Zur Goldenen Schatulle

  • „Wahrheiten…“, schmunzelte Ascan. „Wo sich die Sinne doch viel williger von den Lügen verführen lassen.“
    Ein feines Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt, als er seine Gesprächspartnerin ein weiteres Mal direkt ansah. Ascan trat vom Verkaufstisch zurück. Der Sylph bewegte sich ruhig und doch schattengleich durch den Raum, verweilte nie lange an einer Stelle, sondern schien in der Ruhe des Betrachtens bereits zum nächsten Gegenstand überzugehen.


    Tiefer in einer der Vitrinen lag ein aufgeschlagenes Buch mit einer fast seitengroßen Federkielzeichnung. Stumm ging Ascan vor der Auslage in die Hocke und atmete den Duft der uralten Seiten, die vielleicht…
    Ein faszinierender Gedanke...


    Er stützte sich mit einer Hand am Boden ab, neigte sich weiter zu dem Buch, nur um sich in der gleichen Bewegung aufzurichten und einige Schritte rückwärts vor die Karte zu treten, die an der Raumseite aufgespannt war. Die Karte schien noch nicht sehr alt. Die Farben strahlten rein und kraftvoll.


    Ascans schimmernde Augen wanderten einen Weg ab, den nur sie sehen konnten.

  • Ohne ein Wort ließ sie ihn gehen, ließ ihn sich umsehen. Er konnte, nun, da er ihr den Rücken zugewendet hatte, nicht mehr sehen, was sie tat- wohl aber hören.
    Ihre Kleidung raschelte, als sie sich bewegte, und ihre Schritte ließen den alten Dielenboden knarren. Sie ging quer durch den halben Raum zum Tresen und kramte dort für einige Augenblicke leise herum. Dann näherte sie sich ihrem Kunden wieder, aber ohne jegliche Hast und auf eine geschmeidige Art und Weise, die eine gewisse Körperbeherrschung preisgab.


    Ihre Augen, dunkel und ruhig, sahen ihn an, wie er da kniete und das Buch betrachtete. Etwas Versonnenes kam auf ihre Lippen, ein durchaus liebenswertes, freundliches Lächeln. Sie wollte ihn nicht stören, so gedankenversunken wie er aussah. Ihre Hand glitt über einen Gegenstand auf dem Tisch hinter ihm. Ein leises Geräusch von klickendem Metall wie dem eines kleinen Verschlusses legte sich über die Stille. Dann erhob sich eine sanfte Melodie in den Raum, ohne dabei die Stille auf erschreckende Art zu durchbrechen. Vielmehr wie ein lieblicher Geruch breitete sie sich aus. Es war eine kleine Melodie, die eindeutig von so etwas wie einer Spieluhr kommen musste, die wohl hinter Ascan stand...

  • Zaghaft waren die Klänge, die den Sylphen aus seinen Gedanken hervor lockten. Die Melodie schien die Luft im Raum für einen Moment in Bewegung zu versetzen und Ascan atmete die Luftveränderung dankbar, geradezu genussvoll.
    Erst nachdem die Melodie ihren Lauf vollendet hatte, drehte er sich um. Seine Neugier, was den Ursprung der Musik betraf, war geweckt. Die kleine Box wirkte auf den ersten Blick wie ein simpler Aufbewahrungsort für Nichtigkeiten, die Menschen gern anzusammeln pflegten. Dass ihr solch klare Klänge entschlüpfen, machte sie umso interessanter.
    „Ihr scheint einen großen Wert auf kleine Wunder zu legen“, sprach Ascan und trat näher an die Frau und ihren unscheinbaren Schatz. Die Melodie spielte fort und fort und verströmte Ruhe… wenn nicht gar eine Spur von Seligkeit.
    Seine Hand legte sich neben die Spieluhr. „Warum zeigt ihr mir das?“ fragte er leise.

  • Diese Melodie, diese einfache kleine Melodie, die aus nur wenigen Tönen bestand und ein wenig blechern aus der Spieluhr gekommen war, hatte die Stimmung verändert, das war sofort zu spüren. Vielleicht lag es daran, dass sie einem Schlaflied nachempfunden zu sein schien, aber es war ruhig, beinahe friedlich geworden.


    "Ich dachte, es gefällt Euch vielleicht. Ihr wirktet gerade... so angenehm verloren in Euren Gedanken. Ich fand einfach, dass diese Melodie zum Augenblick passte." erklärte sie mit gedämpfter Stimme. "Außerdem mag ich dieses Liedchen selbst sehr gerne. Diese kleine Spieluhr ist noch nicht lange in meinem Besitz, aber sie erinnert mich an etwas, das ich früher einmal besessen habe, vor langer Zeit..." Sie blinzelte ein paar Mal und räusperte sich dann leise. "Entschuldigt, ich schweife ab. Und ich wollte Euch ganz sicher nicht beim lesen stören."


