Obwohl Ascan sie genau so sicher hielt, wie zuvor auch, Silene ihren Arm eng um die Schulter des Geflügelten legte und auch diesmal ihre Hände fest ineinander griffen, waren die Mühen des Aufstiegs mehr als deutlich spürbar. Das helle Klirren eines jeden Windspiels in Silenes Garten, klang noch lange in ihren Ohren nach, auch dann, als Ascan schließlich die gewünschte Flughöhe erreicht hatte und der Flugwind ihr erneut das helle Haar durchwühlte.
Zum Greifen nahe flohen die Dächer unter ihnen fort und obwohl Silene keine Furcht verspürte, fragte sie sich, warum Ascan den Abstand zu den in der Mittagshitze glühenden Dachschindeln so kurz gewählt hatte. Kaum hatten sie das Ufer erreicht, verstand sie jedoch und sie bemerkte, wie die kühlen Aufwinde über dem Fluss ihnen einen ruhigen, freien Sinkflug anboten.
Silene zügelte sich, was die Interpretation Ascans Wortwahl anbelangte, als er den Gesprächsfaden wieder aufnahm. Ein aufmerksamer Seitenblick unter seine Kapuze und auf das von Schweiß benetzte Gesicht genügte, um die Anstrengung zu verstehen, welche Ascan für das Starten vom Erdboden aus geleistet hatte. Jedes Einatmen trug den Geruch von Salz auf warmer Haut in sich. Erstarrend richtete sich Silenes Blick auf das glitzernde Vorbeigleiten des Dessibars hinab, wo sie sich alleine auf dessen Glanz und Rauschen fokussierte, während sich eine Antwort auf ihre Zunge legte.
"Wie viele andere, befolge auch ich einige einfache Grundprinzipien, die mir ein friedvolles, sinnhaftes Zusammenleben mit anderen Wesen ermöglichen.", begann die Seherin und verstummte für einen Augenblick, in welchem das Rauschen um sie herum die Überhand gewann, ehe ihre eiskalte Stimme es wieder durchbohrte. "Es erscheint mir logisch, Verstöße gegen diese … Regeln zu vermeiden, denn auch wenn es keine Schuldgefühle gibt, die mich um den Verstand bringen können, so ist mir Schuldbewusstsein keineswegs fremd.", sprach sie mit ihrer unberührten Stimme, bedacht darauf, ihre Worte möglichst deutlich zu wählen. "Es ist zu vermeiden. Nichts liegt mir ferner, als Schaden zu verursachen."
Vor ihren Augen verschmolzen die vorbeirauschenden Wellen zu einem komplexen Muster, das ihren Blick in die Ferne lenkte. Ohne, dass sie es hätte steuern können, erinnerte sich die Seherin an die größte Verfehlung ihres Lebens, klar und deutlich, so wie sie diese für alle Zeit sehen würde, bis sie eines Tages ihren letzten Atemzug tun würde. Es brachte ihr Denken zuweilen noch heute in bedrohliches Ungleichgewicht, es nagte am moralische Grundgerüst ihr Welt, unaufhörlich wie die Macht der Gezeiten. Es war ein dunkler Tag gewesen, der unter eine dunklen Zeichen gestanden hatte.
Es würde niemals wieder geschehen. Mühsam schüttelte sie diese zehrenden Erinnerungen ab und richtete den Blick geradeaus, auf ihr Ziel in der flirrenden Mittagsluft. Einige Möwen wollten ihren Weg kreuzen, besahen sich aus neugierigen, dunklen Vogelaugen diese seltenen Gäste in ihrem Luftraum, doch sie drehten ab, bevor sie wirklich in ihre Nähe kommen konnten.
"Ihr mögt Euch fragen, was mir an einem Leben mit einem reinen Gewissen gelegen ist … doch Ihr könnt die Welt nicht sehen, wie ich sie sehe, Ascan, und daher ist es wohl vergebens Euch zu beschreiben, wie es für eine Valisar ist, mit einer untilgbaren Schuld zu leben."
Der Blick der Valisar war leer, als sie ihn anhob, mit verengten Augen nach vorne sah und versuchte, ihr Ziel am Horizont zu erkennen. Silene erinnerte sich daran, den Alten Hafen schon einmal besucht zu haben. Sie näherten sich rasch dem Hafenbecken mit seinen zahlreichen, verfallenden Schiffen und bald würden sie auch das schrille Kreischen der Möwen weit hinter sich lassen. Es gab zwischen den modernen Wracks schließlich nichts, was eine Möwe begehrte, und so hing auch zu belebten Stunden stets eine eigenartige Stille über diesem Ort.