Beiträge von Ta'shara

    Trotz geschlossener Augen spürte Ta’shara Brennans Tun. Als Diebin war sie geübt darin, auch das 'zu sehen', was das Auge nicht wahr nahm. Sie fühlte seinen Blick, spürte die Unruhe, die ihn umtrieb und blieb selbst still; überließ ihn sich selbst und seinen Gedanken. Erst als Brennan neben ihr zur Ruhe gekommen war, ließ auch sie den Tag hinter sich. Das Drittelleben des Nachtelfen ruhte, ebenso wie Brennans Teile, unter dem Kopfkissen. Sie hatte versprochen, darauf zu achten und eben dies würde sie tun. Der Gedanke begleitete sie in den Schlaf. Dass sie in der Nacht Brennans Nähe suchte, merkte sie nicht.


    Die Dämmerung hatte noch nicht einmal eingesetzt, als sie erwachte und sich in seinem Arm wiederfand. Einer der Vögel unten zwitscherte. Ungewöhnlich, denn eigentlich blieben sie ruhig, bis Brennan nach ihnen sah. Und nun brauchte sie einen Moment, bis sie wach genug war, sich Sicils zu erinnern, der ja des Nachts nicht schlief. Vielleicht beschäftigte er sich gerade mit den Tieren… instinktiv lauschte Ta'shara auf den Klang von Sicils Flöte, aber es war nur der Vogel zu hören. Hmm... möglich auch, dass die Vögel sich erst noch an die nächtliche Gesellschaft gewöhnen mussten, dachte sie träge und ihr fiel ein, dass andere womöglich auf ihre Gesellschaft warteten. Oder wohl weniger auf ihre Gesellschaft, als auf das, was sie ihnen zu bringen hatte...
    Ta’shara gähnte und betrachtete Brennan, überlegte, ob sie sich aus seinem Arm stehlen und aufstehen solle, um ihre eigene Arbeit zu erledigen. Aber sie war noch müde. So blieb sie liegen und nur Augenblicke später war sie wieder eingeschlafen.

    Die Woge war bekämpft. Erfolgreich zurück gedrängt dorthin, wo sie keinen Schaden anrichten konnte; wo sie Ta’shara nicht verleitete, seltsame Gedanken zu denken oder sonderliche Dinge zu spüren. Ihr Kopf ruhte noch immer an Brennans Brust. Sie spürte sein unruhig schlagendes Herz unter dem dünnen Stoff seines Hemdes; seine Hand, die über ihr Haar strich und sie hörte sein Seufzen. Ein Zugeständnis der Schwäche, die er in ihrer Gegenwart signalisierte, in der Gegenwart einer Valisar, die mit nichts als Unverständnis für solche Gefühle aufwarten konnte. Zumindest noch bis vor wenigen Tagen, als jedwedes Gefühl außer der tiefen Sehnsucht nach dem Vergangenen für sie nichts war als leeres Wort.
    Doch nicht allein das eigene Erleben der vergangenen Stunden war es, das eine Tür geöffnet und ihren Blick in Richtung Verstehen gelenkt hatte. Der Klang eines Wortes weckte einen Ruf aus ferner Vergangenheit. Tash! ...


    ... Das kleine Mädchen war neugierig der leisen, dunklen Stimme gefolgt. "Tash... Tash, komm her Süße. Komm zu mir..." Eine schöne, wohlklingende Stimme, voller Wärme und dem sanften Zischeln eines züngelnden Feuers... Das Kind rieb sich die Ärmchen. Ihr war immer kalt. Nicht so, wie bei ihrer Mutter, die keine Kälte spürte... Ta'shara war anders mit ihren dunklen Haaren, dem Hunger nach Wärme und der kindlichen Neugier, die ihr die Mutter in den ersten drei Lebensjahren noch nicht gänzlich aberzogen hatte. In diesem stillen, verlassenen Teil des Silberwaldes, der ihre Heimat geworden war, suchte sie ständig die wärmenden Strahlen der Sonne, die nur spärlich durch das dichte Geäst zu Boden fielen. Und ständig war sie auf der Suche nach dieser anderen Wärme, nach der sie sich sehnte und die sie gerne erfahren wollte. Aber ihre Mutter verstand nicht. Nichts als kalte Blicke, strenge Worte und der Kodex begleiteten sie durchs Leben. Und so blieb der kurze Blick auf den Ashaironi-Mann, den sie erhaschen konnte, ehe ihre Mutter sie zurückzitierte, die einzige Erinnerung an den Vater, von dem sie nie erfahren würde, dass er der ihre gewesen war.


    Die junge Halbvalisar schloss die Augen und das Bild aus der Vergangenheit schwand. Die kühle Stille eines unempfindlichen Herzens kehrte zurück, doch vermochte sie die Erinnerung nicht mehr gänzlich zu vertreiben. Und so hob sie ihre Hände und nahm Brennan in den Arm. Keine Geste diesmal, die ihrem erlernten Verhalten entsprang, sondern etwas, das aus tiefster Vergangenheit für einen kurzen Moment den Weg ans Licht gefunden hatte, ehe es an die vergessene Stelle in ihrem Herzen zurückkehrte und erneut in Schlummer fiel.


    Ta'shara löste die Umarmung. Sie blickte in Brennans dunkle Augen, dachte über seine Worte nach und nickte dann. "Gut. Das erscheint mir als ein gehbarer Weg." Die junge Frau hob ihre Lippen zu Brennans und küsste ihn. Nur eine sachte Berührung, spontan und unüberlegt. "Ich bin müde", meinte sie lächelnd, entkleidete sich und schlüpfte wenige Minuten später, die sie noch im Bad verbrachte, unter die Decke.

