Das Zelt der Seherin

  • Der Marktplatz muss einer der lautesten Orte in Nir'alenar sein. Bunte Stände drängen sich in den Straßen, bieten alles an, was käuflich ist, Waren aus ganz Beleriar, seltenes und wertvolles und auch einige Dinge, die nur Meereswesen unter die Kuppel bringen können. Wesen nahezu aller Völker schieben sich über den gefüllten Platz, man tritt sich auf die Füße, kommt sich in die Quere, streitet sich um die ein oder andere Errungenschaft. Marktschreier preisen ihre Waren an, Verkäufer eilen kreuz und quer über den Markt um Nachschub herbeizutragen.
    Der Markt ist kein Ort, der zum Verweilen einlädt, doch je weiter man sich von der alles überblickenden Statue des Arion Falkenauge entfernt, um so mehr scheint sich das bunte Treiben zu beruhigen und schließlich findet man den ein oder anderen Stand, der sich elegant aus der hektischen Geschäftigkeit heraushält, sich an die hohen Steinhäuser lehnt und dort auf vorbeigehende Kunden wartet.


    Dort, in einer der ruhigeren Ecken, jedoch noch nicht gänzlich eingeklemmt zwischen den Häusern des Händlerviertels lässt Silene schon im Morgengrauen ihr Zelt errichten. In all den Jahren, die sie in Nir'alenar verbracht hatte, hat sie niemals einen anderen Platz für ihr Zelt gewählt, auch wenn es sicherlich Plätze gab, an denen mehr Leute vorbeikommen. Doch man kennt das weiße Zelt der Seherin und jeder Besucher des Marktes kann darüber Auskunft geben, wenn man danach fragt. Es ist nicht zu übersehen, auch wenn es bei weitem nicht der größte Stand auf dem Markt ist. Es ist auch nicht zu überhören. Eine seltsame Stille legt sich wie ein dichter Mantel über diesen Ort und das silbern klingende Windspiel am verschleierten Vordach scheint diese noch dichter zu weben.
    Auf einer quadratischen, etwa vier auf vier Schritte großen Grundfläche erhebt sich das Gestänge des Zeltes hoch über das Pflaster, schneeweißer, blickdichter Stoff fällt rundum in schweren Falten, gleich einem Vorhang, auf den gefegten Boden hinab, verhüllt alles, was sich dahinter befinden mag und sperrt das Tageslicht aus.
    Es gibt eine silberne Glocke, mit der man sich ankündigen kann, über welcher ein helles Holzschild verkündet, dass dies das Zelt der Seherin Silene Sana'Santaly ist. Die Schleier vor dem Eingang lassen sich mit Blicken nicht durchdringen und selbst, wer einige der Stoffbahnen zur Seite schiebt, muss erst tiefer ins Innere vordringen, um einen Blick hineinwerfen zu können.


    Das Innere des Zeltes wirkt geräumiger, als man von außen erahnen kann, denn zumindest erlaubt es der hochgewachsenen Valisar, aufrecht darin zu stehen. In der Mitte des Raumes steht ein Tischchen, dessen makellose schwarze Marmorplatte auf drei geschwungenen Beinen ruht, zwei bequem gepolsterte Stühle bieten einem Gast und der Seherin selbst einen Sitzplatz. Ein Kerzenleuchter daneben spendet das nötige Licht um sein Gegenüber sehen zu können, doch zusätzlich erfüllt eine kleine Laterne mit blauem Glas in jeder der vier Ecken angebracht das Zeltinnere mit einem unsteten blauen Schimmern.
    Im hinteren Bereich des Zeltes steigt eine dünne Rauchsäule aus einer sandgefüllten Schale, in der stets ein Kohlestück glimmt, auf welches die Seherin hin und wieder ein Körnchen Weihrauch wirft. Ein Hauch dieses Duftes schwebt immer in der Luft, denn er öffnet den Geist der Seherin genau so wie den der Fragenden.
    Es dringen kaum Geräusche nach innen durch, lediglich das Klingen der silbernen Glocke und das leise Flüstern des Windspiels ist von hier zu hören und genau so ist von außen nicht hörbar, was im Zelt gesprochen wird, es sei denn man presst das Ohr an den dichten Stoff.


    Erst am frühen Abend, wenn bereits viele der Stände abgebaut sind, verlässt die Valisar ihr Zelt, lässt es von ihren zwei Angestellten wieder abbauen und bis zum nächsten Tag sicher verwahren.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Dampfende, duftende Schwaden stiegen auf, wo die Marktstände allerlei Speisen für die Händler und Käufer feilboten, die sich zu dieser mittäglichen Stunde auf dem weitläufigen Platz tummelten. Ascan hätte mit geschlossenen Augen fliegen können, denn die herrschende sanfte Brise trug die Gerüche genau in seine Richtung. Auf einem der Giebel am Rande des Marktplatzes aufsetzend, spähte sein Blick zu den Imbissständen hinab. Er hatte seit dem Abend beim Priester nichts mehr gegessen und die Nachricht, dass das Mädchen noch immer verschwunden war, hatte ihn so unvorbereitet getroffen, dass keine Zeit für eine flüchtige Mahlzeit geblieben war. Auch jetzt riss er sich los und ignorierte die flaue Leere in seinem Bauch. Die Suche nach Ereike besaß Vorrang. Später würde er in Ruhe essen.
    Seine Lippen verzogen sich im Schatten der Kapuze und seine nicht bandagierte Hand rieb über seine hellen Bartstoppeln, die inzwischen zu einem ausgewachsenen Drei-Tage-Bart geworden waren. Wenn man unter diesen Umständen von Ruhe sprechen konnte. Die Luft, die ihm blieb, um seine Geschäfte zu regeln, wurde dünner. Nur noch wenige Tage...


    Während sein Kopf noch einmal damit begann, die verbleibende Zeit in strategische Etappen zu gliedern, suchten seine Augen nach dem weißen Zelt, an das er eine vage Erinnerung besaß. Er hatte in seinen ersten Jahren in Nir'alenar oft auf den Giebeln über dem Markt gewacht und nach Dingen Ausschau gehalten... Dingen... von denen er heute nicht einmal mehr wusste, worum es sich dabei gehandelt hatte. Andere Syreniae? Händler mit Dingen von der Oberwelt? Schöne Frauen? Es war zu viel geschehen. Er wusste es beim besten Willen nicht mehr. Nur die Statue des Falkenauge begrüßte ihn mit ihrem ewig wachsamen Blick wie ein alter Vertrauter.


    Schließlich hob Ascan seine Schwingen erneut und gewann mit einigen kräftigen Flügelschlägen an Höhe. Das Gewimmel auf dem Markt wurde zu einem bunten Sammelsurium aus Form und Bewegung, doch nun erkannte er das weiße Schimmern hellen Stoffes zwischen den Steinhäusern abseits des regsten Treibens.
    Der schwere Stoff erbebte leicht als der Syreniae vor dem Zelt aufsetzte. Klingend kündete das Windspiel über dem Eingang vom unerwarteten Windstoß seiner Landung und ließ Ascan kurz unwillig das Gesicht heben. Von dort wanderte sein Blick weiter auf das Holzschild. Die Seherin Sana'Santaly. Mit einem abfälligen Schnauben schüttelte der Syreniae den Kopf. Magie, Flüche, Wahrsager... diese Kuppel war wirklich die reinste Brutstätte für Hokuspokus aller Art.


