie sich befand. Uera schluckte, ihr Hals war trocken. Unmöglich. Sie konnte niemandem unbemerkt eine Kette vom Hals stehlen, solange dieser noch bei völligem Bewusstsein war. Die Djirin, welche dieses edle Schmuckstück trug, setzte sich ganz in Ueras Nähe auf eine der Bänke, überschlug die langen Beine und verwickelte einen dort sitzenden Edelmann in ein belangloses Gespräch. Die in blankes Silber gefassten, von kleinen Diamanten umringten Steine leuchteten wie tiefe Seen, in denen sich der Mond spiegelte, zum Greifen nah und doch unerreichbar. Ein ziehender Schmerz füllte ihren Brustkorb, als sie die Aussichtslosigkeit der Situation erkannte. Sie musste es haben! Die Enttäuschung quälte sie, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ihre Zunge befeuchtet ihre Lippen nervös, doch sie verharrte an Ort und Stelle. Vielleicht …
    Ueras Miene verdunkelte sich zusehends. In ihr wuchs das Verlangen nach Chaos, die Lust darauf, Unruhe zu stiften. Es bereitete der Yassalar Mühe, diesen Drang zu zügeln, zumindest, bis sie einen Plan geschmiedet hatte.
    Ein kühler Wind strich mit einem Mal durch den Hof, lies die Krone der Platane über ihr rascheln und die Kerzen in den schaukelnden Laternen flackern. Die Wolken hatten das durch die Kuppel dringende Mondlicht mittlerweile vollständig verdunkelt und die hereinbrechende Nacht roch für Ueras Nase intensiv nach Regen. Eine Bedienung huschte mit leeren Händen an Ueras Versteck vorbei und kam wenige Momente später mit einem Tablett voller kleiner, mit klarer Flüssigkeit gefüllter Gläschen zurück. Ueras Gedanken rasten auf eine Idee zu. Eine Schweißperle kroch ihre schwarze Stirn hinab.
    Das Mädchen stolperte über etwas, das zuvor nicht dagewesen war und wurde von einem kleinen Gegenstand am Kopf getroffen. Klirrend zersprangen zehn, elf kleine Gläser auf dem steinernen Boden und das Mädchen lies einen spitzen Schrei hören. Viele Köpfe drehten sich nach der Quelle des Geräusches um und sie hätten sich rasch wieder abgewendet – wenn die weiße Schürze des Mädchens nicht plötzlich in gleißend blauen Flammen gestanden hätte. Der Wind hatte wohl eine Laterne gelöst, die auf sie herabgestürzt war.
    Im aufwallenden Chaos der plötzlich übereinander stolpernden Adligen hatte Uera ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Die Djirin war mindestens einen Kopf größer als sie, doch das machte keinen Unterschied als Uera diese umgerempelt hatte und die hochgewachsene Frau schimpfend auf dem Bauch landete. Uera beugte sich kurz über sie und war sofort wieder wie vom Erdboden verschluckt, während das Mädchen weiter wie am Spieß schrie.
    Ueras Herz pochte laut, ihre Ohren schmerzten, sie musste nun schnell sein, unglaublich schnell, wenn sie den Platz verlassen wollte, bevor die kurzlebige Flamme des Alkohols wieder erloschen war, die Djirin sich aufrappelte und das Fehlen ihres Schmuckes bemerkte. Außerdem hatte das Geschrei mit Sicherheit die Wachen auf den Plan gerufen. Mit langen, flinken Schritten entfernte sie sich von all dem Tumult und glitt ungesehen durch das Tor, durch das sie zuvor hineingelangt war, schob es hinter sich zu.


    Nichts konnte den Triumph beschreiben, der in dem kohleschwarzen Gesicht glomm, als die Dunkelheit des kleinen Gartens sie empfing. Mit beschleunigter Atmung, berauscht, glühend, und mit einem breiten Grinsen im Gesicht ging sie ein paar langsame Schritte, um wieder zu Atem zu kommen. Uera lachte atemlos und strich kennerhaft über die verschiedenen, perfekten Schliffe der funkelnden Saphire des Colliers im Inneren ihrer Gürteltasche.
    Sieh zu, dass du Land gewinnst!, mahnte ihre innere Stimme, doch sie hielt einen Moment inne. Ein unangenehmes Gefühl beschlich die Yassalar, ein Gefühl das sie dazu brachte, die Luft anzuhalten und ihre Hände neben den Körper sinken zu lassen. Sie hörte nichts und sie sah nichts, doch wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu sein. Ein Grummeln am Himmel kündigte ein Sommergewitter an und die Spannung in der Luft wuchs ins Unterträgliche. Leise fielen die ersten vereinzelten Tropfen auf die Blätter der Pflanzen. Ueras schmale Schultern spannten sich auf eine unbehagliche Art und Weise, als sie langsam den Kopf drehte, um über ihre Schulter zu blicken.