    "Fürwahr, dies wäre ein sehr außergewöhnliches Schmuckstück. Kostbar, überaus selten und von makelloser Schönheit." Die Valisar betrachtete den Stein mit eigentümlichem Blick. Wie sehr doch kontrastierten ihre kalten Augen mit dem warmen Blutstein. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen als sie Brennan ansah, ihre Stimme aber klang seltsam schwach; gerade so, als würde sie mit letzter Kraft von weit her ihr Ziel erreicht haben. "Brennan, so sehr ich dein Vertrauen zu schätzen weiß… jedes Leben ist kostbar. Und keines sollte nur so zur Darstellung getragen werden oder um anderen zu imponieren." Ta’shara schlug die Augen nieder und ihre Stirn sank gegen Brennans Brust. Eine tiefe Erschöpfung überkam sie und sie spürte, wie unvermittelt wieder diese Woge heran rauschte. Ein Schmerz, von dem sie nur ganz entfernt ahnte, woher er rührte...
    So viele schon hatten geglaubt, sich mit ihr als Eroberung schmücken zu wollen. Aber es war dir egal und das ist es auch jetzt!!!


    Doch war es das wirklich? War es ihr tatsächlich egal? Warum war sie dann bei keinem der anderen geblieben? Warum hatte sie das wimmernde Gewürm seinen Spaß mit ihr haben lassen und war wieder ihrer Wege gegangen, obwohl etliche sie danach geradezu um ihre 'Gesellschaft' angefleht haben?
    Sie wusste es nicht. Doch selbst ohne den Kodex wusste sie, dass sie den Blutrubin nicht als Schmuckstück tragen würde. Sie würde auch nicht zulassen, dass er zu einem solchen verarbeitet werden würde. Fest umschloss ihre Hand den Rubin. Fast vermeinte sie das warme Blut darin zu spüren.
    "Ich möchte nicht, dass daraus oder aus den anderen beiden Teilen ein Schmuckstück gefertigt wird, Brennan. Ich werde diesen einen Stein sicher verwahren. Das Wort will ich dir geben. Aber wenn du den Nachtelfen wirklich überzeugen willst, so legst du auch die beiden anderen Rubine sicher fort und gebrauchst allein dein eigenes Wort. Den Unterschied wird Sicil anfangs nicht bemerken, davon bin ich überzeugt. Wenn es ihm dann auffällt, wird er wissen, dass du ihn zu nichts bewegt hast, was er nicht selbst entschieden hat zu tun. Vielleicht versteht er dann…"

    Ta’shara war erst einmal still geblieben, nachdem Sicil geendet hatte. Doch schnell war sie bereit, die Diskussion weiterzuführen ohne zu merken, dass jedes weitere Wort zu nichts führen würde, außer erneuter Gegenrede und ausgerechnet sie, die sie doch jene war, die für gewöhnlich den kühlen Kopf behielt und stets erkannte, wann eine Diskussion fruchtlos verlief, hatte sich bereits weitere Worte zurechtgelegt. Warum bloß? Sie sah zu Brennan. Was in aller Götter Namen veranlasste sie nur, diesen Nachtelfen überzeugen zu wollen? Und von was? Er war ihr doch völlig egal!
    Aber Brennan nicht… wisperte eine winzige Stimme. Leise und viel zu schwach, um tatsächlich Beachtung zu finden. Doch. Auch Brennan. Sie war eine Valisar. Sie hegte keine Gefühle.
    Sicher, sie wusste gewisse Bemühungen zu schätzen und konnte sich entsprechend dankbar erweisen aber sie bewegte sich immer nur im Rahmen ihres Kodex‘. Und gerade im Moment tat sie genau das: Brennans bestimmte Worte, mit denen er die Unterhaltung für beendet erklärte, ließen die Valisar ihm ein anerkennendes Lächeln schenken und gleich darauf Sicil eine Gute Nacht wünschen. Tatsächlich war sie froh, sich hinlegen zu können. Sie war müde und das Gespräch mit Sicil hatte sie unerwartet mehr erschöpft, als sie vorab hätte ahnen können.


    Mit einem Lächeln blickte sie zu Brennan, als der Vorhang hinter ihnen jenen Raum schuf, der ihnen gehörte. "Brennan, ich …", begann sie, als der Mann ihre Hand nahm. Gleich darauf verstummte sie und blickte auf den Blutrubin, den sie nun hielt. Sie musste nicht fragen, denn sie wusste, was Brennan ihr in die Hand gelegt hatte.
    "Was soll ich damit Brennan?", fragte sie ihn, auch wenn eine Ahnung sie beschlich. "Er sagte es wären derer drei. Was soll ich mit einem Teil seines Lebens?"
    Sie wusste es wirklich nicht. Wollte Brennan ihr nur zeigen, zu welcher Macht Shirashai fähig war? Oder zeigte er ihr auf diese Weise, dass er ihr vertraute?

    Eigentlich verstand Ta'shara nicht wirklich. Nicht seine Annahme, sie hätte sich durch seine Worte angegriffen gefühlt und ihn darum bedroht; nicht die Erklärung seines Verhaltens ihr gegenüber und auch nicht die Geste der Entschuldigung, die sie geschehen ließ.
    Er hatte sie nicht beleidigt und sie hatte ihm nicht gedroht. Sie hatte nur gezeigt, wer sie wirklich war. Und trotz aller Worte fand sie noch immer keine Spur von Verständnis dafür, dass er sich selbst verletzt hatte. In ihren Augen hatte sich Sicil keineswegs der Göttin gestellt. Allenfalls hat er sich lächerlich gemacht. Oder glaubte er tatsächlich, Shirashai hätte nicht längst von Sicils Meinung von ihr Kenntnis? War er ernstlich der Ansicht, erst durch sein 'Blutopfer' seine Abscheu demonstrieren zu müssen?