    Nur widerstrebend faltete er seine Schwingen zusammen und stieß mit seinem Fingerknöchel einmal gegen die feine, silberne Glocke unter dem Namensschild. Der klare Ton überstrahlte mühelos das noch immer unruhig schwankende Windspiel. Ascan verschränkte die Arme und wartete einen Moment. Womöglich brauchte diese viel gerühmte Seherin etwas Zeit, um ihre Glaskugel zu polieren, die magischen Artefakte zu verstecken und ihren professionell verklärten Blick zu üben, doch mehr als einige Atemzüge gönnte er ihr nicht.
    Die weißen Schleier des Eingangs beiseite zu ziehen, bereitete ihm kurz Unbehagen, bevor ihm aufging, woher dieser Eindruck stammte. So erschien nur eine steile Falte auf seiner Stirn, die noch etwas deutlicher wurde als sein rechter Flügel beim Durchschreiten des Eingangs in einer der Schleierbahnen hängen blieb. Er sparte sich einen derben Fluch und atmete nur einmal tief ein. Einen unsanften Ruck später waren seine Federn wieder frei.


    So finster wie er das Innere des Zeltes musterte, so durchdringend richtete sich sein Blick auf die Seherin.

  • Die Zeit verging wie an jedem Tag in Silenes Leben, langsam aber stetig. Sie zerfloss ohne eine Spur zu hinterlassen, ohne etwas in der Valisar zu bewegen. Silene saß regungslos an ihrem Platz, während hinter ihrem Rücken ein ebenso unbewegter dünner Faden Weihrauch aus der Räucherschale aufstieg, senkrecht zur Decke des Zeltes hinaufstrebte und sich erst dort in hauchdünne Kringel zerteilte.
    Auf der weißen Stirn der Seherin zeigte sich keine einzige Falte, doch Silene war in tiefe Gedanken versunken, mit geschlossenen Augen fokussiert auf die Erinnerung an den Traum, der ihr in der vergangenen Nacht geschenkt worden war. Ungewohnt klare Bilder hatte er zurückgelassen, Bilder scharf gezeichneter Gesichter und realer Orte, die es auf Beleriar gab, doch noch hatte sich der Seherin seine Bedeutung nicht erschlossen, noch war es ihr nicht möglich gewesen zu erschließen, ob diese Geschehnisse in der Vergangenheit lagen oder zukünftiger Natur waren.
    Doch in allen Dingen lag ein Sinn verborgen und wenn sie diesen einen nicht ergründen konnte, so lag es nicht an der vermeintlichen Sinnlosigkeit des Traumes, sondern an ihrem eigenen Unvermögen klar genug zu sehen. Die ineinander verschränkten Finger ihrer schlanken Hände ruhten auf dem schwarzen Marmor des ansonsten leeren Tisches, ihr Sitz war aufrecht, sodass sich ihr Haar wie ein silberweißer Fluss über ihren dunkel gekleideten Körper ergoss und es nicht eine Strähne wagte, aus dessen Verlauf auszubrechen.


    Das helle Klingen der Glocke zog ihre Aufmerksamkeit rasch aus der Tiefe, ließ sie die Oberfläche ihres Geistes, zuvor ruhig wie ein tiefer See, Wellen schlagend durchstoßen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, legte die Gedanken an ihre Träume ab und schlug die eisig blauen Augen auf, richtete sie geradeaus, auf den Eingang ihres Zeltes, dessen Stoffbahnen in Bewegung geraten waren.
    Aus den leichten Schleiern befreite sich schließlich unsanft eine schwarz geflügelte Gestalt, deren Umriss vertraut wirkte, auch wenn sie diesen einen Syrenia nie zuvor gesehen hatte. Die statuengleichen Syreniae mit ihren mächtigen Schwingen waren ein häufiger Anblick in ihrer Heimatstadt, in Nir'alenar dagegen begegnete man dem geflügelten Volk nicht all zu oft und schon lange hatte sie weder deren melodische Sprache noch eine ihrer Zauberstimmen mehr vernommen, auch wenn sie deren Klangmuster augenblicklich wiedererkennen würde.
    Sein Gesicht wurde von einer Kapuze überschattet, das schummerige Licht im Inneren des Zeltes half dabei, es vor ihrem Blick zu verbergen, doch sie wusste, dass er sie ansah. Einzutreten, ohne hereingebeten zu werden und sein Gesicht zu verstecken, das jeden nur erdenklichen Ausdruck tragen konnte, entsprach nicht ihrem Verständis von Freundlichkeit, doch da sich die Seherin nicht erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein, maß sie diesem Gebaren keine besondere Bedeutung zu. Zwar widersprach es dem Bild, das sie von den höflich-distanzierten Syreniae ihrer Heimat hatte, doch war er nicht der Erste, der ohne ein Wort des Grußes und befangen von zunächst nicht näher bestimmbaren Emotionen ihr Zelt betrat.


    Silene begegnete ihm so lediglich mit dem entseelten Blick, der allen Valisar zu eigen war und einer Stimme, die kälter und glatter nicht sein konnte.
    "Seid willkommen.", begrüßte sie den Syrenia, erhob sich von ihrem Stuhl, wie es ihr die Höflichkeit gebot und ohne dass sich etwas an ihrer Gestik oder Mimik veränderte, wirkte die Valisar auf Augenhöhe mit ihrem Gast noch erhabener als zuvor. Die Fingerspitzen ihrer kühlen Hände berührten den Marmor des Tisches vor ihr. "Was führt Euch zu mir?"

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

    Einmal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • Was Ascan sah, entsprach nicht seiner Vorstellung. Kein ablenkendes Brimborium, keine billigen Utensilien, die die Gedanken der leichtgläubigen Kundschaft beschäftigen sollten, nur die wie gefroren wirkende Frau, die ihm aus unbewegten Eisaugen entgegen blickte. Eine Spannung wie vor einem nahenden Gewitter rann über seinen Nacken. Nur eine Valisar brachte einen solchen Blick zustande und diese hier hätte sich dabei nicht besser in Szene setzen können. Die schwarze Kleidung, das silberne Haar und das blaue Licht raubten jede Farbe von ihrem Antlitz. Einzig die drei warmen Flammen des Kerzenleuchters spiegelten sich in ihren kalten Augen.


    Dass es genügte, um ihm die Sprache zu verschlagen, hätte er ihr unter anderen Umständen übel genommen. So schob er es auf seine Überraschung. Hätte er noch einen Zweifel an ihrer Volkszugehörigkeit gehabt, hätte ihn ihre kühle, monotone Stimme gänzlich überzeugt. Ohne Umschweife erhob sich die Seherin von ihrem Platz und wählte eine neue Haltung, die nicht weniger kontrolliert erschien.
    Mit einem inneren Ruck löste sich Ascan aus der Wirkung, die ihr geisterhafter Anblick erzeugt hatte. Sie kurzerhand mit Daerid gleichsetzend, fand er seine vertraute Fassung wieder und hob seine Hand, um seine Kapuze nach hinten zu streifen. Er gönnte ihr keinen Hinweis auf die Skepsis, die sein Gesicht eben noch beherrscht hatte, doch eine gewisse Härte haftete selbst jetzt seinen unbewegten Zügen an. "Den Göttern zum Gruße, Seherin", erwiderte er die Begrüßung in formeller Manier und setzte weitere Schritte ins Zelt hinein, wo er knapp hinter dem Stuhl für die Kundschaft stehen blieb. Seine Rechte legte sich auf dessen Lehne, während er den Blickkontakt zu der Valisar ungerührt hielt. "Ich bin nicht meinetwegen hier", stellte er klar. "Meine Belange sind in meinem eigenen Kopf bestens aufgehoben und ich lege keinen Wert darauf, dass sich daran etwas ändert."


