Das Haus der Seherin

  • Wer aufmerksam und mit offenen Ohren durch das Künstlerviertel geht, dem wird das sanftes Schwingen und Klingen nicht entgehen, das sich mit jedem Schritt intensiviert, mit dem man sich dem Anwesen der Seherin nähert. Auf der Suche nach dem Quell dieses Klanges entdeckt man bald die vielen unterschiedlichen Klangspiele an der Dachtraufe und im Giebel des vorspringenden Daches des eleganten Gebäudes.
    Lange, metallene Röhren und gestimmte Glocken bewegen sich frei im Wind und, je nach dem wie stark dieser weht, weben sie eine niemals endende, an- und abschwellende Symphonie aus reinen, feinen Klängen.


    Die Grundmauern des Hauses bestehen aus naturbelassenem, weißem Gestein, während das obere Stockwerk eine strahlend weiß gestrichene Holzfassade besitzt und ein sanft geschwungenes, relativ steiles Dach trägt, welches mit rauen, schiefergrauen Schindeln gedeckt ist. Durch die hohen, spitz zulaufenden Spossenfenster wirkt das Haus trotz der soliden Mauern lichtumfangen, durchstrahlt und leicht. Ein kreisrundes, großes Buntglasfenster im Giebel zeigt ein von Blautönen dominiertes Hauswappen. Es wirft tagsüber strahlende Lichtflecken in den dahinterliegenden Schlafraum, während es nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es von innen durchleuchtet wird, wie ein blauer Mond von der Fassade hinabsieht.
    Spätestens bei diesem Anblick wird dem Betrachter klar, dass sich dieses Anwesen nicht in den in Nir'alenar vorherrschenden Baustil einfügen will und wer jemals die Stadt der Musik besucht hat, wird sich beim Anblick von Silenes Anwesen zweifelsohne an Yelindea erinnert fühlen.


    Durch den dicht bepflanzen, großen Garten schlängeln sich sauber gefegte Wege, an einem schlanken, im Frühling weiß blühenden Kirschbaum vorbei und zwischen hellen Büscheln hoher, sommerblühender Gräser hindurch, die sich stets im Wind wiegen und an Dünengras erinnern. In der Sonne locken zwischen hellem Gestein Lavendel, silberblaue Kugeldisteln und Strandflieder viele Schmetterlinge und andere Insekten an, während an den schattigeren Stellen duftende Lilien, Iris, Fingerhut und Farne gedeihen.
    Wenn der Wind durch diesen Garten streicht, erinnert das Haus und das Grundstück in allen seinen Details so intensiv an die windige, helle Stadt aus der Silene stammt, dass man manchmal, wenn man die Augen schließt und die Gedanken wandern lässt, sogar glaubt die Wellen zu hören, wie sie an spitze Felsen branden, die es mitten in Nir'alenar selbstverständlich nicht gibt.


    Hat man den Garten durchschritten, gelangt man über fünf Stufen einer geschwungenen Holztreppe auf die hölzerne Eingangsveranda, von wo aus sich ein zart violett blühender Blauregen bis in den Giebel hinaufrankt und einen unsteten Schatten auf die Haustüre wirft. An dieser Türe ist ein Türklopfer in Form einer Hand befestigt, die eine silberne Kugel umschließt.
    Die Räume im Inneren wirken kühl, sauber und hell und es duftet sachte nach dem zitronig-harzigen Weihrauch, den Silene hier verräuchert. Einige seltsam anmutende Gegenstände erzählen von ihrer Profession als Wahrsagerin, doch neben einer Küche und einem Teezimmer findet sich im Erdgeschoss auch eine kleine Instrumentenwerkstatt mit einem Holzlager, in der Silene hin und wieder ein Instrument restauriert. Über eine Wendeltreppe gelangt man in ein Schlafgemach und das daran angeschlossene Bad.


    An die Rückseite des Hauses schmiegt sich schließlich ein kleiner, mit einigen Pflanzen und einem Schreibplatz gefüllter Glaspavillon, der Vorbeigehenden jedoch verborgen bleibt und in welchen sich Silene oft zurückzieht um zu arbeiten. In Sichtweite des Arbeitsplatzes, an einer der beiden Silberweiden, die an der hinteren Grundstücksgrenze stehen und in den Sommermonaten ihre fluffigen, weißen Samen wie Schnee durch den Garten treiben lassen, hängt ein Futterhaus für die Stadtvögel, welche sich mit ihrem Gesang perfekt in das Klangbild einfügen, das Silenes Haus stets umgibt.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • <--- vom Zelt der Seherin



    Ascan wusste sofort, von welchem Haus Silene sprach. Jedem Syreniae, der einmal mit offenen Augen über das Künstlerviertel geflogen war, mussten das geschwungene Dach und der unverwechselbare Klang aufgefallen sein. Yelindeas Baustil unterschied sich nicht von dem Alaneyas und nun verstand er auch die Logik ihrer Entscheidung, ihn hierher zu führen.

    Knapp über dem Haus der Seherin bremste Ascan ihren Sturzflug durch mehrere kraftvolle Flügelschläge ab und spähte auf das Grundstück hinunter. Als würden die Windspiele ihre Anwesenheit bemerken, wurden sie sogleich von einem Orchester heller Glockenstimmen begrüßt, die fröhlich dem Takt folgten, mit dem sich seine Federn durch die Luft bewegten. Das Windspiel über dem Zelteingang kam Ascan in den Sinn und kurz waren seine Gedanken mit der Frage beschäftigt, was der Grund sein mochte, aus dem gerade eine Valisar wie Silene einen solchen Faible für seine Heimat zeigte. Sich auf Ereike besinnend, erklärte er es zu einem der Mysterien, die er wohl niemals ergründen würde.


