Erinnerungen der Gegenwart

  • Aufgewühlt lief Losifa durch die Straßen Nir'alenars. Kaum war sie wieder in der Stadt, wurde sie schon von dem hektischen Treiben, den vielen Aktivitäten und neuen Bekanntschaften überrannt und verschluckt. Sie fühlte sich wie unter großem Druck, und streunte nun rastlos herum, um irgendwo wieder frei atmen zu können. Die dahineilenden oder langsam schlendernden Bewohner, manche bestimmt auch Fremde von weit her, das fröhliche oder ernste Gerede, Lachen und seltener Klagen, die Häuser am Straßenrand und das Pflaster unter ihren Füßen - all das empfand sie plötzlich als eine unangenehme Last, die sich einfach nicht abschütteln ließ.


    Jetzt, in dem Moment, hatte sie keinen Blick mehr für das Schöne. Ihr war leicht schwindelig, dennoch hastete sie weiter, getrieben von etwas Verschwommenem, und ihre Umgebung nicht mehr ganz klar wahrnehmend.


    Bewegte sie sich überhaupt noch in ihrer Menschengestalt? Oder hatte sie sich schon längst verwandelt, wie es allen Tua'Tanai in die Wiege gegeben ist, kroch sie schon als Schlange über die Straße? Sie wusste es nicht. Ihre Zunge spaltete und vereinte sich wieder in einem einzigen Augenblick. Bald schien ihr Blick fensterhoch zu sehen, dann wieder vom Boden aufzublinzeln. Ein Zischen entrang sich ihrer Kehle, und einige Leute drehten sich erstaunt zu ihr um.

  • Ein leerer Magen und dazu der unvergleichliche Duft von frischem Gebäck in der Luft. Schnuppernd folgte er der Aussicht auf seine erste Mahlzeit an diesem Tag, als sich etwas anderes in sein Blickfeld schob.


    Der Sylph blieb für einen Moment stehen, um den Mensch zu mustern, der einen Langstab mit brennenden Enden und reißerischen Rufen durch die Luft wirbeln ließ. Seine bunt gekleidete Begleiterin hatte begonnen, antreibende Tamburinrhythmen zu trommeln und senkte ihr Instrument nur einmal, um ihrem Partner mit einem schwarzen Tuch die Augen zu verbinden.


    Die nun wachsende Anzahl Zuschauer tuschelte beeindruckt, als der nun blinde Flammenkünstler mit immer schnelleren Schritten und wilderen Figuren aufwartete. Gerade schaute Ascan sich nach dem günstigsten Weg um, an den Schaustellern vorbei zu kommen, als etwas blindlings an ihm vorbei in den Kreis stolperte. Der Sylph hatte einen flüchtigen Eindruck schwarzer Haare und heranzischender Feuerkugeln, da zuckte sein Arm bereits vor, um gerade noch die Hand um den Gürtel der schlanken Gestalt zu schließen. Der Ruck, mit der er sie zurückzog, konnte zwar nicht als sanft bezeichnet werden, doch er hielt ihr Gesicht davon ab, nähere Bekanntschaft mit einem Feuerstab zu schließen.


    Der Schausteller vollführte weiter ahnungslos seinen Feuertanz. Ascan ließ den Gürtel los und begann damit, ein paar Kinder auseinander zu schieben, die nun zwischen ihm und der offensichtlich einzigen freien Lücke standen, die noch einen Fluchtweg aus der zäh gewordenen Menschenmenge versprach...

  • Am Rande ihres Bewusstseins registrierte Losifa eine Menschenmenge und knisterndes Feuer, doch sie nahm die Welt nur mehr durch einen Schleier wahr. Die Geräusche wummerten in ihren Ohren, die Bilder drangen verschwommen und unscharf auf sie ein, unbeabsichtigt rempelte sie Leute an und konnte sich doch nicht orientieren.


    Plötzlich riss sie ein harter Ruck an ihrem Gürtel zurück, sie stolperte nach hinten und wäre beinahe gestürzt. Doch noch rechtzeitig konnte sie sich abfangen, hielt sich an den Umstehenden fest. Jetzt sah sie wieder klar. Sie befand sich ganz vorne in einer Menschenmenge, direkt vor einem Feuerakrobaten und seiner Begleiterin, die zum Rhythmus seiner Figuren einen Trommelwirbel schlug. Gefährlich nahe an den Zuschauern balancierte der Künstler sein Element, wahrscheinlich hatte der Ruck sie vor einer Konfrontation mit seinem Feuerstab bewahrt. Hastig drehte sie sich um, eine schwarz gewandete Gestalt schob gerade einige Kinder beiseite, um aus dem Pulk zu entkommen. Das musste er sein! Schnell drängte sie ihm nach und schaffte es schließlich heraus.


