Im Reich Minarils

  • Es war noch zu früh am Morgen für die Kinder und auch die restliche Stadt begann gerade erst zu erwachen. Nur gelegentlich hörte man das Geräusch aufklappender Fensterläden, mit denen das schwache erste Licht des Tages begrüßt wurde und von irgendwoher wehte der Duft von frischem Backwerk heran. Der Hinterhof des Waisenhauses lag still und verlassen da, sodass niemandem der Schatten auffiel, der über ihn hinweg glitt. Niemand bemerkte Ascan, als dieser mit einem letzten, rauschenden Schlag seiner Flügel auf den zerbröselnden Dachschindeln aufsetzte und durch die schräge Luke zum Dachboden hinein stieg. Niemand bis auf Ereike.
    Die siebenjährige Dai'Vaar hatte in einem Winkel des Hofs heimlich vertrocknende Grasbüschel in Brand gesteckt. Sofort hatte sie den Blick gehoben und den Hals gereckt. Der geflochtene Zopf, der die schwarze Feder in ihrem Haar hielt, sah reichlich mitgenommen aus, doch das ließ sich kaum vermeiden, weil sie es nicht lassen konnte, alle paar Minuten nach ihrem neuesten Schatz zu tasten.
    Es war kaum verwunderlich, dass sie kurz darauf in das Haus und die Treppe hinauf wieselte. Schnell war auch die Stiege zum Dachboden erklommen und es quietschte nur ganz leise als sie die Holzluke hochhob und durch den schmalen Spalt spähte.
    Sie wusste, dass er hier sein musste. Der Dachboden war zur Hälfte leer geräumt und es gab kaum eine Möglichkeit so große Flügel hinter dem verbliebenem Gerümpel zu verstecken. Wie auf der Jagd nach einem scheuen Tier, atmete sie geräuschlos durch den Mund und entdeckte den Geflügelten kurz darauf auf einer Ansammlung von Matten und Decken, die Damiel in der Zwischenzeit nach oben gebracht haben musste. Dort im schattigen Teil des Dachbodens hatten die dunklen Schwingen seine liegende Gestalt gut verborgen. Ereike war stolz auf ihre scharfen Augen und hob die Luke nun vollständig an. Auf die Dielen schlüpfend, legte sie die Hände auf dem Rücken ineinander und wanderte auf den Syrenia zu.
    Warum lag er dort? Er konnte unmöglich schlafen wollen, wo es doch gerade erst Morgen geworden war. Die Nacht war zum Schlafen da und der Tag zum Wachsein. Das wusste doch jeder. Oder wusste er etwas, das kein anderer wusste? War es ein Geheimnis?
    Ereike hatte gerade einen weiteren Schritt gesetzt, da knirschte eine Holzleiste so erbärmlich unter ihrem Fuß, dass es dem Mädchen durch Mark und Bein fuhr. Sie erstarrte mit angehaltenem Atem, doch es half nichts mehr. Der Mann mit den Flügeln bewegte sich und seine Federn legten sich raschelnd auf die andere Seite als er den Oberkörper drehte und sie aus kalten grauen Augen ansah.
    Das Mädchen sprang zurück und grinste ertappt. "Äh... guten Morgen!"


    Ascan schloss die Augen, seufzte innerlich und zählte in Gedanken bis Drei. "Geh, ich will schlafen." Das hatte ihm noch gefehlt. Seine Hand tastete zur Seite. Die Decke, die er über den Beutel mit dem Gold gebreitet hatte, war an Ort und Stelle. Genau wie dessen Form unverändert.
    "Wieso willst du schlafen? Bist du müde? Was hast du gemacht? Warst du die ganze Nacht wach? Ich hab dich nämlich eben erst kommen sehen. Ich war nämlich auch wach. Du darfst aber nicht fragen, wieso. Das ist ein Geheimnis." Sie hielt kurz die Klappe. "Aber wenn du willst, erzähl ich's dir. Eigentlich verrate ich nie irgendwelche Geheimnisse, aber wenn du..."
    "Geh!" donnerte seine Stimme über den Dachboden und fegte das Lächeln aus dem Gesicht des Mädchens. Er sah sie blass werden und den Mund schließen, dann floh sie so hastig zur Luke und knallte sie hinter sich zu, dass ihm sein Ausbruch bereits wieder leid tat. Verdammt, sie war nur ein Kind. Es war falsch, seine Wut über Sel und seine Probleme blind an ihr auszulassen, selbst wenn sie ihn zum ungünstigsten aller Zeitpunkte genervt hatte.


    Die drängende Unrast war kaum besser geworden und Ascan glaubte nicht einmal daran, dass er überhaupt Schlaf finden würde. Noch während er sich mit dem Gedanken quälte, dass sich nun stundenlang dieselben endlosen Gedanken in seinem Verstand drehen würden, war ihm, als lege sich ein unsichtbarer warmer Schleier über seinen Körper. Sein Kopf sank auf die Seite und nur einen Moment später schlief er bereits so fest, dass nicht einmal eine ganzes Orchester knirschender Holzleisten ihn noch hätte wecken können.

  • Langsam, mit müden Schritten, die dennoch nichts von ihrer angeborenen Eleganz verloren hatten, bewegte sie die junge Nymphe durch die gerade erst erwachende Stadt.
    Es war noch zu früh am Morgen für den Grossteil der Bewohner Nir’alenars, lediglich diejenigen die zu dieser frühen Stunde bereits arbeiten mussten, trieben sich auf den Strassen des Händlerviertels herum.
    Kyleja beachtete die Leute um sie herum kaum. Die Kapuze ihres Umhangs hatte sie tief in ihr Gesicht gezogen um sich vor den neugierigen, teilweise lüsternen Blicken der Männer zu verbergen. Ihr Duft, der ihr wie eine Wolke nachhing, reichte alleine schon um ein viel zu grosses Mass an Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.


    Dabei war alles was sie wollte, in ihrer Scham zu versinken und Minaril um Vergebung zu bitten für die letzte Nacht. Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken dies im Tempel ihrer Göttin, im Palastviertel zu tun, doch die Müdigkeit überwog.
    Das Amulett mit dem violetten Auge um ihren Hals schien mit jedem Schritt schwerer auf ihrer Brust zu liegen. Fast als wolle Minaril sie daran erinnern, dass die Nacht dazu gedacht war ihrer Botschaften anhörig zu werden und nicht, um irgendwelchen Männern, in zwielichten Teilen einer viel zu grossen Stadt, den Kopf zu verdrehen, auf der Suche nach einem einzigen Mann.
    Ein leises Seufzen löste sich von den Lippen der Schwarzhaarigen. Ja, sie hatte sich in dieser Nacht seit langem wieder wie eine wahre Nymphe verhalten. Sie hatte Männerherzen höher schlagen lassen und die Sinne deren Besitzer vernebelt, mit ihnen gespielt und sie schliesslich fallen gelassen. Und das alles nur um an Informationen über den Syreniae zu kommen: Ascan, der Rabe. Ein Unterfangen, welches ihr zwar einerseits die ein oder anderen guten Quellen in die Hände gespielt hatte, andererseits aber auch immens viel Zeit für viel zu wenige Ergebnisse geraubt hatte.
    Sehr viel hatte sie nicht in Erfahrung gebracht. Der Rabe war zurückgekehrt, man hatte ihn angeblich auf dem Nachtmarkt gesehen, in Begleitung einer Dame. Aber niemand konnte ihr sagen wo sich dieser Nachtmarkt befand oder wohin die beiden gegangen waren.
    Dass es sich bei der Frau um eine Verabredung aus Zuneigung handeln könnte, schloss die Nymphe aus, dafür war ihr Bann zu stark gewesen.


    Als sie sich ihrer Unterkunft näherte, einer hübschen kleinen Wohnung deren Schlüssel und Adresse ihr der alte Wanderer gegeben hatte, fischte sie den Schlüssel aus einer der Taschen ihres Umhanges und erklomm die wenigen Stufen. Die Absätze der leichten Stiefel, die sie ausnahmsweise zum Zweck ihrer Informationsbeschaffung trug, verursachten jenes Geräusch auf dem Holz, welches die Nymphe so verabscheute. Sie mochte es sich beinahe lautlos bewegen zu können, ohne lästiges Schuhwerk an den Füssen.
    Als die Tür zu ihren 3 Zimmern ins Schloss gefallen war, entledigte sie sich als erstes der schrecklichen Schuhe. Den Umhang hing sie ordentlich an einen Haken bevor sie ins Schlafzimmer hinüber ging und sich dort erschöpft auf ihr Bett fallen liess. Bevor sie jedoch endgültig in Minarils verheissungsvolle Traumwelt entgleiten konnte, umfasste sie deren Glaubenszeichen, das Amulett und widmete sich ihrem Gebet.
    Mit konzentriert geschlossenen Augen arbeitete sie im Geiste die Liste aller Schandtaten ab, die sie diese Nacht getan hatte dann erst, als sie sich frei „gesprochen“ hatte, kam sie zu ihrem eigentlichen Anliegen.
    Minaril, bitte schenkt Ascan Bran Boreas und mir den gleichen Traum, damit wir einander wiederfinden können.
    Bat sie ihre Göttin inständig. Dann erst entledigte sie sich ihrer Strassenkleider und streckte sie auf dem Bett aus. Binnen weniger Sekunden spürte sie, wie sich der Schleier Minarils über sie legte.