    Durch die dichte Bepflanzung blieb nur eine Möglichkeit zur Landung und so setzten Ascans Stiefel auf der hölzerne Veranda auf. Der silberne Regen aus Klang bewirkte, dass er sich zuerst gedankenverloren umsah, bevor er Silene absetzte. Es war erstaunlich wie sehr ihn jedes Detail an seine Heimatstadt erinnerte. Auf seine eigene Art war es noch unwirklicher als die Atmosphäre, die die Seherin in ihrem Zelt erschaffen hatte... und wie schon in Yelindea erfüllte es Ascan mit ebenso großer Freude wie stechender Sehnsucht. Es war ein ausnehmend schöner Ort, doch keiner, an dem er lange verweilen konnte...


    Gerade wollte der Syrenia sein Wort wieder an Silene richten, da kam ihm eine ganz andere Stimme zuvor – die seines Hungers. Laut knurrend tat dieser seinen Unmut darüber kund, dass ihm seit zu langer Zeit niemand mehr Beachtung schenkte. Ascan drückte rasch seine unversehrte Hand auf seinen Bauch, als könnte er seinen verräterischen Körper damit zum Schweigen bringen, doch natürlich nutzte das nichts. Die Verlegenheit war dem Geflügelten flüchtig aber deutlich anzusehen.

  • Das sonst so sachte und friedliche Schwingen der Windspiele gewann durch die kraftvollen Flügelschläge des Syrenia immer mehr an Intensität, je näher sie dem Haus kamen. Sie hatten bereits aufgesetzt, doch Ascan schien sich für einen Moment in seinen Gedanken verirrt zu haben, denn er entließ sie nur mit etwas Verzögerung aus seinem sicheren Griff.
    Silene löste die Verschränkung ihrer Hände, vertraute ihr Gewicht langsam wieder dem Untergrund an. Festen Boden unter den Füßen spürend und endlich wieder frei atmend, bemerkte die Seherin, dass dieser Flug ihren Körper offenbar mehr mitgenommen hatte, als ihren Geist. Während dieser völlig ungerührt seine endlosen Bahnen zog, hatte die Höhe und vor allem der rasante Abstieg ein schwaches Zittern in ihre Finger gebracht und auch ihre Knie schienen sie nicht so tragen zu wollen, wie sie es gewohnt war.


    Bevor sie sich dem Öffnen der Tür zuwenden konnte, blieb eine ihrer Hände noch einen Augenblick länger auf Ascans Arm liegen, bis sie sich sicher war, ihr Gleichgewicht gefunden zu haben, doch er schien es kaum zu bemerken. Silene musterte sein Gesicht, erfasste den Glanz seiner grauen Augen, erkannte Anzeichen der Wirkung darin, welche diese Umgebung unweigerlich auf ihn hatte. Für einen Moment verlor auch sie sich in einer Überlegung.
    So vertieft in das Bild aus Farben, Klang und Wind, dass Silenes Anwesen malte, wirkte sein Gesicht mit einem Mal jünger als zuvor. Zu jung für den vielen Schmerz, den sie in ihm gesehen hatte. Die sanfte Brise, die stets durch den Garten der Seherin strich, verfing sich in seinem leichten, weißen Haar. Die fein gezeichneten Züge, so edel und ebenmäßig, lenkten ihren Blick unweigerlich auf die Narbe auf seiner linken Wange. Dieses Gesicht wollte ihr so viel erzählen … doch Ascan war nicht seinetwegen gekommen und für ihn zu sehen war zumindest heute nicht ihre Aufgabe.


    Ascan hatte sich vom Anblick seiner Umgebung gelöst, doch bevor er zu Wort kommen konnte, knurrte sein Magen vernehmlich und der verlegene Ausdruck trat so flink in sein Gesicht, dass es Silene etwas überraschte. Mit dem Blick auf seine unversehrte Hand, wurde sie jedoch auch der verletzten Hand gewahr und dem blutbefleckten Verband daran. Er machte augenblicklich einen sehr mitgenommenen Eindruck, schloss Silene, doch sie hatte schon oft feststellen können, dass ein paar Bissen zu Essen und eine Tasse Tee bereits viel ausmachen konnten.


    "Kommt.", forderte sie ihn auf, wandte sich der Tür zu und ohne weitere Umschweife schloss sie auf, schwang die weitflügelige Tür auf und wies Ascan sogleich den Weg in das Teezimmer. Ein niedriger Tisch stand dort bereit, ein mit weißem Stoff bezogener Diwan und zwei weitere, ähnlich bepolsterte Sitzgelegenheiten, die allesamt ohne Rückenlehnen auskamen. Hohe Regale an den Wänden beherbergten einige Bücher über die Geschichte Beleriars und des Sternenmeers, über Musik, Architektur und Kunsthandwerk und das Tageslicht, welches nur durch einen Vorhang gedämpft durch das spitze, hohe Fenster fiel, beleuchtete einige Gegenstände, die etwas mit Astronomie zu tun haben mussten.
    Ansonsten war das Teezimmer ganz im Stil ihrer Heimat gehalten, so wie das gesamte Haus bis auf wenige Details diesem entsprach. Während Ascan bereits das Teezimmer betrat, bog Silene in einen anderen Raum ab und machte sich dort leise zu schaffen.
    „Nehmt Platz, wenn Ihr möchtet. Ich komme sofort nach.“, klang es kühl hallend aus dem angrenzenden Raum und die hohen Decken der Räumlichkeiten verliehen ihrer Stimme einen leicht schwebenden Klang, der im Zelt nicht hörbar war.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Ihrer Einladung folgend, trat Ascan nach Silene durch die Eingangstür. Dass er sich dabei in keiner Weise verdrehen oder bücken musste, geschah ihm nicht oft und so ließ er seinen Blick wohlwollend durch den hohen und hellen Innenraum des Hauses schweifen. Selbst der Raum, in den die Valisar ihn wortlos führte, war eher eine offene Nische als ein geschlossener Bereich. Die mit weißem Stoff bezogenen Raumteiler ließen keinen Eindruck der Enge entstehen und er musste nicht schätzen, um zu wissen, dass seine komlette Flügelspannweite in diesem Haus Platz finden würde. Der vertraute Eindruck machte den Syrenia nicht einmal misstrauisch, als die Seherin aus seinem Blickfeld verschwand, sondern ließ ihn ruhigen Schrittes zu einem der Regale gehen. Mit Interesse überflogen seine Augen die Titel der Bücher. Die kompletten sieben Sonaten der blauen Stunde. Eine schmuckvoll gebundene Handwerksbibel zu Harfen, Zithern und Lauten. Verschiedene Enzyklopädien zu Bauwerken des syrenischen Altertums. Bei einigen Werken war Ascan versucht, sie hervor zu ziehen und darin zu blättern, doch er zog seine Hand zurück, bevor sie einen der Buchrücken berührte.