    Alle Aufmerksamkeit galt dem Brautpaar, welches damit begann sich im Takt der Musik zu wiegen und zu drehen und in einer eigenen Welt versunken schien, einer Welt, in der es nichts gab außer das Gesicht des jeweils anderen. Selbst die Mägde, welche noch die Speisebretter umklammert hielten, sahen dem Paar völlig verzaubert beim Tanzen zu. Viele der reich geschmückten Gäste hielten Gläser und Becher und bereits aus der Ferne konnte man verschütteten Rotwein riechen, den die verlegten Natursteinplatten der Tanzfläche begierlich aufsogen.
    Nur ein graues Paar Augen war nicht auf das Brautpaar gerichtet, sondern tastete die Umgebung ab. Sachte schob eine schlanke, behandschuhte Hand das Tor ein wenig weiter auf, darauf bedacht, dabei in Deckung zu bleiben und kein Geräusch zu verursachen. Sie hatte Glück, denn das Tor bewegte sich geschmeidig in seinen Angeln.
    Uera atmete noch einmal tief ein, dann leerte sie ihre Lungen vollständig und mit einer einzigen fließenden Bewegung wand sie sich durch den knapp mehr als handbreiten Spalt, zog ihn lautlos hinter sich zu. So lange sich das Brautpaar drehte und drehte, konnte sie sich ungesehen bewegen … sobald die Musik stoppte, musste sie sich in Position gebracht haben. Geduckt huschte sie fort von ihrem geheimen Zugang, hin zu den Tischen und Bänken, an welche sich die Gäste wohl als nächstes begeben würden. Die Gerüche vieler Speisen hingen schwer in der Luft, je näher Uera kam, desto dichter und weniger atembar schien ihr die Luft.
    Hinter einem stattlichen Blumengesteck aus weißen Rosen und üppigen Palmwedeln fand Uera zunächst ein Versteck, doch hier würde sie nicht lange bleiben können. Es bot lediglich nach vorne Schutz vor Blicken und sobald sich die Gäste um die Tische scharten, war ihre Deckung dahin. Die Musik stoppte und mit ihr setzte auch Ueras Herz einen Schlag aus. Ihr Blick blitzte durch die Blätter, fixierte Braut und Bräutigam, welche sich lachend verneigten, aber keine Anstalten machten, die Hand des jeweils anderen loszulassen. Die Musiker setzten zu einem neuen Lied an, ungleich schneller und lebhafter als das triefend süße Stück, dass sie zuvor gespielt hatten.
    Der großen Zi'llail sei Dank..., seufzte es tief in Uera, ihr Puls beruhigte sich wieder etwas und sie atmete tief. Ihre Muskeln surrten und die Anspannung, die sie bis in die Fingerspitzen spürte, war nicht ansatzweise vergleichbar mit dem, was sie bei ihren Straßenraubzügen verspürte. Es war eine andere, herausfordernde Art des Stehlens im Vergleich zum kaltblütigen, blitzschnellen Zustechen, Rauben und Verschwinden … es bedurfte einiges mehr an Geschicklichkeit. Sie wusste nicht, wem sie hiermit etwas beweisen wollte, doch sie wollte es und so fasste sie das Versteck ins Auge, dass sie schon vom Tor aus erspäht hatte.
    Wer auch immer diese Hochzeit geplant und gestaltet hatte, hatte damit ein großes Herz für Diebe bewiesen. Denn um die konzentrisch angeordneten Tische war genügend Grünzeug und Blütenschmuck angebracht worden, nur unterbrochen von mit Blumengirlanden geschmückten Bögen, dass Uera im Schutze dieser den Platz umrunden konnte, ohne gesehen zu werden. Wenn sie es geschickt anstellte.
    Nichts anderes hatte sie vor und so tastete sie sich näher an die Gäste und ihren Rückzugsort heran, bis sie nahe genug herangeschlichen war, um die mit Geldkatzen behangenen Gürtel begutachten zu können. Ein etwas untersetzer, abseits stehender Mann würde später bemerken, dass ihm einige Goldmünzen fehlten und eine Dame, deren entzückendes, perlenbesetztes Handtäschen all zu verloren an ihrer Seite baumelte, würde daran einige der wertvollen schwarze Perlen vermissen. Ein zauseliger, alter Kerl würde sich später ärgern, dass er seine goldberahme Lesebrille zuhause vergessen hatte. Die Musik nahm an Tempo zu und die Leute begannen zu jubeln und zu klatschen.
    Ein vorbeifliehender Schatten huschte an einem der Girlandentore vorbei und glitt in eine schlanke Lücke zwischen den Blumengestecken und einer der drei alten Platanen, die den Hof bei Tage beschatteten und nun mit Laternen behangen waren. Mit dieser im Rücken und der restlichen Blumendekoration vor sich, wollte die Yassalar unbemerkt warten, bis sich die Gäste gesetzt hatten. Es lockte die ein oder andere unbeobachtete Hand- und Manteltasche und möglicherweise ein paar verlorene, golden schillernde Armkettchen.
    Als die Musik fürs erste verstummte, ahnte niemand, dass ein ungeladener Gast unter ihnen weilte, der im Schutze von Baum und Blattwerk verborgen blieb und hämisch in sich hineingrinste.