    Verständnislos schüttelte sie den Kopf. "Ihr seid ein intelligentes Wesen, Sicil! Als solches hat man es nicht nötig, sich auf die Rolle des Opfers zu reduzieren." Nein, gewiss nicht... stattdessen führte man seine Intelligenz als scharfe Klinge gegen den Widersacher. Dabei war es für Ta'shara nicht etwa die Göttin Shirashai, die Schuld trug am Schicksal des Nachtelfen. Ein Gott war nur solange ein Gott, wie es Wesen gab, die sich ihm gläubig unterwarfen, sei es nun in der Verehrung oder der Furcht. Für sie war an erster Stelle Sicil selbst verantwortlich für sein Los. Seine Bestimmung war es, zu sein, wer er war. Zu verstehen, wer er war. Doch anstatt seine Stärken zu erkennen, wetterte er lieber gegen die Götter und jene, die ihnen folgten.
    Aber natürlich war es einfacher, eine Gottheit für alles Unheil verantwortlich zu machen, das einem widerfuhr. Das ersparte einem die Mühe, selbst aktiv zu werden. Ta'shara widmete nun ebenfalls ihre Aufmerksamkeit den Buchrücken in Brennans Regal. Sie war nicht auf der Suche nach einem passenden Titel, wohl aber nach einigen stillen Momenten, während derer sie zu der Einsicht gelangte, dass sie Sicils Darstellung nicht weiter in Frage stellen würde. Er schien zufrieden mit dem Ergebnis der Unterhaltung und ihre eigene Aufmerksamkeit galt viel mehr Brennan, beziehungsweise Sicils Hinweis auf die Blutrubine in Brennans Hand.


    Durchdringend sah sie den Vogelhändler an. Was wusste sie von ihm?
    Er hatte sich ihrer nicht bedient, wie schon so viele zuvor, obwohl sie ihm entgegen gekommen war. Und sie merkte, dass er mit sich kämpfte. Er akzeptierte ihren Nichtglauben. Würde er sie zu irgendetwas zwingen? Nein. Würde er sie lieben und von dem Fluch befreien können? Nein. Nicht, solange sein Herz ausschließlich der Göttin zugeneigt war. Würde er eine Macht, wenn sie ihm zuteil würde, nutzen um zu helfen oder um zu schaden?? ... Nachdem, was sie wusste, würde er im Glauben handeln, zu helfen. Die Frage blieb bestehen, WEM es letztlich dienlich sein würde...
    "Ich denke, die Ursache Eurer Verbitterung ist nicht bei Brennan zu finden. Die Quelle Eures Zornes sprudelt tiefer. Sagt mir... was würdet Ihr tun, wenn es keine Blutrubine gäbe?"
    Die ganze Zeit behielt sie sowohl Brennan als auch Sicil im Auge. Keine Regung sollte ihr entgehen.

    "So dies denn Eure Ansicht ist, werter Sicil, zeigt sie mir nur, dass Ihr derjenige seid, der nichts versteht. Euch muss nichts leid tun."
    Ta'shara stellte ihr Glas auf dem Tisch ab. "Doch bedenkt eines: ich mag der Gefühle selbst nicht fähig sein..." Kurz überlegte sie und blickte dann Sicil erneut in die Augen. "... nicht so, wie ihr sie kennt... doch wer seid IHR mir sagen zu wollen, was ich verstehe und was nicht oder noch besser: was ich jemals zu fühlen im Stande sein werde und was nicht? Glaubt Ihr etwa mich zu kennen? Vermochtet Ihr in den wenigen Minuten, die wir uns unterhielten, einen Blick an jenen Ort in mir zu werfen, an dem Euresgleichen das Herz trägt, dass Ihr Euch erlaubt, was Ihr anderen versagt? Nämlich Euch ein Urteil zu bilden über mich? Sagt mir, was habe ich in Euren Augen verbrochen, dass Ihr urteilt?" Ta'shara lachte leise auf. "Erneut eine Aussage, die Ihr mir gegenüber ungerechtfertigt trefft und es den Menschen damit gleichtut. Etwas, von dem Ihr wünscht, dass es Euch nicht widerfährt!"
    Bewusst legte Ta'shara eine gewisse Schärfe in ihre Worte, auch wenn sie keine Entrüstung verspürte. Noch nicht.


    "Möglicherweise ist das oftmals negative Auftreten Euch gegenüber gar nicht so sehr in der Tatsache begründet, dass Ihr dem Volke der Nachtelfen angehört, sondern vielmehr darin, dass Ihr genau dieses Verhalten von anderen erwartet, wenn nicht gar provoziert."
    Mit diesen Worten ließ Ta'shara ihre Maske fallen und blickte mit eisblauen Augen zu Sicil, musterte ihn unverhohlen. Keine einzige Regung verriet ihre Gedanken, während ihre Blicke wie kaltes Eislicht durch den Raum schossen und den Grund von Sicils Seele zu sezieren schienen. Ihre Stimme klirrte und als eisiger Hauch verließen ihre Worte die schön geschwungenen Lippen.
    "Ich bin ein gefühlloses Monster Sicil. Ich fühle kein Mitleid und kein Erbarmen. Nicht mit Euch und auch mit sonst niemandem! Ihr seid ein jämmerliches Wesen, das lieber sich selbst verletzt, anstatt den Schneid aufzubringen, gegen jene vorzugehen, die es verantwortlich macht für sein Schicksal. Ich würde Euch auf der Stelle töten ohne mit der Wimper zu zucken, selbst wenn es mein Leben kosten sollte, würde ich es nur als richtig erachten und..." Ta'shara fixierte weiterhin den Nachtelfen mit den Augen einer Schlange, die eine Maus als Mahlzeit auserkoren hatte. Doch zwang sie sich, die Kälte zurück zu nehmen und Sicil ein Lächeln zukommen zu lassen, um mit sanfterer Stimme fortzufahren. "... und hätte ich nicht längst die Notwendigkeit erkannt, mein Verhalten anzupassen und nach bestimmten Mustern auszurichten. Gut, ich imitiere dieses Verhalten. Aber es hilft mir, den Menschen mit Achtung und Höflichkeit entgegenzutreten, anstatt ihnen beständig vor die Füße zu spucken und sie zu beleidigen. Damit ernte ich in den meisten Fällen Ignoranz, oftmals Neugier, manchmal Höflichkeit, aber seltenst Feindseligkeit." Ihr Blick verriet, dass sie von Sicil ebenfalls mehr Voraussicht erwartet hatte. Aber mitunter verkalkulierte sich sogar eine Valisar. Insbesondere, wenn sie nur zur Hälfte diesem Volk angehörte und noch dazu jung war. "Wenn Ihr mich einen Augenblick entschuldigen wollt?"