  • Ein weißes Rauschen... so vertraut... irgendwo fern verloren... Schweben, Gleiten, Gehen... weiter ins weiche Nichts... das Brausen wie Brandung immer im Sinn... die Klippen sind tückisch im Nebel... atmen und lauschen... sehen und tasten... das Gewicht des Beutels spüren... es gibt keine Sonne... kein Hinweis wie spät es ist... ist es schon Zeit?


    Plötzlich waberten die Nebel auseinander und sein Schritt verharrte, kaum eine Handbreit vor der Klippenkante. Tosend brandete und krachte, riss und schäumte die weiße Gewalt. Haltlos stürzte sich der Blick hinab, schlitzte sich auf an den scharfen Graten, schabte über die Spalten und verlor sich im Sog der zurückweichenden Massen, mitgezogen aufs Meer und erst dort wieder von den Winden befreit.


    Die aufkommende Brise rüttelte und zerrte am dünnen Stoff seines Hemds, drückte sich in seine Schwingen und wirbelte die kurzen Haarsträhnen in sein Gesicht. Die Winde spielten immer vereint, nutzten jeden Wirbel, jede Kante zum Sprung, pfiffen und wisperten, sangen vom Meer und lachten über die Klippen.
    Er erinnerte sich an die Schmerzen, doch er spürte sie nicht mehr. Der Beutel wog schwer, doch das störte ihn nicht. Es war ein gutes Gewicht. Es bestand aus Triumph. Triumph und Gold. Einundfünfzig Dukaten. Einundfünfzig. Er wusste es ganz genau.
    Wenn er fünfzig ausgeben würde, würde er immer noch eine behalten. Eine einzige allein. Ganz allein. Zu allein. Was sollte er damit? Wer brauchte schon eine einsame Dukate?
    Er würde sie fürs Essen aufheben. Für das süße Gebäck. Denn er würde keines mehr geschenkt bekommen. Er würde auch die Frau ohne Flügel nicht wiedersehen. Ihr Name hätte ihn interessiert. Und wieso sie die Muscheln suchte. Sie würde es ihm erzählen, wenn er ihr das Gold brachte. Sie würde wiederkommen. Sie würde es bestimmt... und vielleicht würde sie dann für ihn lächeln.


    Die Wellen warfen sich an die Klippen und die Nebel wirbelten immer höher. Er schloss die Augen und verharrte still. Es war so vertraut. Diese Gedanken... dieser Ort... so als wäre all das schon einmal passiert. Vielleicht würde er es wissen, wenn er noch etwas wartete. Vielleicht hatte er davon geträumt und es nur vergessen.
    So in Gedanken versunken verweilte er noch an den Klippen und hoffte, dass es ihm einfallen würde; dass der Wind es ihm zuflüstern würde, bevor er zurückfliegen und der Frau ohne Flügel ihren Schatz bringen würde.

  • Dunkelheit umfing sie. Schwarz. Sanfte Schwärze, einer weichen Decke gleich legte sich über ihren zarten Körper. Stille, so wunderbar beruhigend, so unglaublich wohltuend.
    Für einige Sekunden passierte nichts. Lag sie einfach nur da und genoss die Stille und die tröstliche Dunkelheit.
    Rauschen, rascheln, durchbrach die Stille. Etwas kitzelte ihre Wange. Langsam öffnete sie die Augen, blinzelte geblendet vom Licht der Sonne. Es fiel durch das lichte Blätterdach, warf Schatten auf ihre Haut, ihr Kleid, neckte sie mit seinem frohlockenden Spiel. Die Blätter der Bäume tanzten und sangen mit dem Wind der durch sie hindurch fuhr, spielten mit den Böen, genau wie das schwarze Haar der Nymphe.
    Das fröhliche Licht der Morgensonne liess die Klingen der beiden Dolche, die sie in ihren Händen spürte, blitzen und funkeln.
    Aufrichten, umsehen, erkennen. Das saftig, grüne Gras stand knöchelhoch, bedeckte den Boden wie das Wasser den Meeresgrund, wogte hin und her wie die Wellen im Wind. Tautropfen glitzerten an den einzelnen Halmen, erschufen eine träumerische Landschaft.

    Sie erhob sich, das Gewicht der Dolche lag ungewöhnlich schwer in ihren Händen. Ein Blick hinab auf eben diese genügte um zu wissen, dass dies die schweren, metallenen Dolche von Malum waren. Sie hatte schon immer mit diesen trainiert, Ika mochte ihr die hübschen silbernen Dolche mit den lila Steinen nicht anvertrauen. Sie war zu ungestüm im Umgang mit diesen.
    Doch wo war, der Besitzer dieser Waffen, wo befand sich Malum?
    Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse, das nasse Gras raschelte unter ihren nackten Füssen. Wind liess ihr die Haare ins Gesicht fliegen und den leichten Stoff ihres Kleides rascheln.
    Wollte er verstecken spielen?
    Verwirrung legte sich in ihre Züge, kam ihr diese Szene doch irgendwie bekannt vor.
    Zielstrebig richtete sie sich nach rechts, dort würde er warten und hinter einem Baum hervorspringen um sie zu erschrecken, da war sie sicher. Nur woher kam diese Sicherheit?
    Ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht rannte sie rechter Hand von der Lichtung hinunter und in den Wald hinein.

    Entgegen ihrer Erwartung teilten sich die Bäume hier, formten einen ebenen Gang an dessen Ende sie gleissend weisses Sonnenlicht sehen konnte, so hell, dass dort unmöglich noch Bäume stehen konnten.
    Ein Windstoss fegte von hinten an sie heran, zischte an ihrem zierlichen Körper vorbei, pfiff durch diese schmale Allee und schob ihren Körper beinahe auf das wunderschöne Licht zu.
    Sie würde Malum gleich suchen, nachdem sie gesehen hatte was der Wind ihr zeigen wollte. Oder war es vielleicht die Göttin Minaril, von der ihre Mutter immer zu sprechen pflegte, die ihr hier einen Weg wies?
    Dem Wind folgend, durchlief das Nymphenmädchen die Allee und trat hinaus auf eine steil abfallende Klippe. Ein Junge, ungefähr in ihren Alter stand vorne am Rand der Klippe und blickte hinab. Langsam trat sie hinter ihn.
    "Hallo", sprach sie ihn fröhlich lächelnd an.

  • Seine schwarzen Flügel zuckten vor Schreck. Die Stimme war dicht hinter ihm und als er herumfuhr, um zu sehen, zu wem sie gehörte, fiel ihm plötzlich der tiefe Wald auf, der sich jenseits der schroffen Felsen erstreckte. Seit wann gab es hier Bäume, sogar gleich so viele?
    Das Mädchen hinter ihm passte zu dem ungewöhnlichen Bild. Ihre schwarzen Haare wehten in einer neuerlichen Windböe nach vorn. Keine Flügel erhoben sich hinter ihren Schultern und das erinnerte ihn kurz an die Frau am Strand. Nur, dass dieses Mädchen keine Syreniae war. Ihre Augen waren von einem dunklen Blau. Eine der Fremden, die mit den Schiffen kamen.
    Kaum glitt sein überraschter Blick ihre Gestalt hinab, wurde er der Dolche in ihren Händen gewahr. Ruckartig spreizten sich seine Schwingen weit auf und sein Körper spannte sich, um sich von den Klippen zu stoßen.
    Ein Gedanke hielt ihn gerade noch zurück, bevor die Kraft in seine Beine gelangte. Sie lächelte nicht wie jemand, der vorhatte, ihn zu zerschneiden. Seine Schwingen verharrten weit erhoben und seine grauen Augen leuchteten aufmerksam. Die langen Schwungfedern wiegten sich im auffrischenden Wind. Es dauerte noch ein paar tiefe Atemzüge bis sein Kinn sich langsam senkte und er sich zu einem Nicken überwand.
    Was wollte sie? War sie allein?
    Flüchtig spähten seine Augen auf den Klippen nach links und rechts und forschten auch den Waldrand entlang. Vielleicht hatte sie sich verlaufen und suchte den Weg zurück zum Hafen...

  • Das aufgeschreckte Zucken, das durch den kleinen Körper ging, der sogar noch schmaler und schmächtiger aussah als ihr eigener, liess das Mädchen schuldbewusst den Blick senken. Doch sie fasste sich schnell wieder ein Herz. Vielleicht hatten ihm die Dolche Angst gemacht.
    Gerade als sie diese ablegen wollte, drehte sich der Kleine zu ihr herum, das Gesicht spiegelte grosse Vorsicht, Misstrauen und auch Angst. Doch da war noch etwas, sie kannte dieses Gesicht.
    Als dann auch noch die schwarzen Schwingen raschelnd auseinander glitten durchzuckte es Kyleja wie ein Blitz.
    Das hier war Ascan, der Rabe, als Kind.