    Kurz darauf erklang Silenes Stimme, die durch die hohen Decken ferner erschien als sie es vermutlich war. Sich auf einen der Diwane setzend, dachte der Syrenia bereits wieder an Ereike. Obwohl die Versuchung groß war, die Seherin zu größerer Eile zu ermahnen, begnügte sich Ascan damit, seinen blutigen Verband zu mustern. Was immer sie dort trieb, es würde hoffentlich etwas dazu beitragen, das Mädchen zu finden. Wenn die Wirkung seiner Zauberstimme auf sie noch nicht verflogen sein sollte, würde sie sich noch immer vom Waisenhaus fortbewegen...


    Die Stirn kraus ziehend, verbannte Ascan diese Befürchtung aus seinen Gedanken. Es war in höchstem Maße unwahrscheinlich, dass die kleine Dai'Vaar zu jenen hochgradig empfänglichen Geschöpfen zählte, auf denen die Wirkung seiner Einflüsterungen dauerhaft bestehen blieb.
    Seine Augen lösten sich von seinem Verband und wanderten wieder über die Einrichtung. Wartend. Dass sein Bein dabei in ein unruhiges Wippen verfiel, fiel ihm nicht auf.

  • Silene kehrte rasch zu ihrem geflügelten Gast zurück, denn einen Gast alleine warten zu lassen entsprach keineswegs den Verhaltensmustern, die sie für erstrebenswert hielt. Ihren dunkelblauen Umhang hatte sie inzwischen abgelegt, doch ihr Haar befand sich noch immer in der selben Unordnung, in welcher der Wind es zurückgelassen hatte. Es schien ihr für den Moment nicht wichtig zu sein, doch als sie das silberne Tablett auf dem Tisch abstellte und ihre Hände freiwurden, strich sie zumindest kurz über ihr Haar und bewegte einige lose Strähnen hinter ihre Ohren zurück.


    "Bitte, esst etwas.", wies sie den Syrenia an und deutete auf das Stück Hefegebäck, das auf einem Porzellanteller lag. Neben diesem hatten auf dem Tablett noch zwei zierliche Tassen und eine Zuckerdose Platz gefunden, eine Teekanne fehlte bisweilen. Es war mehr einstudiertes, absolut zweckgebundenes Verhalten, als wahres Verständnis für die bedrückte Situation, doch sie konnte unmöglich klar sehen, wenn er nicht in der Lage war, dieser Belastung standzuhalten. Der Seherin war bewusst, dass es Ascan drängte, fortzufahren, dazu brauchte sie nicht erst die nervöse Bewegung seines Beines sehen, doch es war absolut von Nöten, dass er etwas aß.
    "Die Zeit drängt, aber Ihr müsst bei Kräften sein, wenn wir fortfahren.", erklärte sie mit ungewöhnlich weicher und etwas gesenkter Stimme, der das gewohnte, schneidende Element fehlte, als läge an diesem Ort frisch gefallener Schnee der jedem Geräusch die Schärfe nahm.


    Statt sich ebenfalls zu setzen, sah sie für einen langen Moment auf Ascan hinab und musterte dabei auch seine verbundene Hand. Sie war keine Heilerin, doch einen Verband anzulegen gehörte auch zu den Fähigkeiten, die sie sich in den Werkstätten Yelindeas angeeignet hatte. Viele der dort verwendeten Werkzeuge - Schnitzmesser, Sägen, Hobelklingen - waren entsetzlich scharf und es war unvermeidbar, dass man sich eines Tages an ihnen verletzte.
    "Benötigt Eure Verletzung eine Behandlung?", fragte sie sachlich und kaum waren die Worte verflogen, erstarrte auch ihr Gesicht wieder zu der teilnahmslosen Maske, auf welche sie keinerlei Emotion legte.

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  • Als die Schritte der Seherin erklangen, blickte der Geflügelte über die Schulter. Ihre Bewegungen wirkten noch immer etwas fahrig vom Flug und ihr Haar war so zerzaust, dass es ihrer kühlen Schönheit viel von der Strenge nahm, die sie wie eine blasse Aura umwehte. Mit leisem Klicken setzte sie das Tablett auf die Tischplatte und offenbarte damit, womit sie ihre Zeit verschwendet hatte. Ascans Ärger währte nur solange, bis ihm der frische Duft des Gebäcks in die Nase stieg. Den Teller nicht aus den Augen lassend, hörte er die Aufforderung der Valisar und spürte seinen flauen Magen.