    Heute wollte Uera sich nicht mit ein paar ärmlichen Trunkenbolden zufriedengeben, denen schon ein kleines Kind die Geldkatze stehlen konnte und welche die Hälfte ihres Geldes schon versoffen hatten. Heute wollte sie Gold sehen, keine Kupferkrabben.
    Innerlich vibrierte sie vor Erwartung, doch sie bewegte sich leise und vorsichtig. Auch im Seeviertel kannte man ihr Gesicht und es konnte nie falsch sein, Vorsicht walten zu lassen. Hier genügte es ihr noch, mit gesenktem Blick durch unbelebte Gassen zu huschen, aber sobald sie das Seeviertel verlassen hatte, mied sie die offene Straße. Die Gebäude begannen prunkvoller zu wirken, die Grundstücke waren zunehmend befestigt, von Mauern umgeben und mit Toren verschlossen. Die Gärten waren groß und voller reizend gestutzter Bäumchen, zwischen denen Marmorstatuen oder Springbrunnen standen. Die Wohnbereiche der Adligen interessierten sie heute jedoch nicht, sie steuerte die öffentlicheren Bereiche an, die Promenaden und Treppen, die Arkaden, Höfe und Brücken.


    Uera kürzte durch den gepflegten Garten eines Adelshauses ab, hinter dessen edlen Buntglasfenstern bereits das Licht erloschen war. Auf diesem Weg konnte sie die gut ausgeleuchtete Allee vermeiden, durch die sich zu dieser Tageszeit ein steter Strom wohlgekleideter, parfümierter Trockenhäute bewegte, unter die sich auch gerne die ein oder andere Stadtwache mischte.
    Sie gab sich wenig Mühe, die Blumen zu schonen, die sich lieblich an die mannshohe Gartenmauer schmiegten, als sie sich hinaufzog um von dort in die dahinterliegende schmale Gasse zu gelangen. Niemand war zu sehen, doch sie hörte sich rasch nähernde Stimmen und so schwang sie sich über die Mauer, setzte beinahe lautlos auf und verschwand sogleich hinter einer Anschlagssäule. Es näherten sich vier Männer, die sich nicht gerade leise unterhielten, lachten und deren Stiefelsohlen vertraut auf dem Pflaster klackerten. Wachen.