    "Entschuldigt bitte! Habt Ihr mich eben gerettet?" Warum hatte sie das Gefühl, die schwarze Gestalt zu kennen ...

  • Ein gequältes Seufzen entrang sich seiner Brust, doch er ignorierte den Drang, vorzugeben, nichts gehört zu haben. Einen weiteren Schritt entfernte er sich vom Lärm des Gedränges, dann wandte er sich der Fragestellerin gerade so weit zu, dass er ihr Gesicht erkennen konnte.


    „Es braucht keinen Dank, falls es Euch darum geht“, erklärte er mit müder Geduld. „Ich war nur zufällig derjenige, der gerade in Reichweite stand.“


    Die Hand des Sylph wanderte an seine Kapuze.

  • Als der Fremde sich halb umdrehte, durchzuckte Losifa abermals ein Blitz des Erkennens. Sie kannte sie, diese Bewegungen, die Kapuze und die geheimnisvolle, doch nicht feindselige Aura, sie kannte den, der jetzt vor ihr stand, und sich im Schwarz verbarg, doch woher nur!? Es wollte ihr nicht einfallen.


    War er öfters hier in Nir'alenar? Irgendetwas sagte ihr, dass er nicht besonders sesshaft war. Aus Arvonar konnte er nicht stammen, dort verbarg niemand sein Gesicht ... also musste sie ihn aus ihrer Kindheit kennen, als sie mit ihren Freunden noch lachend, aber auch oft mit knurrendem Magen durch die Straßen gerannt war ... Seine Hand wanderte zur Kapuze.


    Und plötzlich wusste Losifa, was er in ihrem jungen Leben damals bewegt hatte, als der Hunger ihr nur zu bekannt gewesen war ...

  • Er hätte sich schon längst umgedreht und sie mit welcher Antwort auch immer dort stehen lassen.... hätte sie ihn nicht auf so sonderbare Weise angesehen.


    Ascan zögerte... einen Moment zu lange. Er senkte die Hand und verengte seine Augen zu Schlitzen.
    Dieser Blick... "Warum seht Ihr mich so an?" fragte er nahezu gequält. "Ich sagte doch schon... Ihr seid mir nichts schuldig."


    Seine Ahnung widersprach ihm. Um was ging es hier?

  • "Du bist derjenige ...", flüsterte sie überwältigt. Laut erklärte sie ihm: "Als ich noch klein war, schenktet Ihr meinen Freunden und mir einen wunderschönen Tag: wir mussten einmal keinen Hunger leiden und bekamen die schönsten Dinge von Euch." Losifa lächelte. "Das habe ich bis jetzt nicht vergessen."


    Ja, so war es gewesen. Eines Tages war ein rätselhafter Mann, gekleidet in einen schwarzen Kapuzenumhang, auf der Straße vor ihnen stehengeblieben. Er hatte sie angesehen und die junge Losifa an der Hand gefasst, um ihnen allen dann leckeres Essen zu schenken, soviel sie wollten, außerdem Spielzeuge und neue Kleider! Einen Tag lang hatte er sie in Läden geführt, von denen sie die meisten noch nie oder nur von außen gesehen hatten. Danach war er mit ins Hauptquartier der Bande gekommen - und plötzlich verschwunden. Sie hatten sich nicht bedanken können, und kein einziges Mal hatte er die Kapuze abgestreift. Nur das einzigartige Gefühl seiner Anwesenheit ließ sich wiedererkennen.

  • Bewegungslos – fast abwesend ließ er seinen Blick auf ihr ruhen.


    … Nir’alenar …


    …warum hatte ihn dieses Lachen begleitet… bei jeder Erinnerung an diese Stadt – die ihm doch nichts gegeben hatte… außer ein versiegeltes Fenster…?