    Mit diesen Worten setzte sie ein versöhnliches Lächeln auf und ihre schlanken Finger zogen die Spieluhr erneut auf.

  • Er beobachtete sie, als sie in einem Teil ihrer Vergangenheit zu versinken schien.


    „…es bedarf keiner Entschuldigung“, schüttelte er den Kopf, während sich die Klänge ein weiteres Mal in die Luft mischten. Die Mechanik, abermals angetrieben, tat ihre Pflicht, schlug die Töne, reihte die Abstände, erlog sich geschickt eine Seele, die sie niemals besitzen konnte.


    Ascan wandte den Blick von dem Gerät. Sein Atem wurde flacher. Die Schatten rückten näher, pressten die Luft immer spürbarer um seinen Leib zusammen, gebunden von dem unbewegten Klangwerk.
    „Das Buch mit der Zeichnung“, sprach er mit schal gewordener Stimme. „…könnt ihr es mir nach draußen bringen? Die Luft hier drin….“ Mehr erklärte er nicht, sondern nickte ihr noch einmal zu.
    „…entschuldigt.“
    Der Sylph trat zurück und verließ das Geschäft festen Schrittes, um es nicht vollständig einer Flucht gleich werden zu lassen. Das Licht war noch etwas schwächer geworden. Ascan lehnte sich an die Hauswand ein Stück neben der Tür, legte den Kopf an die Fassade und schloss die Augen, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen.
    Seine Fäuste ballten sich hart.

  • Ein wenig verdutzt sah sie ihm nach. Auch nach so vielen Jahren in diesem Beruf konnte einem immer wieder Neues passieren! Tamar verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Sie sah das Buch an, von dem er gesprochen hatte, und wollte danach greifen. Plötzlich hielt sie inne, drehte sich um und ging schnurstracks zum Tresen. Aus einer Schublade holte sie etwas heraus, das in ihrer Kleidung verschwand. Dann ging sie zur Vitrine und nahm das Buch an sich.


    Tamar schob die Hautür auf und sah sich nach dem Fremden um. Das Buch hatte sie an ihre linke Körperseite gepresst und hielt es mit dem Arm fest. Sie ging zu ihm hin. Für einen Moment schien sie zu zögern, dann aber streckte sie vorsichtig ihre rechte Hand nach ihm aus und legte sie sanft auf seine Schulter. "Alles in Ordnung?" fragte sie ernst.

  • Durch den schweren Stoff wog die Berührung ihrer Hand kaum etwas und wäre das Bewusstsein um die Nähe nicht zu ungewohnt gewesen, hätte der Sylph es vielleicht nicht einmal wahrgenommen.
    „Nur eine… unliebsame Eigenart.“ Ascan öffnete die Augen und wandte ihr den Kopf zu, mit seinem Blick ihrem Arm zurückfolgend. „Nichts, das Euch Sorge bereiten muss.“
    Sie trug das Buch bei sich.
    Ascan streckte auffordernd eine Hand aus, auf dass sie es ihm geben würde. Aus dem Augenwinkel verfolgte er derweil das Geschehen auf der Straße. Einige Kinder rannten lachend an ihnen vorbei und ein Karren auf der Straße knatterte so voll beladen, dass man meinen konnte, die Achsen müssten ihm jeden Moment brechen.
    Eine Frau hängte Wäsche aus dem Fenster, doch das dünne Seidentuch würde sie wohl an den nächsten Windstoß verlieren.

  • Für einen Moment stand sie reaktionslos da, nachdem er geantwortet hatte. Sie blinzelte. Dann zog sie mit der freien Hand das Buch unter ihrem Arm hervor und hielt es ihm langsam entgegen.
    Tamar sah ihn direkt und wesentlich kritischer als zuvor an. Sie schien ein gewisses Unbehagen dabei zu empfinden, mit kostbarer Ware vor ihrem Haus herumzustehen, noch dazu mit einem Fremden, dessen Aufmachung nicht gerade die vertrauenswürdigste war. Auch Ascan musste dieses Unbehagen auffallen, so wie sie ihn ansah.
    Kurz bevor das Buch seine Hand berührte, hielt sie inne. Nein, wenn er es sehen wollte, dann musste er es sich schon selbst holen. Ihr Blick wirkte nun ein wenig herausfordernd, so als wolle sie testen, ob er ihr Vertrauen verdient hatte.

  • Ascan nahm ihr das Buch aus der Hand und schlug es an einer zufälligen Stelle auf. Die alten Seiten knisterten, als er einige Male umblätterte. „Ihr müsst sehr von euren Fähigkeiten überzeugt sein“, sagte er schließlich beim Betrachten einer weiteren Zeichnung.