    Sie nickte Brennan zu und ging in die Küche. Ta'shara brauchte einen Moment für sich alleine. Das Gespräch mit Sicil hinterließ Spuren. Sie hatte sich eben in dem kurzen Moment, in dem sie nicht angestrengt ihr Gesicht wahren und auf ihr Verhalten bedacht sein musste, gut gefühlt. Befreit. Stark. Und sie überlegte, warum sie sich beständig diesem Kodex unterwarf, sich anpasste, sich einschränkte. Warum machte sie sich etwas vor? Warum verbat sie sich, die zu sein, die sie war? Weil du das Monster fürchtest, das in dir ruht!
    Ta%u2019shara lächelte, als sie zurück zu den Männern ging. Und ihr Lächeln galt beiden gleichermaßen. Sicil, weil er ihr gezeigt hatte, was sie nicht sein wollte. Und Brennan, weil er ihr gezeigt hatte, was sie vielleicht sein konnte.

    "Ihr seid zu schnell bei der Zunge, Sicil", meinte Ta'shara während sie dem Nachtelfen in einigem Abstand die Stufen hinauf folgte. "...und noch schneller bei einem Urteil, das ihr selbst für Euch nicht wünscht."
    Ein Geräusch aus dem Verkaufsraum ließ sie aufhorchen und auf halbem Weg kehrt machen. Sorgfältig sah sie sich um und ging gleich darauf zu einem der Käfige. Das Tuch war heruntergerutscht. Sie deckte den Käfig erneut ab, löschte die Lichter und stand wenige Momente später am Kopf der Treppe. Unweigerlich bekam sie einen Teil des Gespräches zwischen dem Vogelhändler und dem Nachtelfen mit.


    "Verblendet scheint ihr beide."
    Ta'shara betrat den Wohnraum. Sie blickte erst Brennan, dann Sicil entschuldigend an. "Verzeiht bitte. Aber ich kam nicht umhin einige eurer Worte mitzuhören." Die junge Valisar griff nach ihrem Glas, füllte es zur Hälfte mit Wein und betrachtete die Flüssigkeit darin, die ölig an der Glaswand herunter lief. "Ein ausgesprochen guter Tropfen", kommentierte sie und lächelte Sicil an.
    "Sicil i Undómê. Ihr verurteilt ein zu schnelles Bild, das man sich angeblich von Euch macht und doch zeichnet Ihr selbst ebenso rasch das Portrait eines anderen. Warum?
    Eben noch unterstelltet Ihr mir, Euch zu unterschätzen und zu bevormunden, Euch gar das Recht nicht zugestehen zu wollen, ein vollwertiges, gleichwertiges Wesen unter allen zu sein, auch wenn ihr noch so anders seid."
    Noch immer lächelte Ta'shara, auch wenn das Thema sie ungewöhnlich berührte, war sie doch selbst fern von dem, was die meisten als normal bezeichnen würden... sie schüttelte irritiert den Kopf. Es sollte ihr nichts ausmachen, aber sie fühlte sich... unverstanden? verletzt? Unruhig wanderte ihr Blick zu Brennan, ehe sie sich straffte und wieder zu der Maske ihres Kodex' zurückfand. "Ich erwähnte bereits, dass ich eine Valisar bin. Es liegt nicht in meiner Natur, über andere Wesen zu richten, noch ihnen den Verstand abzusprechen, der ihnen zu eigen ist oder anderswie über sie zu urteilen. Ich vermag dies nicht einmal. Ich sehe. Ich höre. Ich analysiere. Logik ist mein Schlüssel zum Verständnis eurer Welt. Brennan..." Ihr Blick ruhte auf dem Vogelhändler während ein unlängst geführtes Gespräch ihr durch den Sinn ging. "... er scheint in seiner Liebe für die Göttin ebenso verblendet, wie Ihr es in Eurem Hass zu sein scheint. Ich weiß nicht warum das so ist, aber es wird seinen Grund haben. Ebenso wie ihr Euren Grund habt, Shirashai zu hassen. Nur... kann man sich so wirklich gänzlich entfalten und sich selbst gerecht werden? Oder untergräbt man nicht viel mehr sein wahres Potential? Ich denke, durch blinde Liebe und blinden Hass begibt man sich freiwillig in eine Abhängigkeit, die keinem denkenden Wesen auferlegt sein sollte."


    Gleichmütig lächelnd führte Ta'shara ihr Glas an die Lippen, kostete von dem Wein und hielt ihn gegen das Licht der Muschelleuchten. "Ein wirklich edler Tropfen", wiederholte sie und leerte das Glas in einem schnellen Zug. "Schade wohl, dass ich den Genuss nicht empfinden kann."

    Gleichmütig folgte Ta'shara Sicils Ausführungen. Sie blieb unberührt von seinem Zorn, wie schon zuvor sein Trotz und sein Sarkasmus von ihr abgeprallt waren. Waren nicht letztlich alle Wesen nur Spielbälle der Götter und versuchten auf ihre Weise durchs Leben zu kommen? Die Valisar, indem sie sich an den Kodex hielten... Menschen, die stets in dem Glauben einer Gottheit folgten, dass sie gut und weise sei... andere, die sich gegen Gottheiten erhoben, weil sie eben vom Gegenteil überzeugt waren.


    "Ich dachte an eine Chance für Euch, Sicil. Eine Chance Euch zu sammeln, zu Euch zu finden und Eure Energien in Bahnen zu lenken, in denen sie wirksamer sein können, als in einer hilflos anmutenden Attacke gegen Euch selbst."
    Ta'shara war noch jung. Gerade mal etwas älter als die Dauer eines Menschenlebens, wenn dieser denn alt würde. Aus ihr aber sprachen die Worte ihrer Mutter; die 'Weisheit' des Kodex. "In den gut drei Menschenleben, die ihr bereits unter der Kuppel weilt, habt Ihr eines offenbar noch nicht verstanden: Gewalt, egal wie geartet, führt immer zu Gegengewalt. Wer nicht verzeihen kann, gerät unweigerlich in eine Spirale der Gewalt, denn dieses Unvermögen gebiert Hass und Rachegefühle.
    Ein Geist, der von solchem heimgesucht ist, wird nie zu seiner wahren Größe finden. Er wird stets nur blindlings um sich schlagen und alle verteufeln, die sich ihm in den Weg stellen. Selbst jene, die es in guter Absicht tun."