    Falten legten sich über Ascans Stirn.
    Es gab ein paar wenige Bilder aus der Zeit, als er die südlichste Stadt zum ersten Mal betreten hatte… einige Orte und Gesichter… doch vieles war verblasst. Gegebenheiten oder Tagträume – die Zeit hatte die Angewohnheit, Klarheiten zu verschleiern – und mancher Einbildung Realität zuzusprechen. Sinnlos, sich an alte Erinnerungen klammern zu wollen…


    „Vielleicht sind wir uns schon einmal begegnet…“, sprach der Sylph und blickte in die grünen Augen, die ihn erkannten – oder auch nur zu erkennen glaubten.

  • Als er ihr in die Augen blickte, verstärkte sich das Gefühl der Wiedererkennung noch. Sie wusste zwar nicht, ob sie damals auch so intensiv seine Augen betrachten hatte können, aber es gab keinen Zweifel, dass es er gewesen war. Für Losifa gab es keinen Zweifel, doch der Ausdruck ihres Gegenübers war mehr als zweifelhaft ...


    "Natürlich sind wir uns schon einmal begegnet! Ich bin sicher!", erklärte sie entschlossen und fixierte ihn fest. Er musste sich doch erinnern, oder? Oder war dieses Ereignis so unbedeutend für ihn gewesen, ein paar kleinen Kindern kurz mal helfen? Das wollte Losifa nicht glauben.

  • Ascan blickte sich noch einmal um. Die Feuerkünstler waren mit ihrer Vorstellung am Ende angelangt. Nur wenige der Umstehenden blieben jetzt noch, um die Beutel klingen zu lassen.
    „Eure Erinnerung gegen meine…“, murmelte er beim Anblick der Truppe, die mit ihren fliehenden Zuschauern noch um die wohl letzte Kupfermuschel feilschen wollte.
    „… da fällt mir die Wahl kaum schwer, wem ich mehr Glauben schenke.“


    Ascan musterte die fremde ‚Bekannte’ unter dem Rand seiner Kapuze hindurch. „Verratet Ihr mir denn auch Euren Namen?“
    Sein Tonfall hatte sich geändert - und eine nicht geringe Spur von Neugier trug ihren Teil dazu bei.

  • Verunsichert runzelte sie die Stirn, es war, als könnte sie plötzlich wieder klar denken. Was tat sie hier eigentlich? Schrie einen wildfremden Mann an, den sie glaubte zu kennen ... aufgrund eines undeutlichen Gefühls? Nun ja, noch war es nicht entschieden, denn sie hatte noch nicht einmal sein Gesicht gesehen. Es bestand immer noch eine Chance. Sein Tonfall war immer noch eher abweisend, doch auch sie bemerkte die leichte Spur von Neugier, die mitschwang. Bedeutete das, er wagte sich langsam an die Vorstellung heran, dass er sie irgendwann schon einmal gesehen hatte? Egal, was sie jetzt tat, sie durfte nicht mehr so aus dem Konzept geraten und unfreundlich werden. Das war ein kleiner Ausrutscher gewesen, sie war verwirrt und glaubte, ihrer Erinnerung trauen zu können, außerdem hatte die gefährliche Situation ihren Teil beigetragen.


    Etwas aufrechter stellte sie sich hin, versuchte, wieder vernünftig zu erscheinen und streckte ihm - etwas kühl, wie sie fürchtete - die weiße Hand hin. "Losifa Kiruna", sagte sie. Und hoffte, er würde sich ebenfalls vorstellen.

  • Der Sylph nahm ihre Hand. „Ascan.“


    Sein Griff war fest, doch er währte nicht lange. Dafür deutete er in die Richtung, aus der jener süße Geruch von Backwaren herüber wehte. Nun, da die Zuschauermenge sich verstreut hatte, war die Backstube gleich an der Ecke zur nächsten Seitenstraße zu erkennen. Goldene Steinbockhörner, elegant in sich selbst zu einer Brezel gewunden, krönten das Bäckerei-Schild. Einige breite Holzbänke waren vor dem Haus aufgestellt und wirkten wie Inseln im Strom der Vorbeigehenden, doch im Moment fanden nur wenige der Sitzplätze Gebrauch.