    „... ich sag's euch … die Braut! Dieser Anblick … ich war selten so abgelenkt!“
    „Pff. Halt die Klappe! Mich hatten sie am Küchenausgang abgestellt und ich habe nichts als Küchenabfall und runzlige Mägde zu Gesicht bekommen!“
    „Hehe ... muss sich eben zu benehmen wissen, wenn man mit den feinen Damen und Herren zu tun haben möchte.“
    „Oh, halt doch die Schnauze, Draeb!“


    Ueras Hand hatte sich bereits um den Griff ihres Dolches geschlossen, sie blieb jedoch völlig unbemerkt, als die Herren an ihr und der Säule vorbeigingen und dabei zeterten wie ein Haufen Waschweiber. Sie lehnte sich aus dem Schatten, sah den Männer nach, wie sie die Gasse verließen und entschied, dass sie sich diese Hochzeit näher ansehen würde.
    Mit ihrem scharfen Gehör vernahm schon von Weitem die liebliche, süßliche Musik und begann, wieder von Schatten zu Schatten zu gleitend, sich der Festlichkeit zu nähern. Unvermittelt trat aus einer Seitengasse direkt vor ihr eine Wache und um ein Haar wäre Uera mit ihr zusammengeprallt, wäre sie nicht im letzten Moment stehen geblieben und hätte sich hinter den schmalen Umriss einer Laterne gepresst. Die Wache ging unbehelligt ihrer Wege. Ueras Puls raste, ihre Hände schwitzten, ihr Atem ging flach. So viele Wachen hatte sie schon lange nicht mehr an einem Fleck gesehen. Sie gebot sich zur absoluten Vorsicht, zur Geduld und gleichzeitig wuchs die Vorfreude und das Verlangen in ihr, fremdes Gold und fremdes Geschmeide in ihre Taschen zu füllen.
    Die Diebin hielt sich von den Fronten der Gebäude fern, bewegte sich in deren Rücken, wo sich lediglich Dienstboten- und Lieferanteneingänge fanden, wo vereinzelt Karren standen und sich einige Kisten türmten. Mit wenig Mühe hatte sie über eine Außentreppe und einen kleinen Kletterakt entlang einer Balustrade das Dach eines angrenzenden Hauses erklommen. Ihre Augen erfassten ein hohes, flaches Dach, welches im scharfen Schatten eines Giebels dem Hof der Festlichkeit zugewandt war. Leise und ungesehen huschte sie in den Schatten des Giebels und genoss den uneingeschränkten Überblick, den sie nun über den Hof hatte. Sie selbst verblieb ungesehen, ein unförmiger schwarzer Umriss in einem dunkeln Schatten.


    Zu viel Licht., war das erste, was ihr einfiel. Der gut gefüllte Platz war sehr gut ausgeleuchtet, jeder einzelne Eingang befand sich an ungünstiger Stelle und stank förmlich nach Stadtwache. Eine Herausforderung … in ihr flammte das kalte Feuer des Ehrgeizes auf. Angestrengt analysierte sie die räumlichen Gegebenheiten weiter, doch immer wieder gelang es der Musik, sie abzulenken. Uera knirschte verärgert mit den Zähnen. Sie hatte Musik schon immer gehasst, diese ekelhaft wohligen Klänge, die sich ins Gehör schlichen die Gedanken verwirrten. Doch sie lenkte auch die Besucher des Festes ab … und die Wachen. Es würde für sie ein Leichtes sein, den Taschen und Beuteln der Unaufmerksamen etwas näher zu kommen. Wenn sie sich Zugang verschaffen konnte.
    Ihre Augen leuchteten auf, als sie einen angrenzenden, vollkommen im Dunklen liegenden Garten erspähte. Keine Wache in der Nähe, kein Auge war auf das Tor gerichtet, das einen ungesehenen Zugang zum Platz bot. Sie plante eine Route über die Dächer und Mauern, auf der sie leise und zügig dorthin gelangen konnte. Von dort würde es auch ein leichtes sein, wieder zu verschwinden.
    Ueras Lippen teilten sich zu einem blitzenden Grinsen. Eine solche Gelegenheit musste genutzt werden.


    Nur Augenblicke später glitt sie geschmeidig von einer überwachsenen Mauer hinab in den Garten. Bevor sie sich weiterbewegte, lauschte sie angestrengt. Eine solche Gelegenheit wie diese ... würde sicher auch nicht lange anderen Dieben verborgen bleiben. Die Geräusche und die in den kleinen Garten quellende Musik machten es schwer, andere Geräusche auszumachen. Ihre Yassalaraugen vermochten die Dunkelheit zu durchdringen, doch alles was sie sah war ein Grau in Grau aus Vegetation und Mauern und so wähnte sich alleine, als sie sich in kleinen, vorsichtigen Schritten dem Tor näherte, um hindurchzuspähen.