    Ta'shara erhob sich und wieder ruhte ihr Blick auf dem Dunkelgeschöpf. Wäre sie zu Gefühlen fähig, sie würde wohl den Wunsch verspüren, ihn zu trösten, denn trotz seines Zornes schien er doch mehr, wie ein unglückliches Kind. So aber überließ sie ihn seinen Gedanken und folgte den eigenen. Sicil war ein wirklich interessantes Wesen.
    Hielt sich der Nachtelf schon für zu alt, um zu lernen? Für zu erhaben, um manche Weisheit auch in den Worten eines Kindes zu sehen? Für zu gefestigt, um die eigenen Ansichten aufs Neue zu prüfen?
    Zu gereift, um sich selbst und das eigene Verhalten in Frage zu stellen? Was unterschied ihn dann von den Göttern, die sich über allem stehen sahen?
    Die junge Frau dachte an den Maskenball. Ihre Taschenspielertricks, die sie aufs unermüdliche trainierte. Sie dachte an den Magier, dessen Feuerball ungelenk den Rasen versengt hatte.


    "Tricks, die man beherrscht, gestalten das Leben mitunter einfacher", meinte sie an Sicil gewandt.

    Sie setzte sich und hörte zu. Ihr Blick fiel auf Sicils Verband.
    Der Nachtelf hatte sich nur selbst verletzt. Eine Geste, die Ta'shara nicht nachvollziehen konnte. Nichts desto Trotz eine Geste, die ihr Bild von dem Nachtelfen in eine positive Richtung rückte.


    "Warum hofft Ihr das? Warum hofft Ihr, in Brennans Wesen etwas zu finden, das Ihr respektieren könnt? Warum hofft Ihr nicht, in Shirashai etwas zu finden, das Ihr respektieren könnt? Oder etwas, dass Euch Ihr Handeln verständlich macht?" Ta'shara überlegte. Das Gespräch brachte sie nahe an den eigenen Fluch.
    "Seht, ich bin eine Valisar. Wie Ihr, geboren aus der Missgunst eines Göttlichen. Ihr wie ich wisst, was ein Fluch bewirken kann. Wolltet Ihr tatsächlich ebenso leichtfertig einen solchen aussprechen?"
    Ta'shara fiel der Besuch bei der Wahrsagerin ein; deren Worte. Was hatte sie wirklich gesehen?


    "Vielleicht ist Brennan Targo keine Strafe, sondern eine Chance?"

    Ta'shara stand ruhig da und betrachtete Sicil. Die Gelegenheit sich näher mit einem seiner Art zu unterhalten, hat sich ihr bisher noch nie geboten. Natürlich wusste sie um diese Wesen, geschaffen von Shirashai aus ähnlichen Gründen, denen auch die Valisar ihre Existenz zu verdanken hatten. Eifersucht, Rache... Narion, Shirashai. Viele Unterschiede gab es offenbar nicht. Doch waren der Halbvalisar nur die Erzählungen bekannt, die über Nachtelfen existierten. Nicht eben Schmeichelhaftes. Von vielen anderen Völkern wurden sie als trockene Yassalar gesehen. In Ta'shara aber war in den vergangen Tagen die Überzeugung gereift, dass eigene Erfahrungen mindestens ebenso in Betracht zu ziehen waren, wie überliefertes Wissen. Papier war geduldig, manche Zunge gefärbt und viele Wesen in ihrer Art naiv und leichtgläubig. Der Fluch der Gefühllosigkeit aber, mit der Narion Ta'sharas Volk belegt hat, ließ die junge Frau unvoreingenommen die Dinge betrachten.


    "Wenn Ihr verzeiht, Sicil, nicht die ganze Nacht. Ich habe einiges vor am morgigen Tag. Aber ein wenig Zeit können wir dennoch gemeinsam verbringen, ehe ich mich schlafen lege."
    Ta'sharas Blick blieb an Sicil haften. "Falls es Euch beruhigt: Ich hege nicht den Wunsch, Euch des Nachts mit einem Schwert zu attackieren und ich denke auch nicht, dass Brennan solch absurden Gedanken verfolgt. Hingegen erzählte er mir, Ihr wäret mit einem Dolch auf eine Frau losgegangen in der Absicht, sie zu verletzen. Entspricht das der Wahrheit?"

    Viel konnte Ta'shara mit Sicils Worten nicht anfangen.
    Der Nachtelf verhielt sich kompliziert und sprach in Rätseln. Seine Mimik passte nicht zu seinem Tonfall und sein Tonfall färbte seine Worte derart, dass die Valisar Mühe hatte, sie richtig zu interpretieren. Soll heißen, dass sich ihr nun tatsächlich eine ganze Reihe Fragen aufdrängte, die sie zuvor nicht gehabt hatte. Ein wenig hinderlich war dabei allerdings, dass sich der Elf offenbar selbst nicht sicher war, ob er nun reden wollte oder nicht.


    "Das freut mich, dass wir uns auch morgen früh werden unterhalten können. Aber erklärt mir bitte, was Ihr meint, wenn Ihr sagt, es würde Euch freuen, mich zu unterhalten, Euch aber nicht ganz danach zu Mute ist. Wünscht Ihr meine Gesellschaft oder wünscht Ihr, alleine zu sein? Das eine schließt das andere aus, oder nicht?"

    Einen Moment lang musterte Ta'shara Sicil.
    "Die Vögel waren nicht unruhig." Ta'shara lächelte den Nachtelfen an. "Aber Euer Spiel störte mich nicht, oder habe ich dergleichen gesagt? Es passt hierher. Auch wenn die Zeit ungewöhnlich ist."
    Sie beobachtete Sicil, wie er sich erhob, an ihr vorbeiging und wieder innehielt. Ein stolzes Wesen, das sie beherbergten. Sie dachte über seine Worte nach. Sie dachte über Brennans Worte nach.