    Kaum, dass diese Erkenntnis in ihre Glieder gefahren war, spürte sie, wie ihr Körper sich veränderte. Er streckte sich und verlor seine kindliche Form, wurde zum Körper einer jungen Frau. Wurde zu ihrem Körper wie er jetzt war.
    Langsam um den Jungen nicht zu verschrecken, legte sie die Dolche ab. Er schien sie als Kind nicht erkannt zu haben. Oder wollte Minaril, dass sie seine Kindheit sah?
    „Keine Angst, ich will dir nichts tun“. Sprach sie ihn sanft an, machte einen kleinen Schritt auf ihn zu und ging vor ihm in die Hocke. Jetzt waren ihre Gesichter auf einer Höhe und er musste sich nicht fühlen als würde sie auf ihn herab sehen.
    Sie beobachtete wie er die Umgebung sondierte, so als habe er Angst es könnte noch jemand aus dem Wald treten. Ihr fiel auf, dass die Narbe die sie im Tempel bei ihm gesehen hatte, noch nicht da war. Das hiess diese war irgendwann zwischen seiner Kindheit und dem jetzigen Zeitpunkt entstanden. Warum befand sich Ascan als kleiner Junge so alleine auf den Klippen? Wo waren seine Eltern, sein Zuhause? War er vielleicht ganz alleine? Seine Kleidung und sein ausgemergelter Körper wiesen darauf hin. Aber so wie Kyleja ihn kennen gelernt hatte, wirkte er nicht wie jemand der sich sein ganzes Leben lang an der Hungergrenze bewegt hatte, auch seine Umgangsformen wirkten zwar hart und grob – sie schauderte bei dem Gedanken daran wie Ascan beinahe den Tempel Emulars mit Blut verunreinigt hatte – aber dennoch nicht unerzogen. Und dann waren da noch die Geschichten ihres Wanderers über den Raben, eine beinahe gefürchtete Gestalt der Nir’alenarer Unterwelt.
    Irgendetwas musste dem kleinen Jungen von damals geschehen sein, dass ihn zu einem solchen willensstarken und stattlichen, aber durchaus auch gefährlichen Mann hatte werden lassen.

    Langsam streckte sie ihm ihre Hand hin.
    „Ich bin Kyleja“, stellte sie sich vor und wartete geduldig ab, ob der Kleine sich nun ebenfalls vorstellen würde.

  • So rätselhaft wie die Ahnung, schon einmal hier gestanden zu haben, so seltsam wie der tiefe Wald, der sich über den Klippen erstreckte, obwohl es auf Alaneya keine Wälder gab, war die Verwandlung mit der das Mädchen vor seinen Augen erwachsen wurde. Statt ihn jedoch in blanke Panik zu versetzen, machte ihn der Vorgang eigenartig benommen, ganz so als habe er sich zu lange in einem Wirbelwind gedreht und bräuchte nun einen Moment, um die trudelnde Welt wieder richtig zu rücken.
    Sie war unglaublich schön, war sein erster Gedanke, kaum dass sich das Schwanken gelegt hatte und sein Verstand den Wandel als einfaches Kuriosum hingenommen hatte. Ihre freundlichen Worte und die Art wie sie sich auf seine Höhe begab, passten zu ihrem sanften Gesichtsausdruck und obgleich es ihn unheimlich irritierte, wusste er beim Blick auf ihre rötlichen Lippen, dass diese sich genauso weich anfühlten wie sie aussahen.
    Doch er konnte nichts zu ihr sagen. Er konnte es einfach nicht. Ein Teil von ihm meinte zu wissen, wie es ging, doch jedes Mal, wenn er es hatte versuchen wollen, war alles in seinem Kopf taub geworden und sein Hals hatte jede Kraft dazu verloren. Es deprimierte ihn, quälte ihn an manchen Tagen mehr als der Hunger, denn jeder Syrenia besaß eine Stimme... traumhafte Stimmen, die sogar den Gesang des Windes übertrafen... bis auf ihn.


    Sein Oberkörper wich deutlich zurück als ihre Hand sich näherte. Seine Flügel zuckten und fächelten beunruhigt und eine steile Furche senkte sich in seine Stirn, die viel zu jung für einen solch kritischen Ausdruck schien.
    Die hübsche Frau nannte ihren Namen. Erwartungsvolle Stille folgte, die in seinem eigenen Kopf jedoch ganz und gar nicht still war. Kyleja... Kyleja B’eor... wisperte es plötzlich aus den pfeifenden Winden, dem zischenden Donnern der Brandung und er wusste, dass er diesen Namen kannte. Er kannte diese Augen, in denen der Nachthimmel ertrank, diese Lippen, die er federweich auf seinen eigenen gespürt hatte. Kyleja B’eor... die Frau, die er in Nir'alenar getroffen und verloren hatte. Auf Beleriar unter der Kuppel. Vor dem Treffen mit Selcaria.


    Die Wucht, mit der ihn all das Wissen traf, hatte etwas von einer Sturmfaust. Plötzlich wog der Geldbeutel in seiner Hand um ein Vielfaches schwerer und Ascan wurde mit dunkler Unmut bewusst, dass er beim Blick hinein nicht nur Dukaten finden würde. Seine Augen hatten sich geschlossen als seine kindliche Gestalt sich in fließendem Wandel seinem erwachten Bewusstsein angeglichen hatte. Wo die schneidenden Winde seinen jungen Körper gestreift hatten, griffen sie nun gezähmt in den Samtumhang, der sich schwer um seine erwachsene Statur schmiegte. Seine geöffneten Schwingen überragten die scharfen Klippen wie zwei nachtschwarze Segel. Ascan nahm einen tiefen Atemzug und zog sie leise raschelnd an seinen Rücken, bevor er erneut die Augen öffnete und seinen stählernen Blick auf die Nymphe senkte. "Ich weiß", erklang seine Antwort so ruhig und selbstbewusst, dass nichts mehr an den scheuen Jungen erinnerte, den nur ein falsches Wort von der Klippe vertrieben hätte.


    Die Augen von der Schwarzhaarigen losreißend, schaute Ascan zum Waldrand auf und weiter empor in den milchig weißen Himmel, durch den kein einziger Sonnenstrahl schimmerte. Das Wetter auf Alaneya war schon immer launenhaft gewesen, daran änderte sich wohl auch in seinen Träumen nichts. Denn dass es ein Traum sein musste, da war er sich absolut sicher. Er dachte zu oft an diesen Tag zurück, an den ersten Auftrag, zu dem ihn Selcaria verleitet hatte, um auch nur einziges Detail vergessen zu können.
    Umso seltsamer... Seine Aufmerksamkeit richtete sich unvermittelt wieder auf Kyleja und seine Augen verengten sich, während er sie musterte. ... dass sie hier war.


    "Wie bist du hierher gekommen?" stellte er ihr seine Frage mit dunkler Stimme und erinnerte sich an die Warnung. War sie es, deren Magie ihn sogar bis zu Sel begleitet hatte? Und war es diese Magie, die seinen Puls nun schon bei ihrem bloßen Anblick in die Höhe trieb?

  • Fast bereute sie es, den jungen Ascan so nahe gekommen zu sein, als sie ihn so heftig zurück weichen sah. Doch bereits im nächsten Augenblick, waren es ihre Augen, die sich überrascht weiteten.
    Schlagartig alterte der Junge vor ihr, reifte binnen Sekunden zu dem Mann heran, den sie im Tempel Emulars kennen gelernt hatte. Beinahe wie sie selbst noch kurz zuvor, war nun auch aus dem kleinen, eher schmächtigen Syreniae der stattliche, selbstbewusste Mann geworden den sie erlebt hatte.Und mit diesem Alterswandel, schien auch seine Erinnerung an sie und ihren Bann zurück zu kehren. Die Schwarzhaarige kam nicht umhin, erleichtert aufzuatmen als er meinte sie zu erkennen. Sie hätte nicht gewusst wie sie mit ihm hätte umgehen sollen, wäre diese Erinnerung nicht bis in seinen Traum gedrungen.
    Innerlich unsagbar dankbar gegenüber Minaril, hefteten sich ihre dunkelblauen Irden auf den Weisshaarigen, sogen jedes Detail in sich ein. Es war eine wahre Wohltat ihn zu sehen, besonders nach dieser schrecklichen Nacht in der Nir’alenarer Szene.Augenblicklich wich die Farbe aus dem Gesicht der Nymphe beim Gedanken an dieses … Erlebnis. Ihr schuldbewusster Blick fand die Augen des Syreniae, ihre langen Wimpern senkten sich ob des durchdringenden Blickes mit dem er sie bedachte. – Ja sie fühlte sich als hätte sie ihn betrogen, das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich schuldig einem Mann gegenüber den sie gebannt hatte, schuldig dafür zu sein was sie war.Doch für ihre Schuldgefühle würde sie später noch Zeit finden, jetzt galt es die Zeit des Traumes zu geniessen und dem Syreniae klar zu machen, dass sie ihn baldmöglichst wiedersehen wollte, real.