    Sein Griff um die Stuhllehne verstärkte sich. Es war ein flüchtiger Eindruck, mit dem Widerwille über seine Mimik huschte, denn die folgenden Worte fielen ihm keineswegs leicht. Was der Funken an Widerstand zurückließ, war ein ruhiger Ausdruck, der von Sorge sprach. So warm und wohlklingend es die Stimme des Syreniae vermochte, schilderte er sein Anliegen: "Es geht um ein Mädchen, kaum sieben Jahre alt, die seit gestern Vormittag vermisst wird. Mit jeder Stunde, die vergeht, schwinden die Chancen, sie zu finden. Die wenigen Hinweise, die ich hatte, haben ins Leere geführt - und wüsste ich nur einen anderen Weg, um sie aufzuspüren, wäre ich jetzt nicht hier, das kann ich Euch versichern." Er vertrieb den schneidenden Ton, der sich in seine letzten Worte geschlichen hatte, mit einem Kopfschütteln. "Ich weiß wie das Mädchen aussieht und sie trägt etwas von mir bei sich." Seine Augen verengten sich beim prüfenden Blick ins blasse Gesicht der Valisar. "Besteht die geringste Möglichkeit, dass Ihr sie dadurch findet?" Die Ungeduld trübte seine Stimme und ließ sie bedrohlicher klingen als es seinem Zweck diente, doch das war ihm gleich. "Wenn nicht, sagt es mir jetzt gleich und stehlt mir und dem Mädchen nicht wertvolle Zeit durch unnütze Ausreden!"

  • Er schlug die Kapuze zurück und es waren harte Züge, die sich Silenes Augen offenbarten, die sie genauestens studierte, als er sich erklärte. Die Seherin bemerkte wohl, dass er mehr Worte sprach, als es bedurft hätte, um ihre Frage zu beantworten. Es mochte ihm wichtig sein, doch ob seine Belange in seinem Kopf bleiben würden, oder sie einen Blick auf sie erhalten würde, war weder seine, noch ihre Entscheidung. Die blasse Narbe, die seine linke Wange schnitt, wollte bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch Silene bündelte diese stattdessen auf die Worte des geflügelten Mannes. Sie konnte Wünsche respektieren.


    Die Valisar war eine Meisterin der Beobachtung, sie erkannte gespielte Emotionen, denn das war es, was sie sah, wenn sie in einen Spiegel blickte - doch die Sorge, welche den flüchtigen Widerwillen auf dem Gesicht des Syrenia verdrängte, war echt. Ruhig ließ sie ihn zu Ende kommen, seine Worte sprechen und seine klangvolle Stimme in den Raum entlassen, den sie mühelos ausfüllte. Sie verstand.
    Die Schärfe, die Ungeduld und auch die Bedrohlichkeit in seiner Stimme entgingen ihr selbstverständlich nicht, sie nahm sie zu Kenntnis, ordnete sie ein, doch sie berührten sie nicht. Gleichzeitig war dort eine gewisse Bedrücktheit, die aus seiner ausdrucksstarken Stimme herausklang und sie glaubte ihm ohne Zweifel, dass der Besuch ihres Zeltes in seinen Augen die letzte Chance darstellen musste.


    "Die Möglichkeit besteht.", antwortete sie und sie wies auf den Stuhl, auf dessen Lehne bereits seine Hand Platz genommen hatte. Sie sprach die Wahrheit, doch nichts war in ihrer tonlosen Stimme, an dem man es hätte festmachen können. Natürlich kamen hin und wieder Wesen zu ihr, die jemanden vermissten, doch meist waren dann schon Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte ins Land gegangen, seit sie diesen jemanden verloren hatten. Oftmals blieben der Seherin nur wenige, schwache Anhaltspunkte, nur ungenaue, verblasste Erinnerungen, die ihr sehendes Auge führen konnten und meist fehlte es an dem notwendigen Vertrauen des Fragenden, dass ausgerechnet diese Valisar ihren Vermissten wiederfinden konnte. Vertrauen war etwas, dass die Seherin oftmals nur schwer erwerben konnte und sie sah klar und deutlich, dass es ihrem Gegenüber noch daran mangelte. "Ich verstehe, dass die Zeit drängt. Doch bitte, setzt Euch."


    Ohne darauf zu achten, ob sich der Geflügelte auch setzte, ließ sich Silene zurück auf ihren Stuhl sinken, strich eine Strähne des Silberhaars zurück hinter ihre Schulter und heftete den Blick fest und kalt, wie Frost auf einer Glasscheibe, auf das Antlitz des Syrenia. Wenn er das Mädchen finden wollte, musste er sich sammeln, sich konzentrieren und der Seherin die Hinweise geben, die sie brauchte, um ihre Spur aufnehmen zu können.
    "Ich will ehrlich mit Euch sein. Es wird schwer, ihren genauen Aufenthaltsort zu bestimmen. Doch Ihr sagtet, sie trägt etwas bei sich, dass Euch gehört … was ist es?"

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  • Seine Erleichterung über ihre Zusage währte nur so lange bis sie ihn aufforderte, Platz zu nehmen - was sie nahezu im selben Atemzug tat. So ruckartig als habe er sich an dem dunklen Holz verbrannt, löste sich Ascans Hand von der Stuhllehne. Ein sinnloser Reflex, denn er hatte bereits befürchtet, dass er um das ein oder andere Prozedere nicht herumkommen würde. Was würde es sein? Handlesen? Kartenziehen? Trancegesänge? Allein das Wissen, dass die Valisar mit allen Informationen nur sachlich umgehen konnte, brachte den Syrenia dazu, sich tatsächlich zu setzen, wobei er die Lehne des Stuhls kurzerhand nach vorn drehte und seine Arme darauf verschränkte. Keine gute Sitte war die abgeknickten Federn wert, die dieses unsagbar unbequeme Möbelstück in seinem Gefieder hinterlassen würde.


    "Wenn 'schwer' bedeutet, dass es teuer wird, macht Euch darum keine Gedanken. Was immer es kostet, ich kann es bezahlen", erklärte er ohne eine Miene zu verziehen. Er würde keine Zeit mit Preisverhandlungen vergeuden. "Sie trägt eine meiner Federn bei sich. Eine kleinere Schwungfeder." Ascan hob seinen linken Flügel und fächerte ihn raschelnd soweit auseinander wie es die enge Begrenzung des Zelts erlaubte. Abermals drängte sich ihm der Gedanke auf, dass das Zelt zu klein war, um sich gut darin bewegen zu können. Seine Finger, die der weiße Verband aussparte, deuteten vage auf seine obere Armschwinge, wo die Federn etwas unter zwei Spann lang waren. "Als ich Ereike zuletzt sah, steckte die Feder aufrecht eingeflochten an ihrem Hinterkopf. Das war gestern kurz nach Tagesanbruch. Danach hat sie niemand mehr zu Gesicht bekommen."


    Er suchte den Blick der Seherin und zog seine schwarze Schwinge wieder zusammen. Das Kerzenlicht blendete in seinem Augenwinkel, nun da sich seine Augen an das diffuse Licht im Zelt gewöhnt hatten.

  • Die ungewöhnliche Art, auf die er sich setzte, bewirkte, dass die Valisar für einen Moment an Jahre denken musste, die lange zurück lagen. Natürlich. Silene bemerkte ihre eigene Nachlässigkeit. Die Sitzgelegenheiten in dieser Stadt, mit ihren Rücken- und Armlehnen waren nicht auf die Belange des geflügelten Volkes ausgerichtet, genau so wenig wie die schmalen Türbögen, die teils viel zu niedrigen Decken, die beengten Räumlichkeiten, zu denen zweifelsohne auch ihr Zelt gehörte. Somit war es gewiss kein Umfeld, in dem sich ein Geflügelter wohlfühlen würde, was Silene zwar ungerührt bemerkte, sich aber eine gedankliche Notiz machte, dies berücksichtigen zu müssen.