    Er hatte nicht vor, Widerspruch einzulegen. Heißhunger packte ihn und das Gebäck sah gut aus. Ohne sich um den Teller zu kümmern, griff Ascan nach dem Hefekranz und nur wenige große Bisse später war davon nichts mehr geblieben; nur ein mühsam kauender Syrenia, der sich gegen die Brust klopfte, um das trockene Gebäck besser schlucken zu können. Bei der Erkenntnis, dass Silenes Tonfall sich verändert hatte, hielt er kurz im Kauen inne, um sie mit gerunzelter Stirn anzublicken. Die vertraute Umgebung hatte seine Skepsis gemildert, doch nun kam er nicht umhin, die Seherin argwöhnisch zu mustern. Ihr Blick war auf seinen blutbesudelten Verband gerichtet und kaum erklang ihre Frage, zog ein harter Glanz in seine Augen. Den letzten Bissen schluckend, schüttelte er den Kopf. „Nein. Lasst uns da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“


    Sich die Krümel von den Fingern wischend, versuchte Ascan die trügerische Vertrautheit loszuwerden, die das Haus in ihm wachrief. Alles war wie für ihn gemacht, doch er gehörte nicht hierher. „Und danke“, fügte er etwas weniger rau hinzu, denn er verstand, dass ihre Gastfreundschaft im Grunde Ereike diente.

  • Schweigend sah sie Ascan zu, wie er das süße Brot geradezu verschlang und auch wenn ihre Augen keine Regung zeigten, wusste sie doch, dass sie richtig gehandelt hatte. Silene kannte zwar Hunger, doch sie empfand ihn nicht anders, als jedes andere körperliche Bedürfnis, das befriedigt werden musste. Sie hatte jedoch bald gelernt, dass ein Loch im Magen vielen Fühlenden die Laune verdarb, sie dünnhäutig und unkonzentriert machte. Sie vermutete stark, dass es dem Geflügelten nun besser ging, zumindest sprach aus seinen Augen nicht länger sein ursprüngliches Misstrauen und selbst der kurze, wachsame Blick unter in Falten gelegter Stirn erreichte kaum dessen Intensität.
    Bald war auch das letzte Stück des Gebäcks verschwunden und da er Silenes Angebot bezüglich des Verbandes an seiner Hand ausschlug, schloss sie, dass ihn seine Verletzung tatsächlich nicht weiter zu beeinträchtigen schien.


    Das leise Pfeifen des Wasserkessels rief Silene in den Raum zurück, aus dem sie gekommen war, doch bevor sie ging, nahm sie seinen Dank noch mit einem sanften Nicken und einem kurzen Niederschlagen der geisterhaften Wimpern an. "Aísthe líyus.", antwortete sie in der Sprache der Syreniae, doch das dazu passende, freundliche Lächeln blieb aus. "Habt Dank für den Flug.", fügte sie noch in der Gemeinsprache hinzu und verschwand dann für einen weiteren Moment in der kleinen Küche, um nur wenig später mit einer dampfenden Kanne Tee und einem Glas Wasser zurückzukehren.
    Das Glas reichte sie direkt an Ascan weiter, die Kanne stellte sie auf dem Tisch ab und beachtete sie dann nicht weiter. Es war nicht mehr als eine höfliche Geste, denn sie waren nicht gekommen, um miteinander Tee zu trinken. Nun galt es, nach dem verschwundenen Mädchen zu suchen und aufmerksam las sie in Ascans Zügen nach dem Zeichen, das ihr erlaubte näher zu treten und sein Gefieder erneut zu berühren. Er wusste, was zu tun war und sie war bereit, ihr Auge erneut zu öffnen und nach dem Mädchen mit der Feder im Haar zu sehen.
    Ein Gedanke und eine Frage kreuzten noch flüchtig ihren Geist, doch sie legte sie ruhig beiseite. Es würde sich von selbst klären, sobald sie mit eigenen Augen sehen konnte, was geschehen war.

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  • Niemand vermochte es, Alanai so zu sprechen wie sein Volk es tat. Während Ascans der Valisar nachblickte, wanderten seine weiße Augenbrauen nach oben und ein Lächeln deutete sich in seinem Mundwinkel an. Er gab allerdings zu, diese Worte noch bei keiner Fremdländischen geschickter gehört zu haben.
    Seine Gedanken hörten auf, um Ereike zu kreisen und suchten stattdessen nach einer Erklärung für Silenes Sprachwissen, ihr syrenisches Heim und die Werke über Musik, Kultur und Kunsthandwerk, die für eine Syreniae bezeichnend gewesen wären. Gab es etwas, das er übersah? Wohnte sie womöglich nicht allein?


    Die Vorstellung, die Seherin könnte einen Syrenia zum Partner haben, war so naheliegend und gleichzeitig so abwegig, dass Ascan kurz schmunzeln musste. Der Ausdruck verschwand von seinen Zügen, noch bevor Silene wieder an den Tisch trat und ihm ein gefülltes Glas reichte. Ganz im Bann alter Gewohnheit, roch er unauffällig an der klaren Flüssigkeit, als sie sich aufs Absetzen der heißen Teekanne konzentrierte. Er war schon mit dem Verspeisen des Gebäcks ein Risiko eingegangen. Wie trickreich Gifte verwendet werden konnten, wusste er leider nur zu gut. Ascan war jedoch bewusst, dass es eine feine Grenze zwischen Vorsicht und Wahn gab, die er für sich im Blick behalten musste. Ein vergiftetes Gebäck in Betracht zu ziehen, gehörte ganz klar zu Zweiterem. Ein Getränk zu überprüfen, hatte ihn dagegen schon mehr als einmal vor einem verhängnisvollen Schicksal bewahrt...