    Knapp unter dem Rand der Kapuze, wanderte sein Blick zu ihr hinüber. „Ein Messer?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Das werdet ihr… hoffentlich nicht geglaubt haben. Eine Pistole, wenn ihr Euer Geschäft länger zu führen gedenkt…“
    Seine Worte waren neutral. Sie entsprachen weder Kritik noch Lob. Er lächelte auf undeutbare Weise und blätterte zur nächsten Seite um. „Die Kalligraphien sind nicht ganz so alt, wie ich gehofft hatte, aber einige von ihnen könnten Kopien darstellen… Leider finden sich nur so selten echte Schriftstücke aus Niel'Anor.“


    Plötzlich blickte er zur Straße. Ladung stürzte polternd von einem der Karren. Einiges von dem Gemüse kullerte bis knapp vor ihre Füße.
    Stimmen wurden laut.

  • "Messer?" Tamar zog eine Augenbraue hoch. "Ich nehme einfach zu Euren Gunsten an, dass Ihr Euch nicht viel unter Menschen aufhaltet, andernfalls müsste ich Euch Eure wiederholte Unhöflichkeit übelnehmen. Derartige Unterstellungen in aller Öffentlichkeit..."


    Sie schüttelte den Kopf über sein Verhalten, aber entgegen der üblich menschlichen Logik nahm sie ihm nicht etwa zornig das Buch weg- Tamar ließ den Fremden gewähren. Ebenso seltsam mutete es an, dass sie das Tohuwabohu auf der Straße nur eines müden Blickes würdigte. Sie schien ihn nicht aus den Augen lassen zu wollen, aus dem einen oder anderen Grund...


    "Es tut mir leid, wenn meine Waren Euren hohen Standards nicht genügen können." meinte sie dann und ein gewisser Hauch Ironie lag auf ihrer Stimme. "Normalerweise würde ich Euch noch einige andere Bücher zeigen, aber da es Euch in meinem Laden nicht zu behagen scheint, bin ich in dieser Hinsicht, fürchte ich, machtlos."

  • Ascan schmunzelte... und nach einer Weile wurde es zu einem tatsächlichen Lachen, das in krassem Gegensatz zu seinem Erscheinungsbild stand.
    „Ich muss mich wohl entschuldigen“, antwortete er schließlich, klappte das Buch sanft zu und reichte er ihr zurück. „Ich bin ein wahrhaft… grauenvoller Kunde.“


    Er hob einen grüngelben Apfel vom Boden auf und rieb ihn am Stoff seines Mantels, während sein Blick noch einmal über die Straße schweifte, die kunstvoll ihr eigenes Chaos produzierte.


    Die Kinder von vorhin huschten am Wagen entlang und stopften sich immer wieder etwas von der herum rollenden Ladung in die Taschen. Viele Leute waren inzwischen stehen geblieben, um Maulaffen feil zu halten. Der Wagenführer raufte sich verzweifelt die Haare. Die Frau am Fenster rief einem der Gaffer zu, er möge ihr etwas aufheben.

  • Jede seine Bewegungen wurde von ihr beinahe argwöhnisch beobachtet. Nun aber sah sie kurz hinüber zum Geschehen auf der Straße. Ihr Blick wirkte starr, als nähme sie gar nicht wirklich wahr, was ihre Augen sahen. Dann, recht plötzlich, wandte sie sich Ascan wieder zu.


    "Ihr seid mein Kunde, gleich wie Ihr Euch benehmt. Wärd Ihr grob unverschämt geworden, hätte ich mich vielleicht gezwungen gesehen, Euch rauszuwerfen, aber da Ihr von alleine gegangen seid, sind wir über diesen Punkt längst hinaus."


    Tamars Blick richtete sich auf den Apfel, den er aufgehoben hatte, dann glitt er langsam über die gesamte Gestalt. Ihre Gedanken in diesem Moment zu kennen wäre sicherlich nicht uninteressant gewesen, doch sie zog es vor, diese für sich zu behalten.


    "Falls ich dennoch irgendetwas für Euch tun kann, zögert nich, es mich wissen zu lassen." fügte sie dann mit ungewohnt freundlich-samtiger Stimme hinzu.

  • „Natürlich.“


    Er biss in den Apfel und beobachtete den Wagenführer, der vor lauter Hilflosigkeit begonnen hatte, die umstehenden Leute anzublaffen. Eine Frau, die im Vorübergehen vom Geschehen gefesselt wurde, rutschte auf einer Tomate aus, landete auf ihrem Allerwertesten und erntete Gelächter.
    Der Sylph kaute weiter und blickte die Straße entlang.
    Harfenklänge.
    Die bittersüße Melodie war kaum wahrnehmbar durch den hier alles beherrschenden Lärm. Ascan stieß sich von der Fassade ab und bahnte sich seinen Weg durch die verstreuten Güter.

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