    Still maß die Seherin den Syrenia für einen Atemzug, was das Zelt in eine unheimliche Stille tauchte. Er wirkte nicht unbedingt wie jemand, der unbegrenzte finanzielle Möglichkeiten hatte, doch auf der anderen Seite mochte nicht jeder nach außen tragen, wie vermögend er war. Zudem sprachen der Nachdruck in seiner Stimme und die unbewegte Miene für sich.
    Aufmerksam verfolgte sie die Bewegung, die durch das Gefieder wanderte, als er eine Schwinge auffächerte und die schwarzen Federn sich etwas spreizten. Die langen, dunklen Federn seiner Handschwinge berührten fast die Außenwand ihres Zeltes und doch hatte der Flügel seine Spannweite nicht annähernd erreicht. Das Geräusch der aneinander reibenden Federn ließ Silene die Macht des Windes erahnen, der diese Flügel in die Höhe ziehen konnte. Vertieft in den Anblick des Flügels, huschte ein undeutliches Bild an ihrem inneren Auge vorbei, hinterließ dort in der nebelhaften Leere einen flüchtigen Deut von Farbe.
    Rasch richtete sich Silenes Blick wieder auf die grauen Augen ihres Gegenübers und in ihm lag ein frostiger Glanz, der noch vor wenigen Augenblicken nicht sichtbar gewesen war. Kein Zweifel, eine Feder versprach eine gute Verbindung. Wenn er sich in sich selbst versenken konnte, unabgelenkt von seiner eigenen Sorge und Angst an die entscheidenden Momente denken konnte, würden die Bilder mit Leichtigkeit kommen.


    "Schwer bedeutet nicht mehr, als dass es schwierig wird. Für Euch möglicherweise noch mehr, als für mich.", kommentierte sie schließlich sachlich und ohne dabei mit der Wimper zu zucken. "Normalerweise würde ich einen Fragenden bitten, mir seine Hand zu reichen, um eine Verbindung zu erschaffen.", erklärte die Valisar und ihre eigene linke Hand erhob sich, deutete leicht auf die in der Verschränkung der Arme verborgenen Hände ihres Gegenübers, wovon eine zudem noch verbunden war. Ein Zeichen womöglich? Dann bewegte sich ihre Hand weiter, bis ihre langen, weißen Finger in einer anmutigen Geste auf die zusammengefalteten Flügel hinter seinem Rücken zeigten. "Angesichts der Tatsachen wäre es für diese Suche jedoch weitaus hilfreicher, wenn Ihr mit erlaubt, Euer Gefieder zu berühren."
    Noch immer sah die Valisar geradeaus in das edle Gesicht des Syrenia, eigenartig und ohne einen deutbaren Ausdruck, aber mit einer Tiefe, die man im Blick eines gefühllosen Wesens nicht erwarten würde.

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  • Ascans rechte Augenbraue sprang nach oben.
    Seine Schwingen zu betatschen, war so ziemlich das Letzte, was er ihr erlauben würde! Besaß sie eine Vorstellung davon, dass eine solche Berührung unter Syreniae fast mit der Intimität eines Kusses gleichzusetzen war? Ihre Formulierung ließ darauf schließen...


    Die Hacken seiner Stiefel rieben über das Steinpflaster und die Furche auf seiner Stirn sprach ihre eigene Sprache. Er wusste, dass er kostbare Zeit verschwendete. Niemand außer der Seherin und ihm würden jemals erfahren, was in diesem Zelt vorgefallen war und er würde ihre Lippen mit genug Gold versiegeln, um sicher zu stellen, dass das für immer so blieb. Im Endeffekt war es für das Mädchen. Sollte er aus falscher Würde ihr Leben riskieren? Als ihm klar wurde, dass er sich Ausreden zurechtlegte, um es Kyleja begreiflich zu machen, bremste Ascan sich und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Silene war eine Valisar. Wenn es ihm nichts bedeutete, bedeutete es rein gar nichts.


    "Wenn es die Chancen erhöht, tut es", nickte er und versuchte nicht, aus dem Ausdruck ihrer Augen schlau zu werden.
    Was sie ihm an Emotion zeigte, war sicher nicht weniger kalkuliert als die tote Geste, mit der Daerid die Lippen zu einem Grinsen verzog. Dass sie Ereike sehen würde... und sonst nichts... war alles, was zählte.


  • Vielen mochte jegliche Berührung mit der kalten Haut der Valisar unangenehm sein, selbst wenn es nur die flüchtige, leichte Berührung ihrer Hand war, doch was die meisten noch mehr scheuten, war der Blick in ihren Kopf und noch mehr, der Blick in ihr Herz. Selbst wenn es der Grund war, warum ihr Zelt betreten wurde, fiel es doch den meisten schwer, ihren Blick zuzulassen.
    Dass die Valisar an dem, was sie sah, nicht teilnehmen konnte, selbst wenn sie gewollt hätte, war die einzige Erleichterung, die sie den Fühlenden dabei versprechen konnte. Es war ihr nicht vergönnt, sich zu freuen, doch genau so wenig war es ihr möglich, heimtückische Gedanken zu hegen. Sie würde niemals über etwas, das sie aus den verworrenen Schicksalsfäden las, lachen und niemals weinen können, niemals in einer Form teilnehmen können, die fühlende Wesen begreifen konnten.


    In seinem Gesicht konnte gelesen werden, wie in einem offenen Buch und was Silene dort sah war die Reaktion, mit der sie fest gerechnet hatte. Den Syreniae bedeuteten ihre Federn, ihre Flügel so viel ... sie zu berühren war wenigen Geschöpfen in ihrem Leben vorbehalten … er schien zu hadern, sich zu sträuben, doch letztlich nickte er, zeigte sich einverstanden. Denn wie auch er begriffen haben musste, waren Silenes Berührungen letztlich nur die eines gefühllosen Wesens, völlig unbedeutend und zudem ungesehen, etwas, das man für das Wohl eines Kindes über sich ergehen lassen konnte. Er schien in dieser Hinsicht jene Prioritäten zu setzen, die Silene erwartet hatte, die sie verstehen konnte, auch wenn sie weder seine Sorge, noch sein Sträuben nachempfinden konnte.
    Die Seherin nickte zu seinen Worten, sammelte ihre Gedanken und richtete ihre analytisch arbeitenden Sinne gänzlich auf den geflügelten Mann vor ihr, der ihrem durchdringenden Blick mit erstaunlicher Fassung standhielt. "Ich werde alles tun, was mir möglich ist. Doch der Erfolg dieses Unterfangens wird auch von Euch mitbestimmt. Wenn wir beginnen, müsst Ihr Euch tief konzentrieren. Denkt an die die letzte gemeinsame Erinnerung mit Ereike. Beschreibt mir, was geschehen ist. Fühlt, was geschehen ist. Jedes noch so kleine Detail.", sprach die Valisar kühl und langsam, wissend, dass sie von Gefühlen sprach, einem Konzept dass ihr fremd war. Eine Diskrepanz.


    Sie schloss Augen mit den geisterhaften, weißen Wimpern für einen Moment, ehe sie wieder zu ihm aufsah. "Die Feder entstammt Eurer linken Schwinge?", fragte sie und wartete darauf, dass er eine Antwort gab, während sie sich unendlich elegant erhob. Mit dem Tischchen zwischen ihnen, waren seine Schwingen nicht in Silenes direkter Reichweite, sodass sie ihm näher kommen musste, als zuvor, gar um ihn herumgehen musste um seinen Flügel erreichen zu können. Ihr war jedoch schon in frühester Kindheit Rücksicht und Achtsamkeit anerzogen worden, was einer Valisar wohl nur eingeschränkt möglich war, aber ein Maß erreichen konnte, welches das vieler Fühlender bei weitem überschritt. So wartete sie ruhig ab, ob er sie gewähren ließ.

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  • Die kurzen, prägnanten Sätze und der eisige Blick verliehen ihr eine so frappierende Ähnlichkeit mit Selcaria, dass Ascans Sinne für einen Moment durcheinander gerieten und es einem Wunder glich, dass sich seine Beklemmung nicht nach außen spiegelte. Was sie von ihm forderte, war eine detailgetreue Zusammenfassung der Vorkommnisse auf dem Dachboden. Natürlich konnte er es ihr beschreiben, aber diese Sache mit den Gefühlen...