    Kein verräterisches Aroma wahrnehmend, nahm er einen Schluck und behielt ihn auf der Zunge, während er dem leeren Blick der Valisar erneut begegnete. Sinnlos, auf eine Regung zu spekulieren, daher trank er auch den Rest aus, stellte das Glas auf den Tisch ab und legte die Arme auf seine Oberschenkel. Noch immer Silene im Blick, breiteten sich seine Schwingen langsam hinter seinem Rücken aus. „Findet das Mädchen, Seherin. Und dieses Mal...“ Seine Augen verengten sich. „... brechen wir erst dann ab, wenn Ihr Erfolg habt.“

  • Ihre Blicke begegneten sich kühl und aus den verschmälerten Augen des Syrenia sprach eine tiefe Entschlossenheit, welche Silene sehr begrüßte. Somit standen die Chancen das Mädchen aufzuspüren mehr als gut. An ihr sollte es nicht jedenfalls scheitern, denn selbst wenn es große Anstrengung erforderte: nichts hielt sie davon ab, sich tief in sich zu versenken und ihrem wahrsehenden Sinn freien Lauf zu gewähren.
    Der Geflügelte war es, der ihrem Vorhaben eine natürliche Grenze setzen würde, doch seine überzeugt gesprochenen Worte ließen darauf schließen, dass er bereit war, erneut über seine Grenzen zu gehen, sollte es notwendig werden. Es war die Aufgabe der Valisar zuzusehen, dass es nicht soweit kommen musste. Sie musste klar sehen. Klar und weit.


    Seine schwarzen Flügel spreizten sich ein weiteres Mal und diesmal gab es keine Zeltwände, die sie einengten. Silene verlor keine weitere Zeit, brach den Blickkontakt zu Ascan, schritt anmutig und in angemessenem Abstand um ihn herum und nahm schließlich die selbe Position ein wie zuvor in ihrem Zelt.
    Schräg hinter ihm zum Stehen kommend, fingen die Flügel ihren Blick, sodass er zunächst von den äußersten Federspitzen, die weit in den offenen Raum zeigten, über die im hereinfallenden Tageslicht schillernden Deckfedern bis zu den Ansätzen der geöffneten Schwingen schweifte, die mit ihrer Dunkelheit einen großen Teil des Raumes vereinnahmten. Es erschien Silene fast, als erfüllte sich damit die wahre Bestimmung dieses Raumes, als würde er endlich beherbergen zu was seine Mauern errichtet wurden.
    Obwohl die Fenster verschlossen waren, drang leise das Klingen der Windspiele ins Innere vor. Inmitten der perfekten Illusion verriet kein Detail, dass sie sich in Nir'lenar befanden … und keineswegs im viele Tagesreisen entfernten Yelindea.


    Silenes linke Hand hob sich erneut, schwebte über das Federkleid seiner linken Schwinge und suchte nach der Stelle, an der sie sich zuletzt davon gelöst hatte. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie die Kühle der Luft in ihnen, gleichzeitig strahlte ihr von seinem Rücken ausgehend die Wärme der Muskeln entgegen, die sie noch bis vor wenigen Minuten weit in den Himmel hinauf getragen hatten.
    "Beginnt noch einmal von vorne. Schließt Eure Augen.", bat sie ihn und noch immer hatte sie den Hauch des Abstands zwischen ihrer Hand und den Federn nicht überwunden. "Das Mädchen - Ereike - ich habe sie für einen Moment gesehen. Sie war im diesem Raum mit Euch. Kehrt nun in den Moment zurück, in dem Ihr ihrer gewahr wurdet.", sprach die Seherin leise in monotonem Tonfall und etwas in ihrer eisigen Stimme wollte all seine Aufmerksamkeit einfordern.
    Ihre Kristallaugen waren regungslos auf Ascan gerichtet, sie wartete geduldig darauf, dass er die Augen verschloss und den Faden wieder aufnahm, den er verloren hatte. Äußerlich schien die Valisar so unbewegt und teilnahmslos wie eine Statue, doch in ihrem Inneren setzte sich jene besitzergreifende Macht in Bewegung, die ihr drittes Auge belebte und im gleichen Zug ihr eigentliches Selbst weit zurücktreten ließ. Bereit, in den gewaltigen Strom der Bilder zu treten, lag nur noch ein Wimpernschlag zwischen dieser Welt und der Welt der Nebel und nur noch ein feiner Laufthauch trennte ihre Fingerkuppen vom Gefieder Ascans.

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  • Gemessenen Schrittes nahm die Seherin erneut ihre Position hinter seiner linken Schwinge ein. Wo ihn dieselbe Bewegung im Zelt noch irritiert hatte, drehte er nun nicht einmal mehr den Kopf, sondern konzentrierte sich ganz auf den Buchrücken im gegenüberliegenden Regal, auf dem das silberne Siegel der dritten Sonate schimmerte. Ein paar der feinen Klänge drangen durch die Fenster hinein und fast meinte Ascan die ersten Takte der berühmten Komposition in ihnen zu hören. Es war, als wiegten sich die Windspiele nicht nur in der Luft, sondern gleichzeitig in den Gedanken all jener, die ihnen lauschten.