    „Falls du nichts gegen einen kurzen Imbiss hast…“


    Ungewohnt verharrte er weiterhin an Ort und Stelle - doch da er sich auf das Gespräch eingelassen und sich vorgestellt hatte, gab es Formen der Höflichkeit, die beachtet werden wollten. Er würde ihre Antwort abwarten…

  • Der köstliche Duft stieg nun, da Losifa ihn zum ersten Mal beachtete, auch in ihre Nase und bewirkte ein schmerzhaftes Zusammenziehen ihres Magens. Sie hatte seit heute Morgen nichts gegessen, seit sie in dieser Stadt angekommen war ... Zwar würde es in einer Bäckerei nicht unbedingt ein ganzes Mittagessen geben, doch fürs Erste war diese eine Möglichkeit besser als gar keine.


    Also nickte sie, nachdem sie mit leichter Verwunderung das vertrauliche 'du' registriert hatte, und machte einige Schritte in Richtung des Ladens.


    Schien es ihr so ... das schnelle Loslassen seines Handschlags hatte eine Leere hinterlassen, dort, wo eben noch der warme Druck gewesen war? Oder bildete sie sich etwas ein? Etwas verwirrt war sie zweifellos noch immer, also sollte sie aufpassen und nichts fehlinterpretieren. Sie schickte den gedachten Befehl förmlich an sich selbst, dann versuchte sie zusätzlich, die Lage nicht überzubewerten. Gleich darauf fragte sie sich, ob sie das nicht schon tat, indem sie solchen Gedanken nachhing. Auch Spontanität konnte manchmal ganz hilfreich sein. In diesem Fall hatte sie sie vielleicht bis hierher gebracht, aber jetzt täte sie wohl besser daran, ihren Denkapparat anzuschalten. Sarkasmus mischte sich hämisch grinsend unter ihre Gedanken.


    Für normale Verhältnisse dachte sie schlichtweg zu viel.

  • Das Angebot an Köstlichkeiten war reichhaltig und die Bedienungen hatten ihre hungrigen Blicke bereits bemerkt. Die Wahl des Sylphen fiel auf einen Teller mit goldbraunen, frittierten Obstspalten. Er kaufte ihn im Ganzen und nahm anschließend wartend auf einer der Holzbänke Platz, welche so dicht an der Hauswand stand, dass man sich mit dem Rücken anlehnen konnte. Gleichzeitig konnte der Blick frei über die gesamte Straße wandern.

    Ein älterer Silberzwerg, über den der Blick des Sylphen anfangs einfach hinweg geglitten war, machte sich durch ein hartes Husten bemerkbar. Der lange, drahtige Bart schleifte vor lauter Weisheit bereits am Boden und hatte auf seinem Weg hierher einige ungewöhnliche Mitbringsel eingefangen. Woher die halb zerbrochene Spielmaske stammen mochte, die halb lächelnd aus dem Bartfilz hervorblickte, konnte man nur raten.


    „Da sitze ich!“ stellte der Zwerg mit grimmiger Miene fest. „Da sitze ich IMMER!“
    Ascan guckte ihn einen Moment ausdruckslos an. Der Zwerg starrte zurück. Die Bank war breit genug, um fünf gut beleibten Personen Platz zu bieten.
    Der Sylph zögerte noch einen Augenblick und rutschte dann probeweise ein Stück zur Seite. Mit einem zufriedenen Grunzen schob sich der Zwerg auf ‚seinen’ Sitzplatz. Die stahlgrauen Augen unter den buschigen, weißen Augenbrauen wanderten erhaben über das Geschehen auf der Straße, bevor sie zu Ascan hoch sprangen. Der Zwerg nickte gönnerhaft, zeigte eine Reihe gelber Zähne und widmete sich danach seinen abgegriffenen Taschen. Ein Gestöber, das seine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte.

  • Nachdem Ascan sich einen ganzen Teller besorgt hatte, war Losifa nicht sicher, ob er sie mitessen ließ oder ihn für sich selbst genommen hatte, also trat sie selbst heran und entschied sich für zwei Stück eines knusprigen, salzigen Gebäcks. Dann folgte sie ihm - dem Halbfremden, den sie glaubte zu kennen - auf die breite Holzbank, die wie geschaffen war, um einen fantastischen Sonnenuntergang zu betrachten. Wenn gegenüber nicht eine weitere Häuserreihe gestanden wäre. Hier hatte man den besten Blick über die Straße und die Leute, die von einer Richtung auftauchten und größtenteils bald darauf in die andere entschwanden. Manche betraten auch eines der Häuser oder bedienten sich an den Läden, die sich in beiden Richtungen im Erdgeschoss dieser Häuser ausbreiteten. So viele ... auch wenn es wahrscheinlich weniger waren als zu anderen Tageszeiten. In Kinyara lebten weniger als die Hälfte der Wesen, die in dieser Stadt unterwegs waren.


