Es war noch zu früh am Morgen für die Kinder und auch die restliche Stadt begann gerade erst zu erwachen. Nur gelegentlich hörte man das Geräusch aufklappender Fensterläden, mit denen das schwache erste Licht des Tages begrüßt wurde und von irgendwoher wehte der Duft von frischem Backwerk heran. Der Hinterhof des Waisenhauses lag still und verlassen da, sodass niemandem der Schatten auffiel, der über ihn hinweg glitt. Niemand bemerkte Ascan, als dieser mit einem letzten, rauschenden Schlag seiner Flügel auf den zerbröselnden Dachschindeln aufsetzte und durch die schräge Luke zum Dachboden hinein stieg. Niemand bis auf Ereike.
Die siebenjährige Dai'Vaar hatte in einem Winkel des Hofs heimlich vertrocknende Grasbüschel in Brand gesteckt. Sofort hatte sie den Blick gehoben und den Hals gereckt. Der geflochtene Zopf, der die schwarze Feder in ihrem Haar hielt, sah reichlich mitgenommen aus, doch das ließ sich kaum vermeiden, weil sie es nicht lassen konnte, alle paar Minuten nach ihrem neuesten Schatz zu tasten.
Es war kaum verwunderlich, dass sie kurz darauf in das Haus und die Treppe hinauf wieselte. Schnell war auch die Stiege zum Dachboden erklommen und es quietschte nur ganz leise als sie die Holzluke hochhob und durch den schmalen Spalt spähte.
Sie wusste, dass er hier sein musste. Der Dachboden war zur Hälfte leer geräumt und es gab kaum eine Möglichkeit so große Flügel hinter dem verbliebenem Gerümpel zu verstecken. Wie auf der Jagd nach einem scheuen Tier, atmete sie geräuschlos durch den Mund und entdeckte den Geflügelten kurz darauf auf einer Ansammlung von Matten und Decken, die Damiel in der Zwischenzeit nach oben gebracht haben musste. Dort im schattigen Teil des Dachbodens hatten die dunklen Schwingen seine liegende Gestalt gut verborgen. Ereike war stolz auf ihre scharfen Augen und hob die Luke nun vollständig an. Auf die Dielen schlüpfend, legte sie die Hände auf dem Rücken ineinander und wanderte auf den Syrenia zu.
Warum lag er dort? Er konnte unmöglich schlafen wollen, wo es doch gerade erst Morgen geworden war. Die Nacht war zum Schlafen da und der Tag zum Wachsein. Das wusste doch jeder. Oder wusste er etwas, das kein anderer wusste? War es ein Geheimnis?
Ereike hatte gerade einen weiteren Schritt gesetzt, da knirschte eine Holzleiste so erbärmlich unter ihrem Fuß, dass es dem Mädchen durch Mark und Bein fuhr. Sie erstarrte mit angehaltenem Atem, doch es half nichts mehr. Der Mann mit den Flügeln bewegte sich und seine Federn legten sich raschelnd auf die andere Seite als er den Oberkörper drehte und sie aus kalten grauen Augen ansah.
Das Mädchen sprang zurück und grinste ertappt. "Äh... guten Morgen!"
Ascan schloss die Augen, seufzte innerlich und zählte in Gedanken bis Drei. "Geh, ich will schlafen." Das hatte ihm noch gefehlt. Seine Hand tastete zur Seite. Die Decke, die er über den Beutel mit dem Gold gebreitet hatte, war an Ort und Stelle. Genau wie dessen Form unverändert.
"Wieso willst du schlafen? Bist du müde? Was hast du gemacht? Warst du die ganze Nacht wach? Ich hab dich nämlich eben erst kommen sehen. Ich war nämlich auch wach. Du darfst aber nicht fragen, wieso. Das ist ein Geheimnis." Sie hielt kurz die Klappe. "Aber wenn du willst, erzähl ich's dir. Eigentlich verrate ich nie irgendwelche Geheimnisse, aber wenn du..."
"Geh!" donnerte seine Stimme über den Dachboden und fegte das Lächeln aus dem Gesicht des Mädchens. Er sah sie blass werden und den Mund schließen, dann floh sie so hastig zur Luke und knallte sie hinter sich zu, dass ihm sein Ausbruch bereits wieder leid tat. Verdammt, sie war nur ein Kind. Es war falsch, seine Wut über Sel und seine Probleme blind an ihr auszulassen, selbst wenn sie ihn zum ungünstigsten aller Zeitpunkte genervt hatte.
Die drängende Unrast war kaum besser geworden und Ascan glaubte nicht einmal daran, dass er überhaupt Schlaf finden würde. Noch während er sich mit dem Gedanken quälte, dass sich nun stundenlang dieselben endlosen Gedanken in seinem Verstand drehen würden, war ihm, als lege sich ein unsichtbarer warmer Schleier über seinen Körper. Sein Kopf sank auf die Seite und nur einen Moment später schlief er bereits so fest, dass nicht einmal eine ganzes Orchester knirschender Holzleisten ihn noch hätte wecken können.