    "Mich schickt niemand, Dinge zu tun. Brennan hat mich gebeten, mit Euch zu sprechen und ich fand den Augenblick für angebracht, uns anständig bekannt zu machen, da wir unter einem Dach wohnen. Ihr seid ein Nachtelf. Euer Wachrhythmus ist ein anderer, als der meine. Vielleicht werdet ihr bereits ruhen, wenn ich morgen aufwache. Das wäre... eine vertane Gelegenheit. Es wäre.." Wieder überlegte sie. ".. schade."
    Tatsächlich empfand sie bei dem Gedanken ähnliches. Sie konnte es nicht beschreiben, aber es kam einer Art Bedauern gleich. Sicil hat das Schicksal ebenso wie sie in Brennans Haus geführt. Sie wäre keine Valisar, wenn sie nicht die Logik darin zu erkennen suchte und das, was sich daraus für sie ergeben würde.


    "Was das Essen angeht, das ich Euch hingestellt habe..." Ta'shara lächelte, doch Ernst lag in ihrer Stimme. "Etwas außerhalb der Stadt in einer Hütte haust eine Familie, die sich über etwas Brot freuen würde. Sie durchstreifen des Nachts die Straßen auf der Suche nach Essbarem. Legt die Sachen auf den Sims vor Eurem Fenster, wenn Ihr Euch sicher seid, dass Ihr nichts davon mögt."
    Im Grunde war es Ta'shara egal, was mit diesen Leuten war. Sie kannte so etwas wie Mitleid nicht. Und doch war auch dies ein Punkt, den ihr Kodex ohne Zweifel klärte: Alles war einem bestimmten Zweck dienlich. Nahrung war dazu da, zu sättigen. Gleich ob es nun ein Nachtelf war, eine Valisar, ein Diener Shirashais oder irgendein dahergelaufener Niemand. Etwas Essbares verkommen zu lassen oder gar fortzuwerfen, machte keinen Sinn.

    "Nein. Ich war noch wach", antwortete Ta'shara und wandte sich an Sicil. "Wie Ihr wünscht, Sicil i Undómê. Und verzeiht die Unhöflichkeit, Euch nicht meinen Namen genannt zu haben. Ta'shara. Ta'shara Yerir."
    Die junge Halb-Valisar nickte in Richtung des Fensters. "So wünsche ich Euch eine Gute Nacht. Ich werde Euch gleich noch etwas zu Essen und zu Trinken bringen, falls Ihr dennoch Hunger und Durst verspüren solltet in den nächsten Stunden. Die Nacht - oder Euer Tag dauert noch an." Es stand für Ta'shara außer Frage, dass jemand nichts würde essen wollen, wenn er Hunger hätte. Dass jemand aus reinem Trotz oder zu anderen Demonstrationszwecken Nahrung verweigern könnte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.


    Sie drehte sich um und sah Brennan an. Unwillkürlich lächelte sie, als sie seine Hand spürte, mit der er sie sanft die Treppe wieder hinauf führte. Sie war interessiert zu hören, was Brennan über Sicil i Undómê zu berichten wusste. So saß sie wenig später mit dem Glas Wein in der Hand in dem Sessel und verfolgte die Geschichte des Nachtelfen.
    "So lastet auch auf ihm ein Fluch, wie auf mir."
    Ta'shara sah Brennan an. Lange ruhte ihr Blick auf ihm, während sie versuchte, das Gesagte mit ihrem eigenen Wissen zu verarbeiten. "Ich kann seine Wut verstehen. Ich empfinde nichts. Meistens nichts. Aber ganz tief in mir, da lodert manchmal etwas auf. Es ist anders, als das, was gestern Nacht war... Erinnerst du dich an die Valisar von dem Maskenball? Die Erlöste? Als Valisar spürt man das und in solch einem Moment bricht diese fürchterliche Sehnsucht schlimmer hervor als für gewöhnlich. Eine Sehnsucht nach etwas, das ich nicht einmal kenne. Es gibt Valisar, die die Verwandlung selbst erlebt haben. Aber ich bin als solche geboren! Das ist der Fluch und er lebt weiter in den Nachkommen. Die immer dauernde Sehnsucht nach dem Verlorenen. Und doch..."
    Ihr Kodex. War er vielleicht doch nicht so falsch? Er lehrte sie, sich zu mäßigen. Er lehrte sie, dass Gewalt kein Weg ist. Er lehrte sie, diese wütende Sehnsucht zu kontrollieren, um eben nicht zu einem gefühllosen Monster zu mutieren. Was war nun schlechter? Sie, eine Valisar, die zu keinem Gefühl fähig war oder ein Wesen voll der Gefühle, das in seiner Unberechenbarkeit sogar einen Mord begehen würde?? Oder was war besser?
    "...und doch ist Rache zu nehmen an einem Avatar wider jede Logik", sagte sie. "Natürlich werde ich mich mit ihm unterhalten." Und noch während sie das sagte, spürte sie, dass irgendetwas in ihr auf Brennans Berührung und seinen Kuss antworten wollte. So wie sie es gewohnt war und doch ganz anders. Aber dauerte sein Kuss nur kurz und der Moment verging.


    Ta'shara erhob sich. "Ich werde jetzt zu ihm gehen. Es ist spät und ich bin noch wach. Morgen wird er den Tag im Schlaf verbringen und wer weiß, wann sich das nächste Mal Gelegenheit bietet. Außerdem sollte er die Möglichkeit haben, etwas zu Essen und zu Trinken, wenn es ihn danach verlangt."
    Auf dem Tablett, dass Ta'shara wenige Minuten später in der Kammer des Nachtelfen abstellte, befanden sich einige Schnitten Brot, ein Krug Wasser, eine Flasche Wein, etwas Wurst und Käse, ein wenig Obst. Sicil selbst war noch bei den Vögeln und spielte. Sie ging zu ihm und wartete bis der Nachtelf eine kleine Pause machte.
    "Ihr beherrscht dieses Instrument ganz hervorragend. Ein sehr perfektes Spiel." Ta'shara suchte nach einem Wort, das ihr Aussage weniger unberührt anmuten ließ. "Stimmig", meinte sie dann.
    "Ich habe Euch Speise und Trank in Eure Kammer gestellt."