    Durch das Schließen ihrer Augen verflüchtigte sich die Illusion einer zweiten grauen Schlange gegenüber zu sitzen und Ascan spürte den Schmerz in seiner bandagierten Hand, die er aus Reflex geballt hatte. Langsam löste er seine verkrampften Finger und begegnete dem Blick der Seherin in der festen Absicht, seine Geister unter Kontrolle zu behalten.
    Ihre Frage nach dem ursprünglichen Platz seiner Feder war genau die Art von nüchterner Realität, die ihm dabei half. "Das stimmt", antwortete er mit bewusst ruhiger Stimme. Die Anmut, mit der sie sich erhob, wirkte seltsam surreal in der bläulichen Lichtstimmung und wo ihre Gestalt zur Seite trat, fiel dem Syrenia zum ersten Mal bewusst die unscheinbare Schale auf, aus der sich eine dünne Rauchsäule empor schlängelte. Ascans Mimik verfinsterte sich zusehends.
    Auch, wenn der Geruch von Weihrauch unbedenklich sein mochte, war keinesfalls auszuschließen, dass damit andere, verräterische Aromen aus niederen Motiven überdeckt wurden...


    Dass Silene in der Bewegung innegehalten hatte, war zu ihrem Besten, denn Ascan begann soeben, seine Entscheidung ernsthaft in Frage zu stellen. Wer versicherte ihm, dass sie wirklich über hellseherische Fähigkeiten verfügte? Was, wenn die Valisar ihn nur wie zahllose andere durch ausgefeilte Tricks dazu brachte, sie für einen unfreiwilligen Rausch zu bezahlen, der nicht hilfreicher wäre als vor die nächste Wand zu fliegen? Welches Gewissen sollte sie davon abhalten?
    Seine Flügel öffneten sich nur eine Hand breit, während sich seine schwarzen Federn raschelnd immer weiter aufrichteten. Die vier Schatten, die von ihm ausgingen, begannen dadurch langsam aber stetig größer zu werden. "Ihr praktiziert Euer Gewerbe schon immer in diesem Zelt... auf diese ewig selbe Weise... nicht wahr, Silene Sana'Santaly?" sickerte seine Stimme so tief und verfänglich wie dunkler Honig durch die vom Weihrauch geschwängerte Luft. Die Pupillen seiner im Licht blaugrauen Augen hatten sich zusammen gezogen und verliehen dem Blick, mit dem er sie fixierte, die Bedrohlichkeit eines anvisierenden Raubvogels.


    Er hatte ihr sein Begehr genannt und sie hatte nicht gezögert, ihm genau das zu sagen, was er hören wollte. War es nicht exakt das, was verbrecherische Angehörige ihrer Zunft alltäglich taten?

  • Unbewegt wie eine Marmorstatue sah Silene aus ihren Kristallaugen auf ihn hinab. Nur das regelmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbs verflüchtigte die Illusion der Leblosigkeit und verriet, dass sie ein lebendiges Geschöpf war. Seine wohlklingende Stimme verlieh dem sonst so kalten Klang ihres Namens einen interessanten Effekt, doch vor allem erkannte Silene in ihr einen lauernden, gefährlichen Ausdruck. Er ängstigte sie nicht, denn wie hätte er das können, aber er löste einen reflexartigen Mechanismus aus, der auch in einer Valisar vorhanden war: Vorsicht.
    So wie er sie ins Auge fasste und wachsam auf eine Antwort wartete, musste sich hinter seiner Frage mehr verbergen. Eine Frage hinter einer Frage … es erschien Silene schon immer, als hegten die fühlenden Geschöpfe dieser Welt eine besondere Vorliebe für solche Uneindeutigkeiten.
    Ihr Geist begann zu kalkulieren, doch das leise Rauschen der Federn hatte ihr inneres Auge weit geöffnet, jenes Auge, das sehen konnte, was allen anderen verborgen blieb. Das Geräusch schwemmte einige Bilder heran und Silene horchte innerlich auf, hielt die Bilder für einen Moment fest, bevor sie diese wieder gehen lassen musste. Es waren seine Erinnerungen, diese Dinge, die er für sich behalten wollte, die sich ihrem Auge jedoch so aufdrängten, dass sie es nicht davor verschließen konnte.
    Wind, der an weißem Seidenstoff zerrte. Wehendes, weißes Haar ... schäumende Gischt auf Felsen … und zwischen all dem Gestein … kleine, zerbrochene Muschelhälften, eine jede einzelne in Form eines weißen Flügels ...


    Das Kerzenlicht brach sich tausendfach in ihren Kristallaugen, die noch immer keinen Ausdruck in sich trugen, jedoch noch etwas leerer wirkten als zuvor. Ihr Kopf neigte sich zu einem schwachen Nicken, doch ihr Blick verlor den seinen nicht. Ich sehe, dass Ihr mir nicht traut.
    "Seit Jahrzehnten ist dies der Ort, an dem meine Fähigkeiten am meisten benötigt werden. Meine Weise ist dabei die beste, die einer Valisar durch Minarils Segen ermöglicht wird.", antwortete sie wahrheitsgemäß in die Stille hinein und legte keine der vielen falschen Emotionen, die ihr zu diesen Worten einfallen wollten, in ihre schneidend kalte Stimme.


    Sie würde auch dem Syrenia ihr Auge leihen, wie sie es so vielen zuvor geliehen hatte. Es war was sie tat, was sie vermochte, was ihrem Leben den Hauch einer Sinnhaftigkeit verlieh. Sie würde für ihn auf eine Art und Weise nach Ereike suchen, die niemandem sonst möglich war. Er war der einzige, der dem noch im Weg stand. Silene suchte in seinem angespannten Gesicht nach einer Reaktion auf ihre Worte, während sie noch einmal die Stimme erhob. "Wenn es etwas gibt, dass Ihr mich fragen wollt, so fragt."

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Die Worte, die ihrem Nicken folgten, waren so leer wie ihr unberührtes Porzellangesicht. Ascan erwog, die Seherin durch seine Fähigkeiten zu einem Geständnis zu verleiten, doch sollte er sich wider Erwarten irren, riskierte er damit womöglich Ereikes letzte Aussicht auf Rettung. Mochte er die Valisar auch nicht beleidigen können, bedeutete das nicht, dass sie ihm danach nicht aus purem Prinzip die Tür weisen würde.
    Was er brauchte, war ein Beweis; eine Kostprobe ihres Könnens. Grübelnd lehnte sich der Syrenia auf dem Stuhl zurück und zupfte gedankenversunken an seinem Verband herum ohne dabei den Blick von Silene abzuwenden. Etwas, das sie nicht wissen konnte... das sich auch nicht herleiten ließe... ein Detail, das ihr auf Beleriar nichts nutzen würde...


    Die Lösung zeichnete kurz ein Lächeln in Ascans Mundwinkel. "Gestattet mir, Euer Können auf die Probe zu stellen", verlangte er klangvoll und seine Höflichkeit stand dabei in scharfem Kontrast zu dem bohrenden Blick, mit dem er sie noch immer maß. Er wartete nicht auf ihre Zusage, sondern erhob sich ohne Umschweife vom Stuhl und trat einen Schritt vor die Seherin, deren kühle Präsenz aus der Nähe noch greifbarer wurde. Obwohl die anmutige Gestalt Silenes hochgewachsen war, konnte er problemlos auf sie hinabblicken und Ascan wusste, wären da nicht ihre Augen gewesen, die seinen Blick wie zwei glitzernde Winterseen spiegelten, hätte ihre Schönheit ihn gewiss nicht kalt gelassen. "Beantwortet mir diese eine Frage wahrheitsgemäß und ich werde Euch jedes Wort glauben, das Ihr mir über das Mädchen erzählt."