    So neigte sich ein weiterer Tag eines weiteren erfolglosen Monats voller fruchtloser Tätigkeiten dem Ende zu. Wenigstens war sie mit viel Kernseife und ausdauerndem Schrubben mit einer harten Bürste den abstoßenden Geruch losgeworden und ihre Straßenkleider lüfteten draußen im Abendwind aus.
    Zerknirscht sah Uera aus dem blinden Fenster ihres Zimmers. Alles, was man von dort aus sehen konnte war ein schmutziger, kleiner Hof, vollgestellt mit Kisten, Fässern und scheinbar wahllos verteiltem Unrat. Auf einer Mauer saß der wohl hässlichste Kater, den Nir'alenar jemals gesehen hatte - fett, mit struppigem roten Fell, einem fehlenden Auge und einem zerfetzten Ohr - und jaulte erbärmlich. Abgesehen von ihm war jedoch keine Seele dort draußen unterwegs.
    Ueras Blick war alleine auf den Abendhimmel gerichtet, in Richtung des über der Kuppel aufgehenden Mondes und der aufziehenden Wolken. Heute schien der Mond als schlanke Sichel über der Kuppel, nicht ideal, aber die Kuppel selbst und die Wolken verdunkelten ihn und zerstreuten das Dämmerlicht etwas. Vielleicht würde es sogar etwas regnen? Regen bot allerdings so viele Nachteile, wie er Vorteile brachte und so hoffte Uera, dass es trocken blieb.
    Ein Blick in ihre Geldbörse verriet ihr, dass sie zwar ihre Miete bezahlen können würde - viel konnte man für eine Baracke wie diese auch nicht verlangen - aber dass sich ihr Geldvorrat dem Ende zuneigte. Eigentlich kein Problem, sie fand stets genügend Arbeit, für die sie die ein oder andere Münze bekommen konnte, aber diese Tätigkeiten befriedigten sie selbstverständlich nicht.
    Sie erlaubte sich ein tiefes Seufzen und wandte sich schließlich vom Fenster ab. Vielleicht waren die Umstände heute nicht ganz ideal für eine Taschendiebin, aber sie brauchte dringend ihren Schuss Adrenalin, alleine um die brodelnde Unzufriedenheit und ihren Frust über ihre aussichtslose Lage etwas zu betäuben. Außerdem war es immer eine gute Idee in Übung zu bleiben … und es sprach erst recht nichts gegen ein paar edle Steine und Metalle und ein wenig vergossenes Blut. Diese Aussicht vermochte es tatsächlich, ihre finstere Miene etwas aufzuhellen.
    Ein Griff unter die schmale Pritsche, die sie ihr Bett nannte, beförderte einen vollgestopften Jutesack ans Licht. Sie zog lange schwarze Beinkleider und ein schwarzes Oberteil aus dem Sack, welche aus einem weichen und doch dichtem Stoff gefertigt waren. Beide Kleidungsstücke waren zwar enganliegend, boten aber dennoch viel Bewegungsfreiheit und vor allem: sie raschelten nicht. Im schummerigen Licht ihres Zimmers leuchtete ihre graue Haut hell und die Streifen schwarzer und silberner Schuppen auf ihren Unterarmen schimmerten so dunkel wie die tiefste Sternennacht. Auch nur einen Flecken davon unbedeckt zu lassen, wäre zu auffällig gewesen und so zog sie gleichmütig die langen Ärmel über ihre Yassalarschuppen.
    Zuletzt legte Uera noch eine verzierte, lederne Weste an, die einen hohen Kragen besaß und sich vorne mit einigen Schnallen verschloss, welche Uera streng an ihrem schlanken Leib festzurrte. Das gute Stück aus edlem, geschwärztem Leder war zwar nicht sehr dick, dafür aber leicht und schütze zumindest vor Leuten, die nicht richtig zustechen konnten. Sie war ein wenig stolz auf diese leichte Rüstung, die sie vor einigen Jahren an der Alizâr'schen Grenze zu Sindor einer Söldnerin gestohlen hatte, die nicht klug genug war, auf ihr Eigentum aufzupassen. Sie hatte nachträglich eine Kapuze annähen lassen, die sie sich bei Bedarf tief ins Gesicht ziehen konnte. Am Gürtel, den sie schließlich noch anlegte, fanden sich lediglich eine Tasche und die mit ihrem frisch geschärften Dolch gefüllte Lederscheide. Mehr brauchte sie heute nicht.