    Der restliche Tag war nach dem Besuch der Wahrsagerin ereignislos verlaufen. Den Nachmittag hatten sie in der Stadt verbracht und waren dann in die die Vogelhandlung zurückgekehrt, hatten die Tiere versorgt. Ta'shara hatte nachgedacht. Am frühen Abend hatte Brennan das Haus noch mal verlassen. Nun war er zurück gekehrt. Die Hab-Valisar lauschte auf seine Schritte und verharrte einen Moment. Er war nicht alleine. Ta'shara straffte sich und streifte den Rock wieder über, den sie gerade erst ausgezogen hatte.
    Nicht die Neugierde trieb sie an, wohl aber die Höflichkeit, die es gebot, auch einen späten Gast gebührend zu empfangen. So stand sie wenige Augenblicke später bei der Treppe und hörte Brennan an der Tür zur der kleinen Kammer, die auch sie gestern als Unterkunft hätte wählen können. Nun schien sie an ihrer Statt einen anderen Bewohner zu beherbergen.


    "Ein Nachtmahl?" fragte die junge Frau, während sie die Stufen hinunter stieg. "Guten Abend, Brennan", grüßte sie dann und etwas lauter zu dem Gast in der Kammer: "Auch Euch einen Guten Abend..."
    ' Wer ist das? ' formte sie lautlos mit den Lippen und sah Brennan fragend an.
    "... und willkommen, Sicil i Undómê", fuhr sie fort, nachdem Brennan ihr den Namen des späten Gastes genannt hat.

    "Du willst mich beschützen. Das ist nobel. Aber vor was? Ich kenne keine Furcht. Und ich habe keine einzige Klinge gehört, geschweige denn einen Feind im Zelt gesehen oder gar ein… Schlachtfeld!“ Ta’shara dachte nach. Und schüttelte den Kopf. Nein. Das verstand sie nicht. Dann schon eher Brennans Wunsch nach der Nähe einer Frau. Dass er aber ihre Nähe mit Wärme assoziierte, verstand sie wiederum überhaupt nicht. Sie war schön. Natürlich. Sie duftete angenehm. Dafür sorgte sie schließlich jeden Morgen. Aber das ausgerechnet sie Wärme ausstrahlen sollte, wagte sie doch sehr zu bezweifeln. Sie war eine Valisar. Kälter ging es eigentlich nicht mehr. Aber noch dazu war sie eine Ashaironi. Eine Schlange. Kein Warmblüter also… Wieder schüttelte die junge Frau den Kopf. Die Überlegungen der Menschen waren manchmal seltsamer Natur.


    Sie beschloss, dass die Erklärung der Höflichkeit noch am ehesten Sinn machte. Dem konnte sie folgen. Es war, ähnlich wie in ihrem Kodex beschrieben, ein Verhaltensmuster, das ihr logisch erschien. Sie hielt Brennan ihren Arm hin und blickte ihn an. Sie war verwirrt. Denn ganz entgegen aller Logik wollte sie seine Berührung spüren. Jede andere Art von Berührung aber wäre in der Öffentlichkeit unschicklich. Sagte ihr Kodex.
    Kurz schlich sich der Gedanke ein, dass all die Erklärungsversuche der Menschen am Ende auch nichts weiter waren, als ein gut durchdachtes Tarnmanöver...


    "Ich weiß nicht, ob diese Geste wirklich so dumm ist...", meinte sie also und lächelte. "Aber ich bin so wie du zur Höflichkeit erzogen. Und so sehe ich keinen Grund, deine 'Führung' abzulehnen."

    "Eure Worte regen mich zum nachdenken, Silene Sana'Santaly.." Ta'sharas Blick ruhte kurz auf Brennan, ehe sie sich erneut der Seherin zuwandte. "Nochmals Dank dafür. Und ja. Wir werden uns gewiss wiedersehen. Bis dahin sichere Wege für Euch", verabschiedete sich nun auch Ta'shara.


    Ihr Blick fiel auf Brennans Arms. Sie atmete tief ein. Noch so eine Eigenart menschlichen Gehabes, dem sie zwar Folge zu leisten im Stande war, von dem sie aber beim besten Willen nicht wusste, welchem Zweck es diente. Sie stand gut und sicher auf ihren eigenen Beinen und kannte auch den Weg heraus aus dem Zelt. So groß war es schließlich nicht, dass man sich darin verirren konnte. Kaum fiel der Vorhang hinter ihnen, zog sie ihren Arm zurück und blieb stehen. "Warum tut ihr Menschenn das? Warum mögen Eure Frauen das Gefühl, weniger zu sein, als ein Mann?" Ihre Stimme klang völlig neutral. Sie bewertete das Verhalten anderer nicht. Aber das hier, das wollte sie nun erklärt haben. "Immer wenn ich das sehe, habe ich den Eindruck, dass sowohl Mann als auch Frau damit etwas demonstrieren wollen. Eine Art Rangfolge oder ähnliches. Ist das so?"


    Die Droschke, mit der sie hergekommen waren, stand noch immer an ihrem Platz. Gemächlich schlenderte Ta'shara hinüber. Sie hatte keine Eile.

    Erstaunlich. In der Tat überraschend. Ta'shara war sich nicht sicher, ob in ihren Augen nicht eben jene ... Faszination für den Moment zum Ausdruck kam. Noch weniger sicher war sie, was sie davon halten sollte, dass Silene der Einladung Brennans nachkam. Sie selbst war ein Einzelgänger. Durch und durch. Sich zu unterhalten, nun ja... sie hatte schließlich gelernt, sich anzupassen. Aber sie brauchte keine Gesellschaft. Und sie suchte auch nicht danach. Kurz wollten Widerworte Gehör finden, aber Ta'shara unterband das. Nein! Dass sie bei Brennan war und blieb hatte eine andere Bewandtnis. Doch würde sie nie und nimmer auf den Gedanken gekommen sein, einen Ihresgleichen einzuladen ... oder aber der Einladung eines Ihresgleichen zu folgen. Wozu??? In Gedanken konnte sie nur den Kopf schütteln, so weit war sie von dieser Idee entfernt… Das war einfach absurd. Umso eindringlicher betrachtete sie nun die Wahrsagerin. Aber nichts an ihrem perfekten Auftreten ließ erkennen, dass diese anderes tat, als sie selbst tun würde: angepasst auf eine Situation zu reagieren. Denn die Einladung hatte schließlich nicht Ta'shara ausgesprochen, sondern Brennan. Und so lächelte Ta'shara, analysierte weiter und fragte sich, ob Brennan das wirklich für sie tat… oder ob er nicht doch andere Ziele verfolgte.