    Neugierig lugte sie an Ascan vorbei, als sich der Silberzwerg bemerkbar machte. Kurz musterte sie ihn, und als sich sein etwas fragwürdiges Anliegen erfüllt hatte, verlor sie wieder das Interesse und betrachtete von neuem die Straße. Das Gebäck schmeckte weich und Losifa glaubte, noch ein Quäntchen ofenfrische Wärme darin zu spüren. Während sie kaute, konnte sie es nicht lassen, aus den Augenwinkeln zu dem geheimnisvollen Mann neben ihr zu schielen, dessen Kapuze noch immer sein Gesicht überschattete. Was mochte sich wohl darunter verbergen? (Bestimmt stellte sie sich diese Frage schon zum hundertsten Mal.)


    Schließlich beschloss sie, die Initiative zu ergreifen und vorsichtig vorzugehen. Bis jetzt hatte er sich eher misstrauisch gegeben. Wer ist sie, dass sie ihn willkürlich ansieht, ohne ihn wirklich zu kennen? Vielleicht dachte er so ... "Ich war Waise, ein Straßenkind aus einer Bande, hier, in Nir'alenar", begann sie leise, doch gut hörbar für ihre nähere Umgebung. "Eine alte Kräuterfrau zog mich groß ... doch dann starb sie und ich war erwachsen und beschloss, meine Heimat zu besuchen." Nostalgisch, in Erinnerungen schwebend, blickte sie ins Leere und sah Bilder eines wunderschönen, herbstlichen Waldes vorüberziehen. Doch auch das gutherzige, aber strenge Mütterchen und ihre kindlichen Gefährten.

  • Ascan lauschte ihren Worten aufmerksam.
    Seine eigenen Gedanken erhielten eine Gelegenheit, zum ersten Mal seit langer Zeit zurück zu wandern… zurück zu den Tagen, als er in Nir’alenar das Ziel seiner Reise zu sehen glaubte. Trotz der Schönheit und des Wohlstands, den diese Stadt offenbarte, hatte sie seine einzige Hoffnung letztendlich nicht erfüllen können.

    Wie viele Tage… war er nach jener schockierenden Erkenntnis durch diese Stadt geirrt…?


    Vielleicht... hatte es eine Gruppe von Straßenkindern gegeben… vielleicht gab es auch diesen Raum…
    Abwesend nahm sich der Sylph die nächste Obstspalte. Noch im Kauen verharrte er jedoch. Seine Stirn hatte sich unvermittelt in Falten gelegt, als er zu Losifa herüber blickte und murmelte. „…ein Straßenmädchen…“
    Eindrücke glommen schwach vor seinem innerem Auge auf … eine zerlauste Bande… ein stetiges Aufflattern und Landen von endlos vielen Tauben…ein kleiner Knirps mit grünen Augen… alle Verlorenheit in einem einzigen Blick …


    Ascan verschluckte sich plötzlich und beugte sich hart hustend tiefer über seinen Teller.

  • Offenbar hatte sie das Richtige getan, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen ... Besorgt beugte sie sich zu ihm vor, wusste nicht, ob sie ihm auf den Rücken klopfen sollte und fragte kläglich: "Braucht Ihr einen Schluck Wasser?" Selbst in ihren Ohren hörte sich das nicht besonders hilfreich an, doch mehr wagte sie nicht. Mit einem schlechten Gefühl, ihn zu verlassen - wenn auch nur für kurz - eilte sie zum Bäcker und erbat einen Becher klaren, kalten Wassers. Schnell setzte sie sich wieder und reichte ihm alles, was sie tun konnte.


    Dennoch hatte sie sich etwas entspannt, denn vor dem Anfall hatte er sie nachdenklich gemustert ... musste er doch jetzt seine Erinnerung an diesen Tag wieder heraufbeschworen haben, oder? Oder bildete sie sich einmal mehr zuviel ein, wo nichts war? Ärgerlich schob Losifa die Gedanken immer wieder von sich und belehrte sich, nicht zu zweifeln und sich zu entscheiden. War ihr diese Eigenschaft gegeben, als unentschlossene Schlange - vielleicht, sie würde es nie wissen. Denn trotz allem konnte sie nicht erfahren, was eine echte Schlange dachte, denn sie war nur eine halbe.