    Die Überlegung wehte aus seinem Verstand und dafür vernahm er die einförmigen Worte der Valisar, die von Ereike und dem letzten Moment erzählten. Einmal tief ausatmend, ließ Ascan zu, dass eine milde Schwere in seine Schläfen zog. Noch während er die Augen schloss, fand seine Stimme wie von selbst den ersten Satz.
    „Ich war gerade erst zurück gekehrt. Die Stadt schlief. Der Dachboden war still und das war in diesem Augenblick alles, was ich wollte. Ich brauchte Zeit... es war viel geschehen.“ Ein neuer Wind fuhr durch die Windspiele vor dem Haus, sandte einen beruhigenden Klangregen an sein Ohr und Ascan ließ seinen Kopf etwas tiefer sinken. „Das Knarren war wie ein Donnerhall. Ich drehte mich um, da war sie schon erstarrt. Ereike. Ich kannte ihren Namen nicht. Sie grinste ertappt. Offensichtlich, dass sie sich hatte anschleichen wollen. Vielleicht, um sich eine Feder von mir zu stehlen.“ Ein mattes Lächeln strich über die Lippen des Syrenia und färbte bis in seine ruhige Stimme. „Das dachte ich solange, bis mir die schwarze Spitze an ihrem Hinterkopf auffiel. Ich erinnerte mich. Sie hatte mich im Hinterhof begrüßt; Damiel für mich geholt. Eine Feder als verdienter Lohn. Aufgewecktes kleines Ding. Rote Haare, braune Haut. So dunkle Augen, dass man jeden Feuerfunken darin sieht... nun blitzte sie mich frech an. Eine Dai'Vaar wie aus dem Bilderbuch.“


    Flüchtig runzelte Ascan die Stirn und einige Muskeln in seinem Nacken spannten sich. „Aber dafür hatte ich keine Geduld. Sie plapperte. Unaufhörlich. Ein ganzer Schwall von Fragen. So unwichtig im Gegensatz zu meinen Plänen; meinen eigenen Fragen. Nur ein Wort... ein Befehl... ich wusste, mehr bräuchte es nicht, um sie mir vom Hals zu schaffen.“ Ein tiefer Atemzug verging, bevor der Syrenia dunkler fortfuhr. „So sprach ich es, prägte es in ihren Verstand, um keine Gegenwehr zu finden. Geh... verlasse diesen Ort. Sie verschwand schneller, als mir klar werden konnte... dass es zu machtvoll gewesen war. Sie war nur ein Kind. Natürlich ging sie... wie aufgetragen... und mehr noch. Sie verließ ihr Heim... das Waisenhaus... sie ging und kehrte nicht zurück.“


    In der einkehrenden Stille nahm Ascan nur seinen tiefen Atem und die milden Geräusche von außerhalb wahr. Die Klänge, die ihn hinaus riefen. Auf die Klippen. In die Winde über dem Meer. Für einen Moment war es echt und greifbar, doch schon beim nächsten Moment, das wusste er, würde es wieder fern und unerreichbar sein.

  • Silene schloss ihre Augen, noch bevor die gähnende Leere in ihren Blick trat, welche in so vielen Wesen tiefe Ängste heraufbeschwor. Ihre Finger senkten sich weich auf das glatte Gefieder hinab, strichen über ein, zwei Federn, kamen jedoch bald zur Ruhe. Es fiel der Seherin unglaublich leicht, die stoffliche Welt für einen Moment gehen zu lassen. So oft schon war sie durch dieses Tor gegangen, hatte diese Schwelle in eine andere Welt überschritten, dass es nur schwerlich ein besonderer Moment für sie war.
    Wieder tauchte sie in die Nebel, wieder wanden sich blasse, schemenhafte Gestalten vor ihrem inneren Auge und ungesehene Gedankenkonstrukte zogen vorbei, halb real, halb Traum. Sie waren durchaus interessant, doch Silene schenkte ihnen wenig Beachtung. Sie würde tief sehen müssen, weit hinter diese oberflächlichen Dinge, welche die Seherin sanft zur Seite zog wie Vorhänge vor einem Fenster, aus dem sie einen Blick werfen wollte.
    Kühl und blass tauchte jene Szene vor ihr auf, die sich ihr beim ersten Versuch bereits kurz offenbart hatte. Ascans ruhige Stimme brachte einen Deut von Farbe in die ausgeblichenen Bilder der Vergangenheit und Silene beobachtete genau, was geschah. Sie konnte das Mädchen nun klarer sehen als zuvor, groß und dunkel waren ihre Augen im Zwielicht des Dachbodens und es standen Funken der Neugier und Bewunderung in ihnen. Seine Beschreibung entsprach dem, was sie sah. Die Ruhe, die im Kopf des Syrenia eingekehrt war, zeichnete so klare und deutliche Bilder, als wäre sie selbst zugegen gewesen.


    Mit einem Mal trat eine Unruhe in alles, was sie sah. Ungeduld flackerte auf, ließ die Farben grell werden und Silenes Sichtfeld zusammenschrumpfen, sodass sie bald nur noch Ereikes dunkle Augen sehen konnte, in denen eine junge Flamme tanzte. In bedrohlichem Gleichklang erschollen die Worte des Syrenia, in Erinnerung und Gegenwart zugleich, und auch wenn die Seherin nicht das Ziel der Worte war, vermochte sie doch deren Macht deutlich wahrzunehmen.
    Sie verstand. Ereike trug nicht nur eine Feder Ascans mit sich … auf ihr musste zumindest für eine Weile der Bann seiner Zauberstimme gelegen haben. Womöglich lag dieser noch immer auf dem Mädchen. Es war Schuld, die ihn trieb. Verantwortung für eine unüberlegte Tat.