    Seine nicht bandagierte Handfläche hob sich und verharrte knapp auf Brusthöhe zwischen ihnen. Hierbei würden seine Federn ihr nicht weiterhelfen. Um eine Oktave tiefer erklang seine Frage, mit der er prüfen würde, welche Form der Wahrsagerei es tatsächlich war, die sie betrieb. "Wie lautet mein wahrer, vollständiger Name, der mir von meinen Eltern vermacht wurde, Seherin?" Erst als sein letztes Wort verklang, wurde Ascan klar, dass selbst er in dieser Frage nicht gegen jeden Zweifel erhaben war... doch diesen Gedanken verriet sein Gesicht nicht.

  • Silene beobachtete ihn eindringlich. Sie glaubte fast, die sich kreuzenden Gedankenstränge hinter seiner Stirn sehen zu können und wie er sich durch sie hindurchwand. Da er seinen Blick dabei nicht von ihr abwandte, sah sie deutlich, dass das Lächeln auf seinen Lippen seine Augen nie erreichte, bevor es wieder verlosch.
    Er wollte also einen Beweis sehen. Ein nachvollziehbarer Wunsch und doch war Silene für einen Augenblick entschlossen, ihm diesen zu verwehren. Nach all den Jahren war sie es gewohnt, herausgefordert und in Frage gestellt zu werden, doch sie war kein dressiertes Tier, welches auf Kommando seine einstudierten Kunststücke für jeden vollbrachte, der sie sehen wollte.
    Der Syrenia kam ihr näher, so nahe, dass es nun an ihr war, zu ihm aufzusehen. Er überwand damit eine unsichtbare Grenze, die sich eng um die Seherin zog und hinter welcher ihre Kälte so spürbar war, wie der frische Wind an einem Wintermorgen. Gleichzeitig war die Wärme, die sein Körper abstrahlte stark genug, um die Spitzen ihrer feinen Haare in einen Hauch von Bewegung zu versetzen.


    Er hatte sie in eine ausweglose Situation gebracht. Wenn sie ihm eine Antwort schuldig blieb, würde sie nicht nur ihre Glaubwürdigkeit vor ihm verlieren – was ihr gleich gewesen wäre, denn um ihn ging es in diesem Fall nicht – sondern sie würde mit ihm die Möglichkeit verlieren, das Kind aufzuspüren und damit eine Schuld auf sich laden, die sich mit ihren starren Lebensregeln nicht vereinbaren ließ.
    Er bot ihr die Fläche seiner unverletzten Hand dar, warm und lebendig. Die bläulichen Lippen der Gefühllosen zuckten kurz und es war, als wollte sich tatsächlich ein Lächeln auf ihnen formen, doch stattdessen waren es Worte, die klirrend und klar wie Schmelzwasser von ihnen abperlten. Sie hatte entschieden.
    "So soll es sein.", sprach sie leise, hörte aufmerksam darauf, wie er seine Frage ausformulierte, wie er jene dunkle, tiefe Stimme dazu verwendete und ließ ihre Gedanken davon leiten.
    Lautlos und kontrolliert anmutsvoll erhoben sich ihre eigenen Hände und während ihre rechte seine dargebotene Hand von unten auffing, legte sich die andere in die warme Handfläche, blieb dort leicht und luftig wie frisch gefallener Schnee liegen. "Werdet ruhig. Schließt Eure Augen, wenn es Euch dabei hilft."
    Zum ersten Mal seit er das Zelt betreten hatte, brach sie bewusst den Blickkontakt zu ihm, schloss ihre lang bewimperten Augen gänzlich und streckte langsam ihren anderen Sinn nach dem Syrenia aus, während sich ihr Bewusstsein tief in sie selbst zurückfallen ließ und etwas anderem, ungleich mächtigerem Platz machte. Die Seherin war zu einer Statue mit einer maskenhaften, unberührten Miene erstarrt und kein Indiz verriet, was hinter der makellosen, weißen Stirn vor sich gehen mochte.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
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    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

    Einmal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • Der Teil von Ascan, der sich sicher gewesen war, dass sie seine Forderung ablehnen würde, verfiel bei ihrer Zusage in ein brütendes Schweigen. Der Syrenia entzog seine Hand nicht, ließ die Kälte zu, mit der ihre sanften Berührungen auf seiner Haut nahezu brannten. Langsam begann seine Wärme auf ihre kühlen Finger überzugreifen, doch der Eindruck währte nur einen Moment lang, bis er merkte, dass ihre Hände sich nicht dadurch erwärmen ließen. Kaum spürbar umschloss sein Griff Silenes Handrücken beim Klang ihrer kristallklaren Stimme, die ihn aufforderte, Ruhe zu finden und die Augen zu schließen. Sie selbst hatte die Lider gesenkt und Ascan betrachtete ihr starres Antlitz, das nunmehr einer der makellosen Masken ähnelte, hinter denen die Adelsfrauen ihre Gesichter auf Festbällen verbargen. Kein einziger Muskel zuckte unter der glänzenden Alabasterhaut, kein sichtbarer Atem floss über ihren Mund, doch erst als Ascan sich sicher war, dass sie so verharren würde, schloss auch er allmählich seine Augen und ließ seinen Atem tiefer ausströmen.


    In der einschließenden Dunkelheit waren es seine übrigen Sinne, die stärker in der Vordergrund rückten. Der flaue Geschmack seiner Unruhe, die gedämpften Geräusche des Marktes, über denen sein Herzschlag wie ein dunkler Takt pulsierte, und das schwere Aroma des glimmenden Weihrauchs. Die vage Vorstellung, nach etwas auf dem Grund eines Gletschersees zu greifen, drängte sich in seine Vorstellung. Es war unheimlich und faszinierend zugleich wie kühl sein Blut zurückfloss, nachdem es durch die Hände der Seherin gekreist war, und schon einige Atemzüge später erreichte diese Kälte seinen Kopf wie eine Woge, die unnachgiebig an seinem Bewusstsein zog.


    Er erinnerte sich an ein Erlebnis, das diesem ganz erstaunlich glich. Es war das Erste, was er wusste - davor gab es nichts... nur den weißen Nebel, den er auch in seinen Träumen sah. Er besann sich auf das eisige Meer, das über ihn geschwappt war als er am Strand gelegen hatte. Wieder und wieder und wieder. Die Schwere in seinen Flügeln, vollgesogen vom salzigen Wasser, drückte seine Schwingen selbst jetzt hinab, ließ sie auf seinem Rücken tiefer sinken. Nicht einmal den groben Sand an seiner Wange hatte er damals wahrgenommen. Er hatte einfach nur dort gelegen, nichts wissend, und dem wiederkehrenden Klang gelauscht, der in seiner Brust erklungen war; dem Pochen, das einfach nicht leiser wurde, so lange er auch darauf wartete. Es machte einfach weiter... weiter... wollte nicht aufhören, nicht still sein.
    Der Tod hatte an ihm gezogen wie das offene Meer und solange sich Ascan erinnern konnte, war dies der friedvollste Moment gewesen, den er seitdem in all seinen Jahre erlebt hatte.

  • Zwischen ihren eisigen Händen und der des Syrenia gab es nur einen Hauch einer Berührung, doch mehr bedarf es nicht, um die Verbindung zu schließen. Für einen unsäglich langen Moment sah Silene nichts. Doch dann, mit der selben Verlässlichkeit mit der die Flut nach der Ebbe zurückkehrte, begann es.
    In der Dunkelheit hinter Silenes Augen begannen Nebel aufzusteigen, Nebel, die sich unstet wabernd und fließend verflochten und die dazu einluden, sich in ihnen zu verlieren, doch Silene wusste, nach was sie zu suchen hatte. Nach seinem Namen. Doch nicht nur das … sie sollte den Namen erfahren, den ihm seine Eltern vermacht hatten. Aus dem Dunst materialisierten sich Bilder, zogen vorüber, lösten sich flüchtig auf, bevor sie deutlicher werden konnten. Suchend streckte sich Silenes Geist, tastete sich tiefer vor.
    Und wieder war es der Eindruck von Wind, der sie empfing, der eines strengen, salzigen Windes, der nichts mit dem gemeinsam hatte, der fern der Küsten freundlich über Wiesen und Wälder strich. Eine Brise, in die man sich hineinlehnen musste, um nicht umgerissen zu werden. Wellen, so gleichmäßig wie das Schlagen eines jungen Herzens. Er musste eine lange Zeit in der Nähe des Meeres verbracht haben, denn es haftete so vielen seiner Erinnerungen an, klebte an ihnen wie meeresfeuchter Sand an nackten Füßen.
    Silene sah noch einige weitere, flüchtige Eindrücke, doch nichts brachte eine Antwort auf seine Frage. Sie wusste, dass sie tiefer danach graben musste. Mit so viel Vorsicht, wie sie nur aufbringen konnte, löste sie nach und nach die Fesseln, die sie ihrem sechsten Sinn auferlegt hatte und ließ ihm freien Lauf. Sie würde sehen, was sie sehen musste und sie durfte sich nicht zurückhalten, um weiter voranschreiten zu können.