    Kyleja betrachtete den Raben, nun da sich ihre Gedanken wieder geklärt hatten, jetzt mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen.Sein Blick wanderte über seine Umgebung, grübelnd, nachdenklich bis er sich wieder auf sie richtete. Skepsis lag in seinem Blick, beinahe konnte sie die Überlegungen sehen, die er anstellte.
    Langsam zog sie ihre Hand, welche sie ihm noch immer entgegen gestreckt hatte, zurück. Ebenso langsam erhob sie sich und strich den Stoff ihres Umhanges glatt. Dabei fiel ihr auf, dass die beiden Dolche Malums, welche noch eben zu ihren Füssen gelegen hatten, verschwunden waren.
    "Es ist auch schön dich wiederzusehen, Ascan“, grüsste die Nymphe mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen. Noch immer hallten die Schreie des Syreniae in ihren Ohren, mit denen er sie gerufen hatte als die Menge im Begriff war die beiden zu trennen. Sie unterdrückte ein Schaudern und konzentrierte sich wieder auf den Geflügelten vor sich.
    Es war ein wahrlich beeindruckender Anblick wie er dort auf den Klippen stand, der Wind peitschte um seine schlanke, muskulöse Gestalt.
    Mit einer Hand strich sich die Nymphe das eigene Haare, welches seit ihrer Kindheit um einiges länger geworden war, aus dem Gesicht.
    „Hast du vergessen, was ich dir im Tempel gesagt habe? Ich habe einen guten Draht zu Minaril und anscheinend wurde mein Gebet erhört“, Langsam trat sie näher zu ihm, an den Rand der Klippen und spähte hinab. Doch angesichts der tosenden Wellen und des weissen Schaumes der sich an den spitzen Felsen brach, wandte sie mit leichtem Schwindel den Blick ab.
    Von der Seite sah sie den Schwarzgefiederten aus sehnsuchtsvollen, sanften Augen an.
    „Ich habe mich danach gesehnt dich zu sehen und Minaril hat mir diesen Gefallen getan“, hauchte sie und biss sich gespielt schuldbewusst auf die Unterlippe.

  • Der gewagte Schnitt ihres Kleids gewährte einen tiefen Einblick als sie sich so langsam aufrichtete. Es war wohl kaum ein Zufall. Mit einem Blinzeln brachte Ascan seine Augen wieder auf die richtige Höhe als sie ihre grüßenden Worte an ihn richtete.
    Er ärgerte sich, dass er sich nicht besser im Griff hatte, denn nichts wollte er weniger als eine Nymphe wissen zu lassen, dass sie ihm gefiel. Ihre Bewegungen hatten etwas Fesselndes wie sie sich durch das Haar strich und näher trat, um über den Klippenrand in die Tiefe zu schauen. Mit gerunzelter Stirn versuchte er sich an die Vorkommnisse im Tempel zu erinnern. Sie hatte von Minaril gesprochen und ihn zu diesem Zeitpunkt auch nach seinen Träumen gefragt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich zwar darauf besinnen konnte, mit ihr gesprochen zu haben, doch dass alle weiteren Details in einer Wolke aus nebligen Eindrücken versanken, aus der ihm nur ihr Name klar im Gedächtnis geblieben war. Kyelja B’eor...
    Was war mit ihm geschehen nachdem seine Zauberstimme die Wirkung auf sie verfehlt hatte?


    Ihr Blick fand zu ihm zurück, richtete sich unergründlich in seinen und ihre gehauchten Worten weckten plötzlich die Illusion in ihm, das Gleichgewicht zu verlieren. Ein seltsamer Wind drehte sich in seinem Kopf und blies Erinnerungsfetzen aus dem trüben Nebel, den er gerade noch vergeblich überflogen hatte.
    Er spürte wieder dieses Verlangen, das ihn im Tempel zu ihr gezogen hatte... sah den Priester im Angesicht des goldenen Revolvers blass werden... und erzitterte abermals unter dem Ruck, der ihren glühenden Körper an seinen gepresst hatte.
    Etwas entglitt ihm, bevor sein Verstand es ergreifen konnte. Es war so angenehm, sich in die wohlige Benommenheit gleiten zu lassen, dass der Schock ihm wie ein kaltes Messer in den Rücken drang, sich plötzlich auf Selcarias gezischte Warnung zu besinnen. Angestrengt fokussierten sich seine Augen auf das Gesicht der Schwarzhaarigen. Es war nur ein Trick. Ihr magischer Bann, der ihn im Tempel befallen hatte - und es jetzt wieder zu tun drohte.


    Einen Vorteil hatte sein knapper Rückfall jedoch, gestand er sich zähneknirschend ein. Er wusste nun wieder, was geschehen war und die Wut darüber half ihm, seine Sinne zu ordnen und die Frau vor ihm wieder klar zu sehen. Bei Emular, er hatte doch nicht ernsthaft einen Priester des Emular bedroht und fast erschossen? Ihre süßen Versprechungen klangen wieder in seinen Ohren und es trieb ihm ein schmerzhaftes Lächeln auf die Lippen. Sie hätte sie niemals wahr gemacht. Auf wie viele Frauen sollte er noch hereinfallen, die ihm das Blaue vom Himmel gelobten, nur um ihn ausnutzen zu können?


    Der Leinensack mit den Dukaten und den Dokumenten war ihm aus der Hand gerutscht, ohne dass er es bemerkt hatte und eine Kante des Pergamentbündels lugte unter dem Stoff hervor, während einige Golddukaten sogar bis über den Rand der Klippe gerollt waren. Ascan achtete nicht darauf, sondern rang nach den Worten, die seinem lodernden Zorn entsprachen. Er wollte seine Fähigkeiten entfesseln, um ihren Verstand mit Schreckensvisionen zu bestrafen... doch es ging nicht. Etwas an ihrem Anblick hielt ihn zurück.
    Ascans Hand griff verkrampft zu seinem Hals. Er kam sich wie in den Tempel zurückversetzt vor als ihr Duft ihn überwältigt hatte... als könnte er den Zimtgeruch um sich wahrnehmen... doch noch weitaus stärker war die plötzliche Einsicht, dass es genauso wie damals war. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Seine Kehle blieb stumm.
    Er konnte ihr nicht schaden. Nicht ihr. Nicht einmal in seiner blanken Wut ertrug er die Vorstellung, Leid auf ihrem Gesicht aufblitzen zu sehen. Wie konnte das sein? Während Ascans Griff sich von seiner Kehle löste und zu seiner Stirn wanderte, wirbelten seine Überlegungen unbeherrscht durcheinander. Hieß es nicht, dass ein solcher magischer Bann seine Macht verlor, wenn die Nymphe beim Betroffenen in Ungnade fiel? Wieso dieser nicht? Warum hatte er immer noch das Bedürfnis, sie von den gefährlichen Klippen fortzuziehen?


    Der Geflügelte wandte den Blick nicht von Kyleja, während sich Wut, Qual und Sorge in rascher Folge auf seinem Gesicht abwechselten. Seine ganze Haltung war ins Schwanken geraten und etwas an den Wolken über dem Meer hatte begonnen, sich unheilvoll zu verändern.

  • Sorgenvoll beobachtete die Nymphe, wie sich das Gesicht des Syreniae in den verschiedensten Empfindungen verzerrte, während die Gedanken in seinem Kopf zu rasen schienen. Sie konnte den Sturm in seinen stahlgrauen Augen toben sehen, bemerkte den Kampf, welchen er in sich ausfocht. Er wehrte sich noch immer gegen ihren Bann, sie konnte es spüren. Sehr wohl erkannte sie, wie sich die Empfindungen, welche sie im Tempel bereits bei ihm gesehen hatte, in seinen Augen spiegelten als er sich an all das erinnerte, was geschehen war. - Lust, Sorge, Wut.
    Kyleja erschauderte als sie das schmerzliche Lächeln des Weisshaarigen sah. Sie musste sich eingestehen, dass sie dieser neuartige, ihr bisher unbekannte Ausdruck auf seinem Gesicht selbst mehr schmerzte als es ihr lieb war.
    „Ascan…“, Ihre Stimme bebte angesichts ihrer Unsicherheit. Nach den richtigen Worten ringend betrachtete sie den Syreniae. Sie wusste wie stolz dieses Volk war, wie sehr es ihnen widerstrebte unter jemandes Macht zustehen, auf jemandes anderes Erbarmen angewiesen zu sein. Niemals könnten Worte dem gerecht werden, was sie ihm alles sagen wollte.
    Sie wollte die Hand heben und ihn berühren, im Nähe und Sicherheit geben in diesem Strudel in dem er sich innerlich zu drehen schien. Doch auf halbem Weg liess sie die Hand wieder sinken. Im Tempel hatte er zunächst auch nicht gerade positiv auf ihre Annäherungen reagiert. Abwartend musterte sie den Mann vor sich, beobachtete still den Ausdruck seines Gesichtes und versuchte aus seinen Augen zu lesen was in seinem Inneren von statten ging.
    Auf der anderen Seite, wenn sie es von ihrem Standpunkt, dem Standpunkt einer Nymphe aus betrachtete, war es ihr nur recht, wenn er mit sich kämpfe. Dies versprach ein Spiel zu werden wie sie es noch nie gespielt hatte, ein Spiel bei dem sie ihre Fähigkeiten einmal wirklich auskosten würde können. Und er würde damit ebenfalls auf seine Kosten kommen, auch wenn es ihm vielleicht jetzt noch Unbehagen oder gar Wut bereitete daran zu denken, so würde er sich bald innerlich nach jeder Berührung ja sogar nach jedem Blick von ihr verzehren.


