Anderthalb Jahre in der Vergangenheit, in der Stadt Yelindea:
Idahria stieg leichtfüßig aus der Kutsche, die sie von dem Wolkenschiff hier her gebracht hatte. Die silbern schimmernden Augen der Nymphe wanderten bewundernd an dem prächtigen Gebäude vor ihr empor. Aus weißem Stein gehauen und ähnlich wie viele andere Gebäude in der Stadt, an denen sie vorbei gekommen waren, mit verschiedentlichen Glockenspielen versehen, die gemeinsam eine herrliche Melodie gestalteten, welche Dari bereits lange vor ihrer Ankunft in Yelindea leise im Wind vernommen hatte. Seitdem lauschte sie andächtig den sanften Klängen. Sie kniff die Augen zusammen und strich sich eine lange, glatte Haarsträhne aus dem Gesicht, die silbern glänzend über ihre Schulter fiel. Dennoch erkannte sie keine Einzelheiten der Glockenspiele. Enttäuscht seufzte sie. Ihre Kurzsichtigkeit war mitunter wirklich ärgerlich, doch sie wollte sich nicht die Blöße geben, den Kutscher oder auch den Diener, der ihr nun entgegen kam, zu bitten, ihr zu beschreiben, was sie sahen. Ihre Hände hielten sich an der feinen Kette fest, die von einer Schulter zur anderen hing und die Träger für ihre Lyra festigte. „Fräulein Jaléra?“, erklang die Stimme des Syreniae vor ihr, der sich höflich halb verbeugte. „Darf ich Sie herein bitten? Sie haben noch etwa eine Stunde, um sich vorzubereiten, bevor die ersten Gäste eintreffen.“, erläuterte er und machte eine einladende Geste in Richtung des Eingangs. Dari knickste ebenfalls höflich und lächelte leicht. „Sehr gerne, vielen Dank! Ich werde bereit sein, wenn Herr Varrin seine Gäste empfangen möchte. Wo darf ich mich bis dahin zurecht machen?“, fragte sie mit melodiöser Stimme, während sie bereits einige kleine Schritte machte, um zu verdeutlichen, dass sie ihm folgen würde. Der Mann ging voraus und seine dunkelgrauen Flügel raschelten hinter ihm her. Vergleichsweise laut hallten seine Schritte durch die Gänge und die Najade bemühte sich, mit den längeren Beinen Schritt zu halten. „Hier entlang, bitte.“, erklärte er und wies nach vorne. Wenige Minuten später öffnete er ihr eine Tür in einen angenehm eingerichteten Vorraum mit Fenster, Spiegel und Sitzgelegenheiten. Eine Tür war angelehnt und führte scheinbar in eine Toilette. Idahria bedankte sich höflich und wurde dann mit der Ankündigung, zur rechten Zeit abgeholt zu werden, alleine gelassen. Nun für sich, atmete die Nymphe tief durch und begab sich zunächst zu der Kommode unter dem Spiegel. Hier waren Bürsten und Schminktiegelchen vorbereitet worden. Sie fuhr sich durch die Haare, bis diese wieder gewohnt, silberblond glänzten. Ansonsten legte sie sich nur ein Zartrosa auf die Lippen. Das würde genügen. Sie glättete ihr hell-türkises Kleid, das von den meisten für weiß gehalten wurde, und besah sich im Spiegel, ob der Carmen-Ausschnitt auch richtig saß. Dann widmete sie sich ihrer Lyra, die sie auspackte und überprüfte, ob die Saiten richtig gestimmt waren. Den Rest der Zeit verbrachte sie mit einigen Übungen ihrer Stimme und ihrer Finger, um sich etwas warm zu spielen. Dies fiel ihr nicht weiter schwer, war die Musik und gerade der Gesang doch ihre zweite Natur geworden. Ihr schien es daher, als seien nur wenige Minuten verstrichen, als es an der Türe klopfte und der Diener von zuvor sie zu den Räumlichkeiten geleitete, in denen die Feierlichkeiten stattfinden würden. Soweit sie wusste, handelte es sich dabei um eine Art Braut- und Bräutigamschau, die vorwiegend für eine der Töchter dieses Varrin veranstaltet wurde. Die Aussicht, etliche Männer vor sich zu haben, mit der Wahrscheinlichkeit, dass ihr einer der Herren ins Auge fiel, behagte ihr nicht ganz. Die letzte Beziehung war nicht gut ausgegangen und sie hatte auch keine große Lust, ein weiteres Mal Bekanntschaft mit dem Nymphen-Fluch zu machen. Dari schüttelte den Gedanken daran ab. Sing einfach! Sagte sie sich und konzentrierte sich so auf ihr zurecht gelegtes Programm an Liedern. Sie würde für die angenehme Hintergrundstimmung zuständig sein, zumindest die Hälfte der Zeit. Alle zwei Stunden würde sie sich mit einer Kollegin abwechseln, wie ihr gesagt wurde. Eine Syreniae, wie ihr der Diener während des Laufens offenbarte. Ihr sollte es gleich sein. Sie hatte diese Gelegenheit hauptsächlich wahrgenommen, um sich diese wunderbare Stadt einmal ansehen zu können. Die Überfahrt war ihr bezahlt worden und zusätzlich würde sie sich auch hier womöglich einen Namen machen können. In jedem Fall aber würde sie ihre Freizeit dazu nutzen, Yelindea zu erkunden. Bald schon wurde ihr ein Zeichen gegeben, und sie setzte ihre Lyra an die Schulter und begann zu spielen und zu singen, ohne Magie zunächst. Sie würde hie und da romantische Akzente setzen, aber ansonsten ihre Kräfte sparen, da es ein langer Abend werden würde. Die ersten Gäste trafen ein und machten höfliche Konversation miteinander, wurden dem Gastgeber und vor allem seiner Tochter vorgestellt. Idahria achtete nicht darauf. Sie vertiefte sich in der Melodie und den ineinander verschränkten Noten, die sie dahin trugen.