    Langsam, aber immer deutlicher tauchte schließlich eine alte Erinnerung auf, ein blasser Schimmer nur, unscharf, wie ein Traum an den man sich im Morgengrauen nur halb erinnern konnte. Lichtdurchflutete Szenen drängten sich an ihr Auge, doch Silene konzentrierte sich gänzlich auf den Klang dieser Bilder, denn genau dort vermutete sie eine Antwort. Sie sah, wie sich lächelnde Lippen teilten, ein paar Worte formten, die im ersten Moment zu leise waren und kaum Sinn ergaben. Als sie zum zweiten Mal erklangen, getragen von einer liebevollen, warmen und melodischen Frauenstimme, die jeden Satz wie ein Lied sang, erschloss sich Silene deren Sinn. Sie erkannte die Sprache der Syreniae in ihnen, doch auch, wenn sie ihren Inhalt verstand, zählten die vielen anderen Worte nicht. Es waren lediglich zwei, die sie mit in die Welt außerhalb des Nebels nahm.
    Jemand hatte ihn gerufen, beim Namen genannt.


    Mit einem scharfen, ungewöhnlich hörbaren Aufatmen schlug die Seherin unvermittelt die Augen auf und sie fanden sogleich das Gesicht des Syrenia, auch wenn sie zunächst ohne einen festen Blick wirkten. Silenes Stimme besaß rein gar nichts von der Lieblichkeit und Wärme, die sie noch in ihren Ohren spürte. Im Gegenteil klang sie so glatt und dunkel wie schwarzes Glas, als sie den Namen sprach, den sie vernommen hatte.
    "Ascan.", sagte sie und der Name floss geschmeidig über ihre Lippen, auch wenn er durch ihre kalte Stimme eine scharfe Kante verliehen bekam. "Ascan Ypios."

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    2 Mal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • Der schneidende Klang ihres Atems erreichte seinen Verstand und zerfetzte das kleine Stück inneren Friedens, das er für sich wiederentdeckt hatte. Nur widerstrebend hob sich Ascans Blick. Der kurze Moment hatte nicht ausgereicht, um darin Erholung zu finden, doch es war mehr als er unter den gegebenen Umständen erwartet hätte.
    Sie blickte ihn wieder an mit diesen Augen, in denen die Welt erfror, und sprach seinen Namen aus. Beide. Knisternd fuhr eine Gänsehaut bis in seine Federspitzen. Die Erkenntnis, letzte Gewissheit gefunden zu haben, vertrieb jeden Ausdruck von seinem Gesicht. Es war wirklich sein Name. Der Name, den niemand auf Beleriar mit ihm in Verbindung brachte. Niemand außer Sel und ihm. Dass er Silene leer anstarrte und seinen Griff nun fest um ihre Hand geschlossen hatte, fiel ihm wenig später siedend heiß auf. Fast erschrocken ließ er von ihr ab und zog seine Finger zurück, die sich so unangenehm taub anfühlten, dass er sie mit seiner bandagierten Hand zu massieren begann. Das nadelspitze Prickeln, das sich daraufhin in ihnen einstellte, war ein geringer Preis dafür, dass er sich jetzt endlich sicher war. In mehrfacher Hinsicht...
    "Ihr habt Recht", gab er dunkel zu, blickte fort und trat einen Schritt zurück, sodass er neben dem Stuhl zum Stehen kam. Bitter fügte er hinzu: "Verzeiht... dass ich Euer Können in Frage stellen musste."


    Die Frage, wie sie etwas in ihm gesehen hatte... etwas, das er selbst nicht sah... bestürmte ihn mit Macht, doch Ascan verbiss sich jedes weitere Wort zu diesem Thema. Er war nicht deswegen hergekommen und das Bewusstsein, dass er für einige Augenblicke sein Selbst mit einer Valisar geteilt hatte, erzeugte eine merkwürdige Übelkeit in ihm, die sich nicht gut mit dem flauen Ziehen in seinem Magen vertrug. Er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ihm gerade das Blut aus dem Gesicht wich und dieses Mal war er froh um die Stuhllehne, auf die sich seine Hand stützen konnte. Seinen Atem zu ruhigen Luftzügen zwingend, senkte er den Kopf und konzentrierte sich auf seine Mission... auf Ereike.


    Seine Selbstbeherrschung gewann den Kampf. Das Ziel klar vor Augen, hob Ascan den Blick und nahm wieder auf dem Stuhl Platz. Es war nicht wichtig, wie es ihm ging. Die Aussicht auf Erfolg war zum Greifen nah. "Meine Zusage gilt, Seherin", erklärte er entschlossen, verschränkte die Arme abermals auf der Stuhllehne und fixierte nach kurzem Blinzeln einen unsichtbaren Punkt auf der schwarzen Tischfläche.

  • Der kalte Atem der Seherin strömte ruhig und gleichmäßig. Mit jeder Sekunde hatte sich seine Hand fester um ihre geschlossen, hatte aus der eher flüchtigen Berührung einen festen Griff gemacht. Die Seherin erwiderte den Druck kaum, würde er doch nur dazu beitragen, die Kälte ihrer Haut schneller auf die des Warmblütigen zu übertragen. Als er es bemerkte, ließ sie seine Hand widerstandslos gehen. Der flüchtige Hauch von Wärme auf ihren weißen Fingern war rasch verdampft.


    Er war blass, bemerkte Silene beim Blick in seine ebenmäßigen Züge, was ihm zusammen mit seiner entschlossenen Miene im bläulichen Licht ihres Zeltes einen unwirklichen Ausdruck verlieh, als bestünde seine Haut aus feinem, glatten Marmor, was seine unrasierten Wangen im Kontrast dazu rau wie Sandpapier wirken lies.
    Er verbarg es gut, doch Silene wusste, dass sich sein Kopf damit beschäftigte, was Silene gesehen haben musste, als sie so tief in seinen Erinnerungen gegraben hatte. Selbstverständlich waren die Bilder an Silene vorbeigezogen ohne dabei eine Spur von Emotion zu hinterlassen. Sie war alleine beseelt von der Überzeugung, damit eine Aufgabe zu erfüllen - doch das war etwas, das sich den Fühlenden so sehr zu entziehen schien, wie es Silene für immer fremd bleiben musste, wie sie fühlten.


    Silene nickte zu seiner Bitte um Verzeihung stumm, zeigte sich verständnisvoll. Sie konnte es ihm nachsehen, seine Zweifel auf Basis der zugrundeliegenden Umstände verstehen, doch seine Worte vermittelten ihr auch den Eindruck, dass er etwas anderes erwartet hatte. Sie zog ein tröstliches Lächeln in Erwägung, wies es dann jedoch entschlossen ab. Der Syrenia wirkte so beherrscht, dass sich Silene im Stillen fragte, was er so angestrengt beherrschen musste. Doch was es auch war, keines der falschen Valisarlächeln würde ihm dabei helfen, diese Fassung aufrecht zu erhalten.