    Die Hand die an seinen Hals wanderte als er ansetzte zu sprechen, die Art wie er sich an die Stirn griff, fast so als glaubte er Fieber zu haben. Kyleja kannte dieses Gebaren, er hatte seine Stimme gegen sie einsetzen wollen und gerade gemerkt, dass dies nicht möglich war, unter ihrem Bann, das er nicht fähig war ihr weh zu tun, egal wie sehr er es wollte.
    Nun ihrer eigenen Stimme wieder mächtig, betrachtete sie den Raben mit leisem Bedauern im Blick
    „Du kannst mir nicht schaden, egal wie sehr du es auch versuchst“, erklärte sie und in ihrer Stimme schwang ein Teil dessen mit, was sie bereits im Tempel gespürt hatte, Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass sich ausgerechnet der Mann, den sie nicht unter ihren Bann hatte stellen wollen, der Mann den Minaril ihr in unzähligen Träumen gezeigt hatte, sich so sehr gegen sie wehrte und diesen Bann so sehr zu verabscheuen schien.


    Sie hingegen spürte wie es sie innerlich immer stärker zu diesem Mann hinzog, wie sehr sie wollte dass er Ihr sein würde, dass er es selbst so wollte. Sie wollte ihn berühren können wann immer ihr der Sinn danach stand, durch seine Federn streichen, seine Haut berühren, ihm unzählige Küsse schenken und genauso viele auch wieder von seinen süssen Lippen stehlen.
    Auf ihren Lippen prickelte es leicht bei der Erinnerung an den Kuss den sie ausgetauscht hatten, ihr wurde wärmer als sie den Nachhall seiner Berührungen auf ihrem Körper pulsieren spürte.
    Ein erschrockenes Keuchen entwich ihren Lippen, laut genug dass der Syreniae es gehört haben musste, angesichts dieser Intensität mit der sie ihre Abstammung, ihr nymphisches Blut zu diesem Mann hinzog.
    Die Hände in den Stoff ihres Kleides gekrallt, die Lippen aufeinander gepresst, atmete sie tief und langsam durch um ihr Verlangen niederzuringen. Erst als sie sich wieder völlig als Herrin ihrer selbst fühlte, fiel ihr auf, dass bei all diesen verlangenden Empfindungen keine einzige Duftnote ihre Haut verlassen hatte. Unglauben im Gesicht, fuhr sie mit den Händen über ihre Haut. Eigentlich hätte ihr Duft in der Luft liegen müssen und das auch noch sehr stark, so stark dass der Rabe keinen klaren Gedanken mehr hätte fassen können, doch nichts war geschehen.
    Nun verstand sie den Syreniae und seine Unruhe, es war schlichtweg unmöglich, hier irgendwelche Kräfte zu wirken. Minaril musste dafür gesorgt haben.Auf eine irritierende Art bei dieser Erkenntnis vollkommen unbeeindruckt davon, keine Kräfte auf den Syreniae wirken zu können, hob sie den Blick wieder um diesen ansehen zu können.


    Reflexartig ging die junge Frau zu Füssen des Gefiederten in die Hocke um den Beutel aufzuheben, welchen Ascan in seinem vernebelten Gedankenkampf fallen gelassen hatte. Die Dukaten, die über die Klippen sprangen vermochte sie nicht aufzuhalten.
    Vorsichtig hob sie den Beutel samt seinem restlichen Inhalt auf und trat dann einen Schritt vor dem Syreniae zurück. Sorgfältig schob sie die Dukaten wieder in den Beutel und widerstand dem Drang einen Blick auf das Pergament zu werfen bevor auch dieses zurück in den Behälter wanderte. Zögerlich, unsicher wie sie sich verhalten sollte, streckte sie ihm den wieder verschlossenen Beutel entgegen.
    „Ich denke das hier ist deines“, sprach sie leise und mit ruhiger Stimme. Ihr Blick suchte den des Syreniae und sie fragte sich, wie er ob dieses inneren Kampfes mit ihr umgehen würde.

  • Dass sie ihm seine Machtlosigkeit verkündete, klang wie Hohn in seinen Ohren. Sie würde ihn nicht soweit bekommen, sich hilflos zu fühlen. Er wusste, dass es eine Möglichkeit geben musste, sich gegen ihren Bann durchzusetzen. Es musste... Er war nicht soweit gekommen, nur um sich jetzt im Netz einer Nymphe zu verstricken. Seine vielleicht einzige Chance zur Oberwelt zurückzukehren... vertan... nur weil er für die Illusion von Liebe den Pakt mit dem Wanderer brach... weil ihr Zauber ihn seine Freiheit vergessen ließ...


    Ihr Aufkeuchen durchfuhr ihn wie ein eiskalter Schauer, berührte sein Innerstes auf eine Weise, gegen die sein bewusstes Sträuben nicht ankam. Das verbissene Ringen zwischen Wahrheit und Täuschung ließ ihn erschöpft die Luft ausstoßen und so betrachtete er die Nymphe mit schwindender Beherrschung. Ihre angestrengte Haltung und der verlangende Blick verleiteten ihn zu dem Wunsch, sie gegen alles und jeden verteidigen zu wollen. Der Impuls zerrte an seinen Bedenken und überwältigte ihn fast, doch ihre Anspannung verflog und mit ihr sein Drang, sie schützend an sich zu ziehen. Als sie den Beutel nahm, ihn wieder verschloss und ihm entgegen streckte, hatte er sich soweit gefangen, dass er langsam den Kopf schütteln konnte.


    "Es ist nur ein Traum", entgegnete Ascan mit rauer Stimme, senkte die Hand von seiner Stirn und betrachtete den Leinensack, als hielte Kyleja etwas besonders Hässliches in den Händen. "Wirf ihn von mir aus über die Klippen. Ich werde ihn ja doch nicht los..."
    Was versuchte er sich eigentlich vorzumachen? Er war hier, weil Kyleja die Gnade ihrer Göttin zuteil geworden war. Hier galt nur, was Minaril gebot. Jede Logik an diesem Ort folgte nur ihren Gesetzen, das wurde ihm nun endlich klar. Ein Himmel, der keine Sonne besaß... ein Wald, der nicht existierte... ein Bann, der nicht lösbar war... Nichts hier war naturgetreu, verlässlich oder auch nur auf seiner Seite. Alles geschah, weil Kyleja und somit Minaril es so wollten und bei Emular... wie groß war seine Chance, wieder gehen zu können, bevor sie genau das von ihm bekommen hatten, was sie wollten?


    Ein neues Grollen mischte sich in das Tosen der Brandung und ließ ihn den Kopf zum Meer drehen. Finstere Wolken, höher als alle Türme Alaneyas zusammen, wölbten sich über dem Horizont auf und begannen sich wie eine träge Lawine aus Schwärze heran zu wälzen. Fahles Leuchten durchzuckte die brodelnde Masse.


    "Du hast dich also danach gesehnt, mich zu sehen...", begann Ascan in ruhigem Ton, verschränkte die Arme und sah vom aufziehenden Gewitter zu Kyleja zurück. "... und nun hast du mich gesehen. Aber das ist doch nicht alles, nicht wahr?" Der Geflügelte atmete bewusst tief durch und obwohl er ahnte, dass die Empfindung nicht aus ihm selbst stammte, genoss er den verlockenden Anblick der Schwarzhaarigen über alle Maßen. Mit diesen Kurven, die sich unter ihrer Kleidung abzeichneten, hätte sie ihm selbst ohne ein einziges Wort den Kopf verdrehen können, gestand er sich wehmütig ein. Das kühl schimmernde Licht auf ihrer weißen Haut ließ sie so rein wirken, dass sie fast zu strahlen schien. Er wusste, hätte Sel ihn nicht gewarnt, hätte er längst alle Bedenken über Bord geworfen, seine Hände an diese bildhübschen Wangen gelegt und ihre Lippen so innig und ungezügelt geküsst wie im Tempel... unwissend und trunken vor Seligkeit. Eine Vorstellung, die so bitter und gleichzeitig so süß war, dass sein begehrender Blick seine abweisende Haltung Lügen strafte.

  • Langsam nickte die Nymphe. Auch Ascan wusste, dass dies hier nicht wirklich geschah. Würden sie sich daran erinnern was hier im Traum geschehen war? Kyleja hoffte es inständig.
    „Ja, das ist es…“, bestätigte die Nymphe und lächelte wehleidig. „… leider“, fügte sie leise bei und senkte ihre Wimpern ein kleines bisschen als sie nun zu dem Geflügelten aufschaute.
    Der Blick, mit welchem der Syreniae den Beutel bedachte, welchen sie noch immer in den Händen hielt, hätte jeden das Fürchten gelehrt, dem er zu Teil geworden wäre. Er sagte sie solle den Beutel über die Klippen werfen.
    Überlegend wanderten die blauen Augen der Nymphen zwischen Ascan und dem Stoffbeutel hin und her. Sollte sie seinen Worten folgen?
    Langsam holte sie aus, doch gerade als der Stoff ihre Hand verlassen wollte um in hohem Bogen über die Klippen zu fliegen, erschien das Bild eines ganz ähnlichen Beutels vor ihren Augen. Ruckartig hielt sie in der Bewegung inne, den Blick leer auf das Meer gerichtet. Die bedrohlichen Wolken, welche sich zu schwarzen Bergen auftürmten und wie ein tosendes Unheil heranrollten, brachten die Schwarzhaarige zum Schaudern.
    Mit einem dumpfen, klirrenden Geräusch kam der Beutel des Syreniae neben ihren Füssen zu liegen. Nein, sie konnte es noch immer nicht.