    Das Bild des Dachgestühls zerstob und Silenes Geist floh gemeinsam mit Ereike, löste sich aus dem Blickwinkel, den Ascan ihr geliehen hatte und im Vorbeifliegen vieler Dinge wurde es zunehmend schwerer, der Spur der kleinen Dai'vaar zu folgen. Gefangen im Zauberbann von Ascans Stimme hatte das Mädchen kaum auf seine Umgebung geachtet, doch es war zweifelsohne das Seeviertel, durch dessen Straßen sie sich bewegt hatte. Die Verbindung, welche durch die Feder zwischen den beiden Fühlenden existierte, gab Silene etwas Halt, der Druck ihrer Finger auf Ascans Gefieder wurde unversehens etwas spürbarer und bald war es ihre ganze Handfläche, die Kontakt zu seinem Flügel hatte.
    Ereikes Füße waren über von unzähligen Schritten glattgeschliffenes Pflaster geflogen. Sie hörte Möwengeschrei und das hölzerne Knarren alte Schiffsrümpfe. Vor ihren Augen konnte sie das schwache Glitzern des Wasser im sich rasch nähernden Hafenbecken erkennen, ehe dieses einer dunklen Leere Platz machte, in der es wenige Eindrücke gab, die sie hätte sammeln können. Stattdessen war es Furcht, die Silene sehen konnte, Furcht und … Wut?
    Flüchtig wehten immer schwächer werdende Zeichen an Silenes Auge heran, bis schließlich der Quell der Bilder versiegte und sich alles im wabernden Nebel und Dunkel verlor. So sehr sie sich bemühte und so weit sie ihr Auge auch öffnen mochte – die Verbindung war durchtrennt, die Seiten der Vergangenheit, in denen sie gelesen hatte, entglitten ihren Fingern und es blieb lediglich ein einziges unscharfes Bild zurück, ein Schemen, der sich im Geflecht der Nebelschwaden verfangen hatte, sich bald jedoch ebenso vollständig verflüchtigte. Es war ein junger Eindruck, kaum Stunden alt.


    "Ich habe gesehen, wohin sie gelaufen ist.", sprach die Seherin unvermittelt und ihre Stimme war von einer Dunkelheit behaftet, die nicht von ihr selbst stammen konnte. Langsam machte sie einen Schritt zurück, brachte wieder eine angemessene Distanz zwischen sich und den Syrenia, sah aus geöffneten, doch seltsam trüben Augen zu ihm hinab. "Es scheint, als wäre sie nicht weit gekommen. Am alten Hafen endet ihre Spur. Es wird Euch sicherlich beruhigen, zu wissen, dass Euer Zauber nicht länger auf sie wirkt... "
    Die Seherin verstummte für einen Moment und bedachte das letzte Bild, dass sie von Ereike empfangen hatte. " ...doch ich kann Euch keineswegs versprechen, dass sie in Sicherheit ist. Sie ist an einem dunklen Ort. Sie fürchtet sich."
    Die Seherin verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, ging mit starrer Miene an Ascan vorbei und auf das Fenster zu, ließ nachdenklich den Blick schweifen, als bräuchte sie den Anblick des windberührten Gartens um einen Entschluss zu fassen. "Ich kann aus einem mir unerklärlichen Grund von hier keinen Kontakt mehr zu Ereike aufnehmen. Wenn Ihr mich jedoch an den alten Hafen bringt … ich sein kann, wo sie war … so besteht die Möglichkeit, dass ich diesen verlorenen Faden wieder aufnehmen kann." Silene drehte sich um. Ihr Ausdruck gewann eine harte, spröde Qualität und sie fasste den Syrenia so fest in ihren Blick, dass er diesem unmöglich ausweichen konnte. "Erlaubt mir mein Möglichstes zu tun um Euch zu helfen, sie zu finden. Sollte dem Mädchen etwas zustoßen, so würde ich eine Schuld auf mich nehmen, mit der ich mich nicht abfinden kann."

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

    2 Mal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • Die Stimme der Valisar weckte ihn und verdutzt öffnete Ascan die Augen. Es war ihm unmöglich, zu sagen, wie viel Zeit vergangen war und kurz meinte er sogar, eingeschlafen zu sein. War die Suche geglückt? Über die Schulter blickend, traf sein fragender Blick Silene. Sie sah anders aus, was an dem milchigen Schimmer liegen mochte, der sich über ihre sonst so klaren Augen gelegt hatte und Ascan musterte sie skeptisch. Erst ihre nächsten Worten machten ihm klar, dass er sich nicht verhört hatte und das ließ ihn erleichtert aufatmen. Ebenso beruhigend wie das Wissen, dass sein Zauber nicht mehr auf Ereike lag, so beunruhigend waren die weiteren Worte der Seherin. Das Gesicht des Syrenia verfinsterte sich zusehends. Dunkle Orte gab es am alten Hafen hinter jeder Ecke. Keine besonders große Hilfe...


    Als Silene sich mit kaum hörbaren Schritten entfernte und in den Garten sah, erhob sich Ascan vom Diwan und legte seine Schwingen an. Ein eingegrenztes Suchfeld war besser als gar keines, aber wenn er ehrlich war, hatte er sich mehr von Silenes Fähigkeiten erhofft. Missmutig rieb der Geflügelte sich den Nacken und zog nun ernsthaft in Erwägung, die Stadtwache in die Suche miteinzubeziehen. Allein die Vorstellung verursachte ihm eine Gänsehaut, die bis in sein Gefieder raschelte.


    Ascans Hand wanderte bereits zu seinem Geldbeutel, da überraschte Silene ihn mit einem ungewöhnlichen Eingeständnis. Der trübe Ausdruck war aus ihrem Blick verschwunden und zum ersten Mal meinte er Entschlossenheit auf ihrem Gesicht aufleuchten zu sehen. Unbewegt begegnete er der Kälte, die ihr Starren in seinen Schläfen prickeln ließ, während ein undeutbarer Ausdruck in seiner Mimik erschien. „Einverstanden. Eure Hilfe ist willkommen...“, nickte er und zögerte nicht länger, sich auf den Rückweg zur Eingangstür zu machen. Noch im Gehen ließ er seine dunkle Stimme lauter erklingen, sodass sie durch die hohen Räume wie durch einen Klangkörper schwang. „Aber auf dem Flug dorthin erklärt Ihr mir, warum eine Valisar sich Gedanken um Schuld macht.“