    Noch eine letzte Sache. Sie trat an die kalte Feuerstelle heran und zog ein Stück Kohle aus der Asche. Schnell waren ihre gräulich-weißen Züge, ihre Lippen und jedes bisschen sichtbare Haut unter einer Schicht Kohlestaub verborgen. Ihre stahlgrauen Augen strahlten und ihr silbriges, noch feuchtes Haar, in einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, kontrastierte herrlich mit der nun reinschwarzen Haut. Prüfend betrachtete sie sich in einem zerborstenen Handspiegel und grinste ihrem Spiegelbild entgegen. Perfekt.
    Sie spähte erneut aus dem Fenster, zog die langen Handschuhe über, die genügend Platz für die angedeuteten Schwimmhäute zwischen ihren Fingern ließen, schlüpfte in weiche Stiefel, zog sich die Kapuze über das Haar und den schwarzen Schal über Mund und Nase. Ein letzter Blick versicherte ihr, dass niemand - außer vielleicht der hässliche Kater - zusah, als sie das Gebäude verließ und mit ein paar geschmeidigen Bewegungen über eine Mauer und ein flaches Dach in die hereinberechende Dunkelheit entschwunden war.

    Nach einiger Zeit hatte sich Uera schließlich am verabredeten Treffpunkt eingefunden, die Kiste abgestellt, gebührenden Abstand zu ihr eingenommen und wartete nun auf jemanden, der die zweifelhafte Ware entgegennahm. Der Tag neigte sich dem Ende zu, es musste schon weit nach der 6. oder 7. Stunde sein, denn die Sonne war längst hinter den Häusern verschwunden und das Hafenviertel war in Schatten getaucht, auch wenn es noch zu hell für die Muschellichter war.
    Uera konnte ihre Ungeduld nur schwer bändigen und begann darüber nachzudenken, die Fische selbst auszunehmen und sich mit dem Inhalt davonzumachen. Doch sie blieb, denn alles andere hätte nur ungewollte Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Ihr Auftraggeber war schließlich der Schwager jener Frau, die Ueras Zimmer vermietete und er wusste sehr wohl, wer sie war. Und sie kannte sich mit dem Vertrieb von Drogen nicht aus. Sie kannte weitaus bessere Dinge um ihren Puls zu beschleunigen.


    Tätigkeiten wie diese raubten Uera den letzten Nerv. Sie hasste jede Minute davon, aber sie wusste auch keinen Ausweg. Sie war auf das Geld angewiesen um ihre monatliche Miete zu zahlen, Nahrung zu kaufen und ihre etwas in die Jahre gekommene Ausrüstung auszubessern. Diebstähle brachten zwar auch ein gewisses Einkommen, doch sie wusste auch, dass sie es damit nicht übertreiben durfte. Sie wusste, dass sie bereits in den Fokus der Stadtwache geraten war – sie hatte schließlich einen von ihnen sein Leben ausröchelnd auf der Straße zurückgelassen – und sie wusste, dass ein Preisgeld auf sie ausgesetzt war. Sie fürchtete niemanden, doch sie wusste auch, wann besser Vorsicht geboten war. Schon fast eine Woche war seit dem letzten Diebeszug vergangen und Uera begann unruhig zu werden, denn sie vermisste den jagenden Herzschlag, das Lauern, die Hatz. Es war ihre Droge.


    Endlich war sie des Wartens überdrüssig geworden, klemmte sich die Kiste unter den Arm und klopfte, nein, schlug mit der Faust auf das Hallentor ein. Drei, vier, fünf Atemzüge vergingen, bevor sich das Tor einen Spalt öffnete und sie von einem gereizt wirkenden Augenpaar fixiert wurde.
    “Ich hätte da eine Lieferung ...”, verkündete sie mürrisch, klopfte mit einem Finger auf das Holz der Kiste und fächelte dem Mann ein wenig der guten Luft zu. “Und ich hätte gerne meine Entschädigung.”
    “Für die Bezahlung bin ich nicht zuständig.”, entgegnete der Mann hinter dem Tor forsch, kam hervor und machte Anstalten ihr die Kiste abzunehmen. Ein schneller Schritt zurück brachte Uera außer Reichweite.
    “Sondern?”, fragte sie zischend und fasste den Kerl fest ins Auge. Er musterte die junge Frau vom Stiefelabsatz bis zu den Haaren und wieder zurück. Sie meinte fast, dass sie das ausgetrocknete Rosinenhirn hinter seiner Stirn arbeiten hörte und wie es zum Schluss kam, dass sie keine ernstzunehmende Bedrohung war. Eine Fehleinschätzung, aber Uera war nicht auf Ärger mit ihm aus. Es lohnte nicht.
    “Da müsst Ihr zu Taitor selbst gehen.”, antwortete er und streckte fordernd die Hände nach der Kiste aus. Uera seufzte tief und übergab dem Kerl schließlich die Fischkiste, ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren. Sie machte auf dem Absatz kehrt, denn sie hatte es eilig nach hause zu kommen. Sie musste diesen abscheulich Fischgestank loswerden, sonst würde sie sich niemals wieder an jemanden unbemerkt anpirschen können. Und spätestens morgen würde sie sich ihr Geld bei diesem einäugigen, nach nassem Hund stinkenden Bastard von Taitor abholen, denn für den heutigen Abend hatte sie ganz andere Pläne.