    Langsam, so als hätte sie Angst ein Monster könne von unten über die Klippen springen, trat sie an den Rand der Klippen. Kleine Steinchen lösten sich unter ihren nackten Füssen und fielen die steilen Felswände hinunter in das wild schäumende Meer. Ihr Blick folgte den Felsstücken solange, bis diese unter der Wasseroberfläche verschwunden waren. Für einen winzigen Augenblick hätte die Nymphe schwören können, einen rötlichen Glanz auf den Schaumkronen tanzen zu sehen, ganz so als wolle das Meer sie sogar im Traum noch verhöhnen.
    „Unmöglich…“ murmelte sie und schüttelte den Kopf um die verwirrenden Bilder loszuwerden. Als sie sich bewusst wurde, wie nah sie an den tödlichen Kanten der Felsen stand, machte sie einen erschrockenen Satz zurück.
    Dabei drang, wie durch einen Schleier, die Stimme des Syreniae in ihr Bewusstsein und sie löste ihren Blick von den bedrohlichen Fluten.


    „Ja ich wollte dich sehen, aber nein, das ist tatsächlich nicht alles“, sie blickte den Weisshaarigen an, ein sanftes, verführerisches Lächeln auf den Lippen. Mit einem Schlag war sie wieder ganz die Nymphe, die sie schon seit Jahren war. Die Nymphe, die einem gutaussehenden Mann nicht lange widerstehen konnte, die sich nicht anmerken liess, was tief in ihrem Inneren vorging und die stets Herrin der Lage blieb, die sie selbst geschaffen hatte.
    Mit langsamen, wiegenden Schritten näherte sie sich dem Syreniae wieder an. Ihre Linke legte sich mit sanftem Druck auf seine verschränkten Arme, während die Fingerspitzen ihrer Rechten zärtlich die erhabene Linie seines Kiefers nachzeichneten.
    Er konnte noch so eine abweisende Haltung einnehmen, seine hungrigen Blicke sagten mehr als jedes Wort, das er an sie richtete.
    „Da ist noch etwas“, hauchte sie betörend. Mit einem bezaubernden Lächeln auf den vollen Lippen reckte sie sich ein wenig, so dass ihr süsser Atem das Gesicht des Syreniae streifte als sie weitersprach.
    „Ascan“, Ihre Lippen liebkosten seinen Namen auf eine sehr reizvolle Art und Weise, liessen ihn klingen als wäre es nicht nur sein Name sondern ein Wort, das sie eigens für ihn geschaffen hatte, ein Wort, welches sie hütete und verwahrte wie einen seltenen Schatz.
    „Das hier reicht mir nicht…“, begann sie in einem so sinnlichen Tonfall, wie sie ihn nur für ganz besondere Männer verwendete. „… ich will dich ausserhalb dieses Traumes sehen, dich berühren, deine Stimme hören“, verlangte sie und liess ihre Stimme dabei noch eine Nuance lieblicher klingen. Auch ohne ihren Duft konnte sie einen Mann betören, besonders wenn dieser bereits unter ihrem Bann stand.
    „Lass mich bei dir sein, egal was du tust – ich will dir helfen all deine Ziele zu erreichen. Möge Emular uns beiden seinen Segen schenken“, Ihre Lippen näherten sich seinem Gesicht immer weiter während sie sprach. Nur wenige Millimeter vor den seinen verharrte sie, dicht genug um ihn die prickelnde Wärme spüren zu lassen und doch nicht nah genug um ihre zarten Lippen bereits auf seinen zu spüren.


    Gespannt wartete Kyleja auf seine Reaktion, verharrte in dieser Position. Ihren warmen, weichen Körper so nah wie möglich an den des Syreniae geschmiegt, seine Wange mit ihren Fingern liebkosend, die Lippen nur einen Hauch von seinen entfernt. Ihre eigene, in ihr tobende Lust, das ureigene, nymphische Verlangen zumindest insoweit unter Kontrolle haltend, dass sie noch klar denken konnte.
    Er müsste sich nur eine Winzigkeit vorbeugen um ihre Lippen auf seinen zu spüren, um sie für unendliche Sekunden zu glücklichsten Nymphe zu machen. Um sein eigenes, durch ihren Bann verursachtes, glühend heisses Verlangen nach ihr zu stillen.
    „Ascan, lass mich auch in wachen Momenten an deiner Seite sein“, bat sie noch einmal und legte alles in ihre Stimme was sie an Sinnlichkeit, Verlangen und auch abhängiger Hilflosigkeit aufbringen konnte.

  • Als sie näher kam, setzte er einige langsame Schritte rückwärts und der verlangende Ausdruck in seinen Augen wich bedrohlicher Härte. Sein Rückzug, so verbissen er war, endete jedoch im selben Moment, in dem ihre Hände ihn erreichten. Sein Kinn hob sich unter dem Gleiten ihrer Finger und sein gesamter Körper streckte sich in dem Bemühen, dem wohligen Glühen zu entrinnen, das ihrer Berührung wie eine Spur zu folgen schien.
    Sie gewähren zu lassen, fiel ihm so leicht und gleichzeitig so unendlich schwer, dass er an seinem Verstand zu zweifeln begann. Er wollte, dass sie näher kam; dass ihr Begehren nur noch ihm und keinem anderen Mann jemals wieder galt; dass seine Hände in ihr nachtschwarzes Haar greifen und jede ihrer wohlgeformten Rundungen erforschen würden...
    Noch während sie weitersprach, sank sein Gesicht zu ihr hinab und sie empfing seinen Blick mit einem Lächeln, das jeden Versuch, sie weiterhin finster anzusehen, zunichte machte. Er hätte Sels Angebot nicht ausschlagen sollen, war sein letzter reuevoller Gedanke bevor der Atem der Nymphe sich in seinen mischte und sie seinen Namen wie ein seidenes Netz über ihn warf.
    Ihr Streicheln seiner Wange rann wie süßes Gift durch seinen Kopf. Er wusste noch immer, dass es eine Lüge war; dass ihre Lippen nicht wirklich zarter als Rosenknospen waren; dass ihr Lächeln und die Wärme ihres Körpers nur dazu dienten, seinen Widerstand zu brechen, doch wie könnte er ihren Worten nicht lauschen, die jeden Tropfen seines Blutes in Wallung versetzten? Wie könnte er sie nicht wollen?
    Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, sinnlicher als überhaupt möglich war und sie bot ihm ihre Hilfe, obwohl er sie mit keinem Wort darum gebeten hatte. Ganz im Gegenteil. Er hatte sie kalt abgewiesen und sogar bedroht. Doch Minaril hatte sie in ihrem göttlichen Verständnis zu ihm geführt und nun sandte sie ihnen abermals ihren Segen in Form eines gemeinsamen Traums... war er blind, das Schicksal nicht zu sehen, das sie aneinander band?


    Beim letzten Satz Kylejas rann ein Rascheln durch seine Federn und ihr zarter Mund vor seinem raubte ihm fast den Rest klaren Verstandes, den er sich zu bewahren versuchte.
    Was, wenn es kein Bann war... sondern mehr?
    "Ich...", brachte Ascan mit beschlagener Stimme über die Lippen, die immer noch dicht vor denen der Nymphe schwebten. "... ich weiß nicht..." Hunderte von Gedanken und keiner, der sich greifen lassen wollte. Er wollte sie küssen. Mit jeder Faser seines Körpers. Warum tat er es nicht?
    "Ky... ich muss zur Oberwelt", flüsterte er und schloss kurz die Augen, während der Drang, die letzte Bewegung zu tun, die erforderlich wäre, unerträglich wurde. "Schwöre... schwöre bei Minaril... bei allen Göttern... dass du mich gehen lässt."

  • In freudiger Erwartung, schloss die junge Nymphe die Augen. Genussvoll sog sie jeden Atemzug des Syreniae in sich auf, labte sich an diesem so angenehmen Prickeln auf ihrer Haut, welches sich von den Stellen an denen sie sich berührten über ihren ganzen Körper auszubreiten begann.
    Nun, endlich, würde sie seine süssen Lippen wieder auf den ihren spüren, seinen Atem trinken und von seinem betörend männlichen Duft trunken vor blinder Erregung in seinen Armen versinken.
    Mit einem verwirrten Flattern ihrer Augenlider, kehrte sie ein kleines Stück weit zurück in die Traumrealität dieses Treffens.