  • Dass Silene keine Widerworte, sondern Zustimmung entgegengebracht wurde, erfüllte sie mit der eisigsten Form von Zufriedenheit, die man sich vorstellen konnte. Es war gut. Für sie wäre es völlig inakzeptabel gewesen, eine derart wichtige Aufgabe zu erhalten und nicht durchsetzen zu können, dass das Höchstmaß an Bemühungen in deren Erfüllung floss.
    In ihren Augen spiegelte sich noch eine gewisse Zeit der schwer durchschaubare Blick Ascans, ehe er sich auf den Weg zur Türe machte und ihr den geflügelten Rücken zuwandte. Eng angelegt und zusammengefaltet leugneten seine Flügel ihre wahre Spannweite, doch Silene hatte ihre Maße gesehen, vertraute gänzlich darauf, dass sie die beiden ungleichen Wesen erneut sicher durch die Lüfte tragen würden. Die Worte, die er noch sprach, fielen schwer und tief wie Regentropfen von der Kuppelspitze und die rauen, weiß verputzten Wände warfen ihr dunkel resonierendes Echo zurück.
    Sie kannte den Syrenia nicht, auch wenn sie einige tiefe Einblicke erhalten hatte und er kannte sie nicht, hatte er doch bisher kaum einen Hauch ihres erfrorenen Seins gespürt.
    Die kurze Zeit, die sie miteinander verbracht hatten und die wenigen Worte, die gewechselt worden waren, rechtfertigten längst nicht den Austausch persönlicher Sichtweisen und Beweggründe. Doch er schien wie so viele Fühlende zu sein, denen Silene in ihrem langen Leben begegnet war und Voreingenommenheit, gepaart mit der atemberaubenden und teils furchterregenden Andersartigkeit des kalten Volkes, warfen stets Fragen auf die sich nur schwer zurückhalten ließen.
    Wie viele interessante Vorurteile und Schlüsse über ihre Art sie schon gehört hatte, konnte sie bei bestem Willen nicht sagen, aber es überraschte sie selbstverständlich nicht, sie zu hören. Im Gegenteil, sie konnte es nachvollziehen. Das Fremde, das Unerklärliche … es musste die Fühlenden so sehr anziehen, wie Silene danach strebte, deren widerwilligen Muster zu ergründen.


    Sie verließen schweigend das Haus durch desen weite Pforte, wurden vom silbernen Klingen der Windspiele empfangen, als hätten diese auf ihre Ankunft gewartet. Silene legte sich ihren Umhang wieder um die Schultern, schloss ab und ehe sie sich endgültig aufmachen konnten, gewährte sie Ascan noch eine vorläufige Antwort.
    Ihr glaubt, ich benötige eine andere Begründung dafür, als Ihr selbst. Weil ich Schuld nicht ... empfinde, nicht wahr?, klang die Gegenfrage in ihrem Kopf und Silene trat mit einen Schritt näher an den Syrenia heran, sodass sie sich in seiner Reichweite befand und er sie mühelos auf seine Arme würde heben können. Sie nickte leicht, worauf hin ein klarer Glanz über ihre kristallenen Iriden zog.
    "Natürlich werde ich Euch Eure Frage beantworten."

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Draußen schien es noch drückender geworden zu sein, sodass selbst der milde Klang der Windspiele träger klang. Während Ascan darauf wartete, dass die Seherin die Eingangstür verschloss, zog er seine Kapuze nach vorn. In dieser Hitze hätte er gern darauf verzichtet, doch niemand musste sehen, dass der Rabe neuerdings gemeinsame Sache mit der weißen Wahrsagerin machte.


    Noch immer die drängende Zeit im Genick spürend, nickte Ascan nur zur Zusage der Valisar und ersparte sich nutzlose Höflichkeiten, indem er sie wortlos erneut auf seine Arme hob und sich ihren Arm um den Nacken legen ließ. Dieses Mal bot sich keine Möglichkeit, dem Aufstieg ein paar Meter abzuringen, stellte er mit lautlosem Groll fest. Offenbar war hier nicht alles so syrenisch wie es den Anschein erweckt hatte. „Wartet mit euer Geschichte, bis wir oben sind. Der Aufstieg wird dieses Mal weniger... sanft“, knurrte er und öffnete seine Schwingen.


    Die ersten Flügelschläge dienten allein dazu, seine Muskeln aufzuwärmen, was den Vorgarten zugleich in einen hellen Klangteppich hüllte. In einer fließenden Bewegung, die den letzten Schlag aufgriff, stieß der Geflügelte sich von den Stufen der Veranda ab und stemmte sich gegen die Schwerkraft, die sich mit unsichtbaren Fingern an seine Glieder und die der Seherin klammerte. Nach fünf schweren Schlägen war endlich genug Höhe und Geschwindigkeit gewonnen, um den Flugwind voll ausschöpfen zu können. Seinen Atem beruhigend, spürte Ascan den Schweiß an seinen Schäfen hinabrinnen. Selbst ohne Sonnenlicht glich Nir'alenar an manchen Tagen einem Backofen und die seltsame Kälte der Frau in seinen Armen machte das um keinen Deut besser. Noch so ein Kraftakt und er würde für den Rest des Tages in den Seilen hängen.


    Seine Flughöhe bewusst niedrig haltend, rauschten die Dächer eine gefühlte Handbreit unter ihm entlang, bis ihr Kurs sie nach zwei steilen Neigungen über den Dessibar entlang führte. Auf dieser Route konnte er stetig an Höhe verlieren, ohne auf Hindernisse achten zu müssen. „Nun? Ich bin ganz Ohr...“, sprach er Silene erneut an, den Blick in die Ferne gerichtet, wo der Turm Eleria Anuriels in der warmen Luft flimmerte.


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