    Der Kopf der weißen Yassalar pochte schmerzhaft angesichts der drückenden Wärme des Nachmittages. Uera fluchte ungehemmt, als ihr zum dritten Mal in Folge jemand so direkt in den Weg lief, dass sie fast ihre wertvolle Fracht hätte fallen lassen. Dreckiges, trockenhäutiges Pack, so ungelenkt, so ungeschickt, so … trocken! Manchmal fragte sie sich, ob das jahrhundertelange Leben an Land den Trockenvölkern das Hirn in der Schale getrocknet hatte.
    “Pass gefälligst auf wo du hintrittst, Spatzenhirn!!”, fauchte sie dem Mann hinterher, doch es kümmerte ihn nicht weiter. So war es eben, sie wurde übersehen und überhört. Niemand widmete der in staubige Straßenkleidung gekleideten jungen Frau Aufmerksamkeit, geschweige denn Respekt. Tagsüber. Innerlich musste sie beim Gedanken hämisch grinsen, was den brodelnden Zorn etwas zähmte, doch nach außen zeigte sich das nicht.
    Sie hatte – mal wieder – eine niedere, etwas zwielichtige Tätigkeit gefunden, die ihre Zeit vertrieb und ihr ein wenig Geld verschaffte. Wenn sie ihre Ware zustellen konnte und wenn ihr Auftraggeber das zahlen würde, was sie vereinbart hatten. Uera rümpfte die Nase ob des erbärmlichen Fischgestanks, der aus der hölzernen Kiste hervorquoll und beäugte im Gehen die im Takt ihrer Schritte wippenden Fischschwänze, die zwischen den Leisten der Kiste herausschauten. Sie erwog eine Entschädigung auf den vereinbarten Lohn aufzuschlagen.
    Fisch. Sie brachte eine Kiste voll Fisch vom Markt am neuen Hafen in ein Lager eines sehr dubiosen Menschen, der sie gut bezahlte. Es mochte gut sein, dass einige der Fische etwas schwerer waren als andere. Und wesentlich … älter. Natürlich hatte sich Uera nicht zurückhalten können, einen Blick in die Fischbäuche zu werfen und natürlich hatte sie darin etwas vorgefunden, das in einem normalen Fisch nichts zu suchen hatte. Aber für alle Außenstehenden transportierte sie natürlich Fisch, dem Verwesen nahe, der irgendwo in einem Lagerhaus zu Hundefutter verarbeitet werden würde.
    Ihr Weg hatte sie über den Markt am neuen Hafen geleitet, denn dort hatte sie die Kiste direkt an einem Stand in Empfang genommen und von dort aus musste sie den Platz überqueren, um in die entsprechende Gasse zu gelangen, die zum Lagerhaus führte. Sie kümmerte sich nicht um die vielen Menschen, die kopflos herumliefen, Stände abbauten und in lauthalses Geschwätz verfielen – sie hoffte nur, diesen Platz bald hinter sich zu lassen, denn die Möwen hatten sie und ihre Fracht bereits ins Auge gefasst.
    Als sie schließlich in eine Gasse einbog, die schon von weitem zwielichtig erschien, fühlte sie sich definitiv wohler. Die Möwen und das unerträgliche Gelärme blieben zurück, ihre Schritte klangen von den Hauswänden wider, es war schattig, kühl und es roch feucht. Vertraut.