    Was hatte er gesagt? Er wollte zu Oberfläche und sie sollte schwören ihn gehen zu lassen?
    Aber wie konnte sie? Jetzt wo sie den Mann gefunden hatte, der sie als einziger in dieser Welt an sich binden konnte. Der Mann den sie mehr als jeden anderen zuvor besitzen, ihr eigen nennen wollte. Sie wollte seinen Geist, seine Seele, jede Faser seines Seins betören und sein Herz besitzen. Sie wollte, würde es hüten wie ihren Augapfel, ja das würde sie ihm bereits jetzt schwören. Aber ihm zu versprechen ihn ziehen zu lassen? Ihren Bann zu lösen und Minaril, alle Götter zu Zeugen dieses Schwurs zu machen – konnte sie das so einfach?


    Verwirrt blickte sie in die grauen Augen dieses Mannes der sie in einem einzigen Moment, inmitten eines Tempels, in dem sie sich so fremd fühlte wie sie sich auf ihrer ganzen Reise nicht gefühlt hatte, für sich gewonnen hatte, ihre Lust zu spielen, zu betören, zu besitzen… zu lieben geweckt hatte. Und ihr wurde bewusst dass sie ihm diesen Wunsch erfüllen würde. Niemals könnte sie ihn so sehr an sich binden als das er diesen Traum aufgab, diese Blicke so voller Wut und Enttäuschung würde sie von jedem ertragen, nur nicht von ihm.


    „Ascan…“ Ihre Stimme war noch immer nur ein Hauch, eine Hand die warm und weich über die Wange des Syreniae strich und durch sein weisses Haar fuhr.
    „Bei Minaril…. Bei Emular… ich schöre… dass ich dich ziehen lassen werde, wenn es an der Zeit dazu ist… bei allen Göttern… ich schwöre es“, flüsterte sie in den Wind, während sich eine einzige, einsame Träne aus ihrem Augenwinkel löste und sich einen Weg über ihre Wange bahnte.
    Und diese glitzernde Träne, benetzte die Lippen der Nymphe als sie sich streckte um die letzten Millimeter zwischen ihrer beider Lippen zu überwinden. Der salzige Geschmack dieser zarten Träne, die so viel mehr bedeutete als man ihr ansah, begleitete diesen sanften, beinahe keuschen Kuss der Nymphe.
    „Aber bitte Ascan, lass mich bis zu diesem Moment an deiner Seite sein… Ich werde dir helfen diesen Wunsch zu erfüllen…“ Ein durchdringender Blick aus dunkelblauen unergründlichen Augen bohrte sich in die stahlgrauen Irden des Geflügelten. Beinahe flehend sah die Schwarzhaarige ihr Gegenüber an. Ihre Lippen wieder nur Millimeter von denen des Raben entfernt. Noch immer glitzerte ein letzter Rest der Nässe ihrer Träne auf ihren Lippen und begleitete visuell den verführerischen Duft ihres Atems.

  • Es war ein Schwur unter den Augen Minarils. Ein heiliger Eid, der ihm seine Freiheit sichern sollte, doch die gelobenden Worte der Nymphe berührten kaum noch seinen Verstand. Ihr warmer Atem durchdrang seine Haarspitzen und umspielte sein Ohr so sinnlich, dass ihm pures Wohlgefühl die Lider schwer werden ließ. Dieses Mal versank er tief und kein logischer Sinn streckte sich mehr nach einem rettenden Halt aus, der ihn aus dem hypnotischen Zauber hätte ziehen können. Mit Kylejas Träne fiel seine letzte Selbstbeherrschung und Selcarias Warnung verlor sich in dem verliebten Rausch, der ihn mit sanftem Griff erfasste.


    Ihre zarten Lippen besiegelten die seidenweichen Bänder, die sich um das Herz des Syrenias legten. Das feine Salz auf ihnen schmeckte für ihn wie das Meer seiner Heimat, ihre tiefblauen Augen wurden zu seinem Nachthimmel. Er lauschte gebannt ihrem Wunsch, ihn bis zur Erfüllung seines Traums zu begleiten und erlag wehrlos dem eindringlichen Blick, mit dem sie ihm ihre Worte eingab. Dass ihre Lippen erneut dicht vor seinen schwebten, versetzte seinen Körper in gespannte Sehnsucht, die er nicht länger zu zügeln verstand.

    Das qualvolle Gewicht der Zurückhaltung einfach abschüttelnd, lösten sich Ascans Arme aus ihrer abweisenden Verschränkung. Während seine rechte Hand den formvollendeten Leib der Nymphe entlang strich und warm umschloss, sie begehrend fester an sich zog, legte sich seine andere an ihr Gesicht. Sein Daumen strich über ihre zarte Haut und sein Blick schwelgte in der edlen Weichheit ihrer Züge, dem verführerischen Glanz ihrer Lippen, bevor er sie mit einer Hingabe küsste, die er keiner anderen gegenüber jemals gezeigt hatte.


    Er schmeckte das warme Salz ihrer Träne und bemerkte die Lust, die seine Berührung auch in ihr weckte. Es riss ihn mit, sodass weder die Schatten, die sich aus dem Wald streckten, noch die tiefschwarzen Wolken, die in diesem Moment den hellen Himmel über ihnen verfinsterten, irgendeinen Unterschied machten.


    Ob wahre Liebe oder ein Bann... es war ihm gleich. Er wollte diese Frau und er würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, sollte es nötig sein, um sie auch jenseits dieses Traums bei sich zu wissen. Seine Rechte strich die weichen Wellen ihrer Haare hinab und kam an deren Spitzen zum Liegen, wo sie nur kurz verharrte, bevor er wieder fester zugriff.


    Ein krachendes Splittern zerriss den Moment und der Fels der Klippe vibrierte unter der Gewalt des Blitzes, der in den Wald einschlug. Erschrocken hob Ascan den Blick und unterbrach dabei den Kuss, der Kyleja und ihn verbunden hatte. Er musste blinzeln, um sich zu orientieren und den wohligen Schwindel zurück zu drängen, der ihn befallen hatte. Was er dann sah, ließ schlagartig das Blut aus seinem Gesicht weichen. Hohe Flammen züngelten aus den dunklen Wipfeln, so heiß, dass sie blau leuchteten, und ein Zischen wie von Hundert Schlangen mischte sie in den Wind, wo das Wasser der Bäume schlagartig in der höllischen Hitze verdampfte.

  • Mit einem wohligen Seufzen genoss Kyleja den Kuss des Syreniae. Jeder Millimeter ihrer Haut brannte auf eine angenehme, lustvolle Art und Weise, als die Hände des Geflügelten über ihren Körper fuhren.
    Alles fühlte sich so unglaublich echt und real an, beinahe so als wäre er wirklich und wahrhaftig bei ihr und nicht nur in ihrem Traum. Zwar wusste die Nymphe, dass Minarils Träume immer sehr echt und lebensnah wirkten und man manchmal gar nicht mitbekam, dass man sich in einem Traum befand, dennoch überraschte es sie, wie intensiv dieser Traum hier war.
    Ob das etwas zu bedeuten hatte?


    Erschrocken zuckte Kyleja zusammen, als ein Krachen wie ein Messer durch die Luft schnitt. Instinktiv drückte sich ihr zierlicher Körper dichter an den des Syreniae.
    Ebenso wie Ascan, wandte sie ihren Kopf in Richtung des Waldes, ihrer Heimat. Für einen Moment flackerte Panik in ihren Augen, so wie die Flammen welche sich in ihren blauen Irden spiegelten. Malum, ihre Schwester und ihre Mutter befanden sich in diesem Wald.
    „Bei Minaril…“ stiess sie atemlos hervor.
    Bei dem Gedanken daran wie die drei bei lebendigem Leib verbrannten, begann die Nymphe am ganzen Leib zu zittern.
    Sie musste sie retten bevor es zu spät würde, durchzuckte es sie wie ein Blitz und die Schwarzhaarige machte sich von dem Syreniae los um einige Schritte auf den Wald und die lodernden Flammen zu zumachen. Nicht einmal einen Gedanken verlor sie daran, dass dies hier unmöglich von Minaril beabsichtigt sein konnte.
    Die Hitze der Flammen schlug ihr entgegen, liess ihre blasse Haut in einem orangeroten Licht leuchten und brannte in ihrer Nase als sie einatmete. Den Syreniae hinter sich nahm sie nur noch am Rande wahr, viel zu schwer wog die Sorge um Malum und ihre Familie.

  • Er wusste sofort, dass es seine Schuld war. Dieses Mal war es wieder das Feuer... und mit dem Feuer... Ascan bemerkte das Zittern, das Kylejas Körper ergriff und die Sorge um sie zog seinen Blick vom Flammenmeer fort. Die Furcht, die er in ihren Augen sah, war dieselbe, die er selbst für gewöhnlich empfand, doch dieses Mal war alles anders. Er wusste, dass es nicht real war. Die Aufrufung Minarils versetzte ihm einen Stich und schon wollte er das Gesicht der Nymphe zu sich drehen, um ihr zu erklären, dass nicht ihre Göttin für diesen Vorfall verantwortlich war, da riss Kyleja sich aus seinen Armen los und bewegte sich auf den brennenden Wald zu.