    Sein Zögern eben... als hätte er Silene eine Frage stellen wollen... Hing es damit zusammen? Hoffte er möglicherweise in privater Atmosphäre unverfänglicher Plaudern zu können? Aber da wäre er nicht mit Silene alleine. Sie wäre dabei. Die junge Halbvalisar kam letztlich zu dem gleichen Schluss, wie Brennan. Es lohnte nicht, sich den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte viel erfahren. Sie hatte eine tiefe Erkenntnis gewonnen und nahm jede Menge zum Nachdenken mit. Ein Erfolg also. Ta'shara setzte sich zufrieden auf.
    "Werte Silene Sana'Santaly. Habt Dank für Eure weisen Worte. Im Moment eröffnen sich mir keine weiteren Fragen, außer der, nach der Begleichung meiner Schuld.“ Ta’shara überlegte, was sie der Seherin geben konnte. Auf den Gedanken, sie mit Münzen zu bezahlen kam sie nicht. Valisar brauchten in den seltensten Fällen Münzen. Vielleicht, wenn sie gerade am Anfang ihres Daseins standen. Nicht aber, wenn sie bereits ein ganzes Menschenleben oder gar mehr verbracht hatten.
    Ein schwacher Luftzug trieb den intensiven Duft von Räucherwerk zu ihr hin. Da wusste Ta’shara, was sie der Valisar für ihre Dienste geben konnte. Sie griff in ihre Tasche und förderte zwei gelblich-weiße, fingerkuppengroße Gebilde hervor. Auf den ersten Blick wirkten sie wie unbehandelte Edelsteine. Stumpf und unansehlich. Doch entströmte ihnen ein feiner Duft. Weihrauch. Äußerst schwer zu bekommen unter der Kuppel. Ta'shara war nicht bekannt, dass hier auch nur ein einziger Baum wüchse. Doch sie hatte ihre Quelle und trug immer etwas davon bei sich, weil sie es kaute. Es reinigte die Zähne und verhalf zu frischem Atem. "Bitte, nehmt dies als meinen Dank für eure Zeit."

    Eine Option. Ha!!
    Ta’shara schüttelte unwillig den Kopf. Natürlich hatte sie die! Sie hatte immer die Wahl, egal, vor welche Aufgabe das Leben sie auch gestellt hat. Egal, an welcher Kreuzung auch immer sie stand. Sie hatte stets die Wahl!
    Und stets hatte sie ihre Entscheidungen abgewogen, mit jenen Maßen, die der Kodex ihr vorgegeben hatte. Hatte sich für die erfolgversprechendste Richtung entschieden und war gut damit beraten gewesen, ihrem Verstand zu folgen.
    Dies hier jedoch ging weit über eine Option hinaus. Bedeutete wesentlich mehr, als eine simple Berechnung, wagte sie sich doch nicht nur auf unbekanntes, sondern vor allem auf nicht kalkulierbares Terrain.


    Wer war Brennan Targo? Niemand, den sie kannte. Niemand, dem man vertrauen würde. Und doch saß sie hier mit ihm, hatte sich ihm anvertraut. Niemals sonst jemandem, niemals zuvor. Warum? Die Antwort war denkbar einfach: er war zugegen, als sie dieses … etwas… spürte. Und er hat nicht einen Moment lang versucht, ihren Zustand der Schwäche für sich zu nutzen. Nicht für sich und nicht für seine Göttin, die letztlich auch die ihre war. "Es mag widersinnig klingen. Doch braucht er nicht zu schwören. Hat er doch längst bewiesen, dass er diese Stärke besitzt."
    Ta‘shara war nicht in Gefahr. Sie musste Brennan nicht fürchten. Viel mehr müsste er sich fürchten vor dem, was sie vielleicht werden würde. Ob er sich dessen bewusst war, als er sie jetzt berührte… ihre Hand nahm und seine Finger die ihren umspielten?
    Ta’shara lächelte und sah den Händler an. Was war das für ein Blick, mit dem er sie gerade betrachtete? Dieser Ausdruck in den Augen eines Mannes war ihr fremd. Der Versuch ihn zu deuten scheiterte, denn sie kannte nichts Vergleichbares. So neigte sie nur leicht den Kopf und nickte, als Brennan in Gegenwart Silenes seine Einladung vom Morgen, dass sie bei ihm bleiben konnte, wiederholte.


    Doch seine nächsten Worte überraschten sie. Was mochte den Mann dazu bewegen, die Wahrsagerin zu ihnen einzuladen? Die Antwort, nicht weniger überraschend, lieferte Brennan gleich mit.
    Seine Hoffnung, dass es ihr helfen könnte, nahm sich da noch verhältnismäßig harmlos aus. Schließlich war Brennan ein Mensch und diese taten, dachten und fühlten irrational. Seinen Wunsch aber, mehr über das Volk der Valisar zu erfahren, konnte sie nicht nachvollziehen. Hatte das doch ihrer Meinung nach nichts damit zu tun, dass er bereits zugesagt hat, ihr beizustehen. Niemanden interessierte das Wesen ihres Volkes. Nie hatte jemand nach einem Warum gefragt, wenn sie eingewilligt hatte mitzugehen. Sie und Ihresgleichen waren eine Herausforderung für das menschliche Volk. Mehr aber auch nicht.
    Dieser Mann aber sah sie anders an. Sah er auch anderes in ihr? Was?
    Das andere Ich, das vor ihren eigenen Blicken verborgen war?
    Möglich...


    Auch Ta'shara löste nun endlich ihren Blick von Brennan und sah zu Silene. Würde die Valisar der Einladung nachkommen?

    Zugegeben, das hätte seinen Reiz.


    Obwohl auch ein furchtloser Held durchaus meiner Aufmerksamkeit sicher sein kann. So er denn bereit ist, vielleicht irgendwann eine halberfrorene, kühle Valisar gegen eine hitzige, leidenschaftliche Ashaironi zu tauschen. :))