  • Dankbar nahm Ascan das Glas von Losifa und trank in langen Zügen. Es tat seine Wirkung. Er stellte das leere Glas neben sich auf der Bank ab. Der Silberzwerg grunzte daraufhin und blinzelte ihn an. Inzwischen zierte eine große Zigarre den Mundwinkel des Alten. „Sind schon welche dran gestorben“, kommentierte er und paffte einige Male.


    Der Sylph ignorierte ihn und nickte Losifa zu. „Danke.“ Den Teller ließ er fürs erste unberührt auf seinem Schoß liegen.
    „Es gibt eine Erinnerung an eine Straßenbande… hier… in Nir’alenar“, erklärte er nach kurzem Schweigen. Er musterte Losifa. „Damals hattest du kurze Haare, nicht wahr?“
    Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Damals… hielt ich dich für einen Jungen...“

    „So so“, hörte man den Zwerg, der sich offensichtlich frei fühlte, ihrem Gespräch beizuwohnen.

  • Überraschung zeichnete sich kurz ab, dann leichte Belustigung ... Er erinnerte sich tatsächlich, endlich. Ein Wort des Dankes ließ ihre Seele auffliegen, in einem kurzen freien Moment, dann wieder an den Körper gebunden.


    Ihr Aussehen hatte ihr damals keine Schwierigkeiten bereitet. Stirnrunzelnd versuchte sie, sich von außen zu sehen, wie sie gewirkt haben musste. Es war so lange her und sie hatte nur Pfützen und Fensterscheiben gehabt, aber kurzes Haar ... wahrscheinlich, sie wuchsen nicht schnell. "So muss es gewesen sein."


    Der Silberzwerg störte ihr Gespräch. Losifa hätte große Lust, ihm seinen Respekt zurückzugeben - auf welche Art und Weise auch immer. Doch vorerst sperrte sie lieber nicht ihre große Klappe auf, sondern schoss warnende Blicke. So stumpf wie Zwerge in solchen Dingen sein konnten, würde er sie ohnehin ignorieren.


    Was jetzt? Was würde er nun tun, ihr Gegenüber, das sich gerne in Schatten hüllte? Wie gerne hätte sie sein Gesicht, Ausdrücke und Mienenspiel gesehen! Doch auch um der Schönheit willen ... Was würde sich aus diesem Erinnern entspannen? Es hatte schon lange genug gedauert, die Bilder des Vergangenen zurückzuholen. Doch eine Schlange wird nicht ungeduldig. Sie wartet und erkennt den richtigen Moment. Wartend lehnte Losifa sich zurück.


    Es war an Ascan, die Begegnung voranzutreiben, sie hatte alles gesagt, was dazu beitrug. Das dachte sie zumindest in diesem Moment.

  • Auch die übrigen Obstspalten verschwanden nach und nach.


    Ascan nahm das Glas und den leeren Teller und brachte beides in die Bäckerei zurück. Aufruhr herrschte, denn eines der Mädchen hatte offenbar ein Regal mit frisch gebackenen Broten zum Einsturz gebracht. Ascan stellte Teller und Glas auf einem Tisch nahe beim Eingang ab, maß das Chaos mit einem kurzen, interessierten Blick und kehrte daraufhin zu Losifa zurück.


    So wie sie da saß, wies nicht ein einziges Detail auf ihre Vergangenheit hin, doch als Ascan sie noch einmal ansprechen wollte, bemerkte er, dass seine Wortwahl sich früher als er erinnert haben musste. Er schalt sich im Stillen für diese Nachlässigkeit und sprach seine nächsten Worte mit angemessener Anrede.
    „Es ist gut zu wissen, dass Euer Leben sich gebessert hat. Ihr seid zu einer schönen Frau herangewachsen.“


    Der höfliche Ton veränderte mehr, als er beabsichtigt hatte. Eine Distanz wurde spürbar.


    Ascan griff zu seiner Kapuze, doch seine Hand fasste den Rand der Kapuze nur kurz. „Wir teilen eine schöne Erinnerung, Losifa Kiruna.“
    Sein Blick war bereits die Straße weiter gewandert, an deren Ende sich ein heller Platz zu einem kleinen grünen Park öffnete. Der Anblick besaß etwas Idyllisches, das ihn nahezu unwiderstehlich zum Aufbruch rief.

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