    Die Erkenntnis, dass sie sich ihm dadurch näherte, ließ Ascans Blut förmlich gefrieren. "Ky, nicht! Bleib stehen!" schallte es aus seiner Brust. Seine Stimme schwang sich über das tosende Knacken hinweg mit dem sich das Feuer unbarmherzig seinen Weg fraß, dennoch war er nicht sicher, ob sie ihn hörte. Schon folgte er ihrer Gestalt, die sich wie in Trance zu bewegen schien, und sein harter Griff schloss sich um ihre Schulter, während die Hitze auf seinem Gesicht glomm. Er zog sie zu sich herum, um ihren Blick vom Wald zu lösen und die Besorgnis legte einen Schatten über seine Züge. Seine andere Hand strich zärtlich über ihre blasse Wange. Hatte sie vergessen, dass es ein Traum war...?


    Die Fähigkeit, ihre Aufmerksamkeit durch seine Fähigkeit zu bannen, stand ihm nicht zur Verfügung, sodass er sich mit normalen Worten behelfen musste. "Sieh mich an, Ky", begann er ruhig und eindringlich. "Das passiert wegen mir. Bitte sag mir, wo ich dich finden kann - und dann geh! Verlass diesen Alptraum!"


    Der Gedanke, dass er sie sehen könnte... sie holen könnte wie er es jedes Mal bei ihm tun wollte, ließ kalten Schweiß auf Ascans Stirn ausbrechen. Er könnte sie nicht verteidigen. Nicht gegen ihn. Niemand könnte das. Sie musste sofort gehen!

  • Es war nur ein leises Murmeln, nicht weniger auffällig als das Plätschern eines Flusses wenn man schon eine Weile neben ihm herlief. Wie durch Watte gingen die Worte Ascans in ihr vorbei.
    Noch immer starrte die Schwarzhaarige auf den Wald und das Flammen-Inferno welches sich ihr bot.Erst als dessen Hand sie hart an der Schulter packte nahm Kyleja den Syreniae mit einem heftigen Zusammenzucken wahr. Ihr Blick fand seine Augen während sie sich, vollkommen unfähig sich zu wehren, von ihm umdrehen liess.
    Sein sorgenvoller Blick machte ihr bewusst, dass sie sich beinahe in die Flammen gestürzt hatte. Seine Hand an ihrer Wange hatte etwas Beruhigendes, Tröstliches. Und dennoch… Die Angst, beinahe schon Panik konnte es nicht aus ihren Augen tilgen.


    Seine eindringlichen Worte verwirrten sie, sorgten dafür, dass sich ihre Stirn in Falten legte und die Gedanken dahinter zu rasen begannen. Was meinte er damit, dass dies hier wegen ihm passierte?Er wollte, dass sie ging? Wie sollte sie diesen Traum verlassen, aus eigener Kraft, das hier war Minarils Werk um ihr Gebet zu erfüllen. Unverständnis lag auf ihrem Gesicht, war mindestens so deutlich wie die Sorge auf Ascans Gesicht zu lesen war. Ihr fiel auf, dass er auf eine Antwort zu warten schien.
    Nur mit Mühe brachte sie ihre Lippen dazu Worte zu formen.
    „Wo du mich finden kannst?“, es war nicht mehr als ein Murmeln, was sie zustande brachte. Sie betrachtete den Mann vor sich. In diesem Moment sah sie ihn, wie jede andere Frau ihn sehen würde. Keines ihrer nymphischen Verlangen wollte sich einstellen, viel zu stark nagte die Situation an ihr. In ihrer Angst, ihrem Schockzustand hatte die Nymphe vollkommen ausgeblendet, dass dies hier eigentlich nicht real, das es ein Traum war. Nicht einmal als der Rabe das Wort Traum aussprach kam diese Erkenntnis.
    „Den Traum verlassen?“, fragend, zweifelnd musterte sie den Geflügelten, dessen Gesicht im Schein des Feuers glühte. Als ein gellender Schrei aus den Tiefen des Waldes erklang, fuhr ihr Kopf ruckartig zu den Flammen herum. Diese Stimme hatte sich angehört wie Ika.
    Plötzlich kam Leben in den Körper der Nymphe und sie versuchte die Hand des Syreniae abzuschütteln.
    „Nein Ascan! Ich kann nicht weg… ich muss… sie sind noch dort…“, ihre Augen suchten fieberhaft den Waldrand ab während sie sprach. „… ich muss ihnen helfen“ Ihre Stimme zitterte gefährlich als sie sich vorstelle wie ihre Mutter und Ika, Malum und die treue Luna den Flammen zum Opfer fielen.

  • Durch seinen Appell erreichte Ascan nur, dass sich Verwirrung in die Angst auf ihrem Gesicht mischte. Ihre hilflosen Fragen ließen ihn die Zähne zusammenbeißen. Natürlich konnte sie das nicht verstehen. Sie hatte Minaril um einen Traum mit ihm gebeten, doch alles, was er mit ihr teilen konnte, waren seine Alpträume... und je länger sie blieb, desto schlimmer wurde es.
    Der gellende Schrei aus dem Wald war auch für ihn deutlich zu hören. Vielleicht ein Hilferuf, vielleicht ein Todesschrei; es berührte ihn nicht. Ganz anders verhielt es sich bei der Nymphe, die sich plötzlich zu winden begann. Ihre Worte ergaben keinen Sinn und wen auch immer sie retten wollte, dem war hier nicht zu helfen.
    Die Bewegungen der Schwarzhaarigen waren geschickt. Womöglich wäre es ihr sogar gelungen, sich zu befreien, hätte Ascan nicht auch ihre andere Schulter ergriffen und sie mit purer Kraft zurückgehalten. "Du musst zu dir kommen, Kyleja!" Fast ebenso so groß wie der Drang, sie zu schütteln, war seine Sorge, ihr dadurch weh zu tun. Sie wirkte so zerbrechlich in ihrer Verzweiflung, dass er kurz davor war, in ihre Illusion einzutauchen und ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen.
    Einzig das Wissen, dass er kommen würde, was auch immer sie taten, und dass sein Erscheinen das Ende ihres gemeinsamen Traums bedeuten würde, bewahrte ihn davor, sich von der Panik in ihren schönen Augen mitreißen zu lassen. Was sollte er tun, um sie zu Vernunft zu bringen? Würde sie ihn verstehen und sich daran erinnern, wenn er ihr jetzt einen Treffpunkt nannte?


    Im roten Widerschein der Hitze wand sich seine Kleidung schwer um seine Glieder und mehr als eine weiße Strähne klebte inzwischen hartnäckig auf seinem nassen Gesicht. Das laute Knistern und Rascheln des Feuers hallte wie Hohngelächter in seinen Ohren. Selbst in seinen Träumen schaffte er es, seinem eigenen Glück im Weg zu stehen. Dieses verdammte Feuer war sein Werk... sein Fluch, und weil er nicht wusste, was er dagegen unternehmen konnte, war es Kyleja, die darunter litt. Das sanfte Licht, das sie in seinen Traum gebracht hatte, drohte in der Gewalt seiner inneren Dunkelheit zu erlöschen... und er konnte sie nur festhalten in der verzweifelten Hoffnung, ihren Funken nicht gänzlich zu verlieren.

  • Als sich die Hand des Syreniae schmerzhaft auch um ihre zweite Schulter schloss, funkelte für einen kurzen Moment ehrlicher Zorn in den Augen der Nymphe. Wie konnte er es wagen sie davon abzuhalten ihre Familie, alles was sie liebte, entweder zu retten oder gemeinsam damit zu verbrennen.
    Die Worte des Syreniae, so durchdringend und auf eine subtile Art flehend, reizten einen Punkt in ihrer Erinnerung. Sie sah sich vor ihrem geistige Auge, in Nir’alenar auf dem Bett, wie sie ein Gebet an Minaril sprach und sie darum bat ihr ein Treffen mit Ascan in den Traum zu schicken.
    Das hier war dieser Traum.
    Plötzlich ergab alles einen Sinn und die Panik wich allmählich aus ihren Zügen. Egal was hier gerade geschah, ihrer Familie, besser gesagt Ika und Luna, würde dabei nichts zustossen. Erleichterung liess sie ihre verkrampfte Haltung aufgeben und automatisch schmiegte sie sich wieder dichter an den Körper des Syreniae.


    Doch wenn des hier ein Traum Minarils war… Sie wandte ihren Blick zu den Flammen… Nein, das war unmöglich das Werk ihrer Göttin. Folglich musste es etwas mit Ascan zu tun haben. Sagte er nicht bereits im Tempel etwas über seine Träume?
    Nun wieder vollkommen Herrin ihrer Sinne, hob sie den Kopf und blickte Ascan in das verschwitzte Gesicht. Er wollte einen Treffpunkt hören. Ein Teil von ihr freute sich darüber, dass er sie tatsächlich wiedertreffen wollte, während ein anderer sich fragte weshalb er sie unbedingt so schnell wie möglich aus diesem Traum schaffen wollte.
    „Du kannst mich zum Mittag auf der Brücke bei Eleria Anuriels Turm treffen… aber...“, sie hielt einen Atemzug lang inne und machte eine ausladende Bewegung mit ihrer Hand in Richtung des Waldes.„Ascan, was passiert hier und warum willst du, dass ich gehe?“, fragte sie und musterte forschend das Gesicht des Geflügelten. Der rot-glühende Schein des Feuers liess seine Narbe bedrohlich schimmern.

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