Unberührt beobachtete Silene die Illusionen, welche der Geist des Schiffes um sie herum erschuf. Der Sturmwind der Erinnerung umwehte sie, zerrte kalt an ihnen und brachte den salzigen Geruch der Seeluft mit sich. Der Kapitän ließ die Valisar und den Syrenia an einer mächtigen Erinnerung teilhaben, die sich tief in dessen Gedächtnis eingegraben hatte, es durchweg beherrschte und sein gesamtes Wesen bestimmte. Sie wollte neben ihn an die Reling treten, einen Blick über die Brüstung in die tobenden schwarzen Massen werfen – doch der Geist gewährte ihr keinen weiteren Blick und Silene wusste nicht, ob es vor Schmerz und Bedauern war, oder aus Reue und Schuld.
Vier, fünf seiner Männer bedarf es, um ihn vom splitternden Geländer fort zu zerren. Ein schrecklicher Laut, wie man ihn kaum aus dem Mund eines Menschen erwarten würde zeriss die Szene wie die Blitze in den dunklen Wolkenbergen um ihn herum. Man sah der schemenhaften Gestalt förmlich an, dass er sich viel lieber in die Fluten gestürzt hätte, als sich in die trügerische Sicherheit des Schiffsbauches zu retten.
Hell und stolz tanzte die Gischtfalke auf den Wogen, doch bis auf einen letzten waren alle ihre Masten waren zerborsten und die Segel vom Sturm fortgerissen. Mit letzter Kraft gelang es den Matrosen, den tobenden Mann vom Deck zu schleppen.
„Delinea.“, flüsterte die gebrochene Stimme des Kapitäns, halb zornig, halb verzweifelt. „Mein kleines, liebes Mädchen. Wenn ich es vermocht hätte, hätte ich ihr die Sterne über der Kuppel gestohlen, nach denen schon die Alten navigierten. Doch ich vermochte es nicht einmal, sie sicher nach Hause zu bringen.“
„Geschäfte hatten mich Richtung Nir'alenar geführt. Delinea hatte so lange gebettelt, ich möge sie mitnehmen, bis sie schließlich mein Herz erweicht hatte und ich es ihr versprach. Ihre Mutter war selbstverständlich voller Sorge, sträubte sich, sie mit mir zur See fahren zu lassen … doch Delinea hatte ihre Mittel und Wege unseren Willen zu beugen. Man konnte ihr nur schwer einen Wunsch verwehren. Sie wollte die Nixen sehen, die in den Gewässern vor der Stadt lebten. Sie sprach von den wundersamen Bauwerken der alten Stadt, von all den Dingen, von denen sie gelesen hatte. Es versprach eine kurzweilige, rasche Seereise von Rosandrié aus zu werden ...“
Der Geist war verstummt und es blieb nur das Knarren, das Rauschen und das Dröhnen, wenn eine Welle den Bug traf und sich über das Deck ergoss. In Silenes Augen spiegelte sich das unwirkliche Schauspiel, doch es schien keine Regung in ihr hervorzurufen. Dennoch erinnerte sie Erzählung des Kapitäns an etwas, das auch sie nicht losließ, etwas, das sie selbst wie ein Fluch verfolgte und das sie bis an ihren letzten Tag nicht loslassen würde. Die Seherin schloss für einen kurzen Moment die Augen und suchte nach den richtigen Worten.
„Ich verstehe Euch.“, sprach Silene leise und dennoch fest entschlossen. Natürlich konnte sie nicht nachfühlen, wie es sein musste, einen solchen Verlust zu erleiden, eine solche Schuld zu tragen, doch sie verstand es. „Es gibt Dinge, die niemals verziehen werden können.“
„Ihr Name ist Ereike.“ Die Valisar sah das Mädchen an und musterte deren erstarrte Gesichtszüge genau, dann sah sie aus dem Augenwinkel zu Ascan hinüber. „Sie wird vermisst und sie wird geliebt. Wenn ihr etwas zustoßen würde, gäbe es viele, die den gleichen Schmerz fühlen würden wie Ihr es tut. Die ihre Pflicht verletzt sehen würden, für dieses unschuldige Leben zu sorgen. Dadurch wird Eure Schuld nicht geringer und Euer Fluch nicht von Euch genommen, Kapitän der Gischtfalke.“