    Er bestätigte ihr, dass seine Zusage noch immer galt.
    "Und so gilt die meine.", entgegnete Silene und während sie langsamen Schrittes um ihn herumging, ihn dabei nicht aus dem Blick ließ, zog auch ein kühler Luftzug hinter ihr her. Das Kerzenlicht erzitterte, fing sich im stählernen Grau seiner Augen, die nichts als die schwarze Fläche vor ihm anstarrten. Silene verharrte mitten in der Bewegung. Es war kein Gefühl, das sie so plötzlich in der Brust spürte, lediglich ein schwaches Pochen ihres Instinktes, tief verborgen unter einer undurchdringlichen Eisschicht. Sie wusste diese Ahnung nicht genau einzuordnen, doch sie legte ihr eine Frage auf die Zunge. In der Stimme der Seherin lag ein tiefgründiges Schwingen, als sie im Rücken des Geflügelten erklang.
    "Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr dieser Anstrengung jetzt und hier gewachsen seid?"

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  • "Ich bin mir sicher. Fangt an." Es gab kein Zögern in seiner Stimme, denn Ascan war klar, dass er keine Wahl hatte. Das Wissen um die Abgründe, die im Gefüge der Stadt und in den Köpfen ihrer Bewohner lauerten, lastete wie ein drohendes Gewitter über ihm. Selbstzweifel waren ein Luxus, den er sich um Ereikes Willen jetzt nicht leisten konnte.


    So fest, das nicht einmal ein Sturmwind ihn bewegt hätte, ruhten Ascans Stiefel am Boden. Die Erwartung, jede Sekunde die kühle Hand der Seherin in seinen Federn zu spüren, verhärtete die Muskeln seines Nackens und spannte seine Schultern an. Gar nicht erst auf ihr Stichwort wartend, senkte Ascan die Lider und begann, entgegen seiner inneren Abwehrhaltung, seine Schwingen für sie zu öffnen. So langsam und bedächtig die Bewegung auch geschah, stießen seine Flügelspitzen dabei unweigerlich gegen die Zeltwände. Was für einen Flügellosen kaum nennenswert erscheinen mochte, durchfuhr Ascan wie ein Peitschenhieb. Die Stoffbegrenzung war verblüffend schwer und viel fester als sie von draußen den Anschein erweckt hatte... und obwohl er sich sicher war, sie mit genug Kraft einreißen zu können, war es ihm, als sei er zwischen den Wänden eingekeilt. Eingeschlossen im Dunkel...


    Mit purer Willenskraft pferchte Ascan seine Unrast und die aufkeimenden Erinnerungen an Stille, Finsternis und Schmerz in ihren Winkel zurück. Ein Zelt. Mehr nicht. Wenn er wollte, könnte er aufstehen und gehen. Trotzdem schlug sein Herz schneller.

  • Vor Silenes Augen entfaltete sich sein nachtschwarzes Gefieder, langsam, behutsam. Die kurzen, geraden Schulterfedern bewegten sich nur schwach, dort wo sie nahtlos in weichglänzende Flügeldecken übergingen, doch unter ihnen fächerten sich die viel längeren Arm- und Handschwingen mit einem reibenden Geräusch weit auf. Eine einzige, fließende Bewegung war es, die jede der dunklen Federn an ihren angedachten Platz brachte, während ihre Spitzen eine anmutig geschwungene Linie verfolgten und eine jede durch das Licht aus den Laternen einen bläulichen Schimmer erhielt.
    Es schien Silene als füllten seine Flügel ihr gesamtes Zelt aus, mit ihrer Dunkelheit wie mit der Kraft, die sie ausstrahlten. Sie konnte und wollte sich diesem prachtvollen Eindruck nicht verschließen, musste die Perfektion dieser Form und deren Proportionen mit ihren Blicken messen und die unbeschreibliche Ästhetik anerkennen. Doch niemals erreichten die Flügel ihre natürliche Spannweite, im Gegenteil, die Spitzen seiner Flügel berührten bald die Außenwände ihres Zeltes, noch bevor sich alle Federn vollständig zeigen konnten.
    Die Angespanntheit des Syrenia lag fast greifbar in der Luft und hinter ihm stehend, konnte die Seherin sie in jedem Detail des Umrisses seines Oberkörpers sehen. Er sagte zwar, er sei sich sicher, doch die Valisar mochte sich seinem Urteil nicht anschließen. Sie wusste, wie sehr die Enge den Syreniae zu schaffen machte und sie ahnte, dass es Dinge gab, die dem Geflügelten schwer auf dem Herzen lasteten, ganz unabhängig von dem vermissten Mädchen.


    Es versprach nichts Gutes, aber sie machte den letzten Schritt, der sie so nahe an ihn heranbrachte, dass sie nur noch ihre Hand heben musste, wo sie für einen Moment über den Federn schwebte, ohne sie wirklich zu berühren. Das Pochen ihres erfrorenen Herzens lag in ihren Ohren, gleichmütig und unbeschleunigt. Ihr sehendes Auge wollte sich bereitwillig und weit öffnen, um jedes Bild empfangen zu können, das sie dem Mädchen näher brachte.
    Ein tiefer Atemzug, ihre Hand senkte sich und behutsam, aber kaum zögerlich strich ihre kühle Hand über das glatte Gefieder, in der Richtung, die ihr die Federn vorgaben und ohne diese zu dabei bewegen. Sie schloss die Augen, atmete ruhig und öffnete sich den Bildern, die sie erwartete. Unter ihren Fingerkuppen fühlten sich die langen Armfedern mit ihren starken Kielen unnachgiebig und doch flexibel an, geschaffen dafür, sich frei nach dem Wind richten zu können. Sollte sie den Ort ausfindig machen können, an dem sich Ereike befand, würden ihn diese Schwingen rasch an sein Ziel tragen.


    "Ihr wisst, was zu tun ist, Ascan.", sagte die Seherin leise und ihre Stimme wurde dabei von der Seite an ihn herangetragen. Dann verstummte sie und überließ ihr Zelt der Stimme des Syrenia, die dieses sicherlich so mühelos vereinnahmen würde, wie zuvor.

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  • Anders als er erwartet hatte, glich ihre Berührung keinem gezieltem Druck, sondern perlte so widerstandslos über seine Federn wie ein schmaler Wasserstrahl. Seine Sinne konnten sich nicht vollständig davon lösen, Silene hinter sich zu wissen, sodass er erst nach der richtigen Stelle suchen musste, an der sein Verstand im Gestern Fuß fassen konnte. Ohne es zu wollen, kam ihm Sels ausgemergelte Hand in den Sinn, die sich unlösbar in seine Schulter krallte. Die Augenbrauen zusammenziehend, besann Ascan sich auf einen anderen Augenblick. Von weit oben auf die morgendliche Stadt herabblickend, versprach er sich einen ruhigeren Ansatzpunkt für seine Gedanken, doch selbst hier war die Wut noch zu stark. Brennend wie eine frisch geschlagene Wunde, kochte die Unrast in Ascan hoch. Das Dach des Waisenhauses tauchte gerade noch wie eine rettende Küste vor ihm auf, auf die er sich dankbar sinken ließ. "Das Haus war noch still als ich auf dem Dach gelandet bin", begann er seine Erzählung mit schwerer Stimme. "Es war zu früh für die Kinder, darum ging ich davon aus, dass mich niemand gesehen hat. Auch der Dachboden war wie ausgestorben... und ich war so unendlich müde... ich hätte selbst auf den spröden Holzleisten geschlafen, hätten dort nicht einige Decken gelegen." Ascan runzelte die Stirn und Verwirrung flirrte durch seinen Kopf. "Nein... ich war erschöpft... aber an Schlaf war nicht zu denken, dafür war ich viel zu..." Wütend. Unruhig. Besiegt. Verzweifelt. Nichts davon sprach er aus, aber es durchströmte ihn und zerrte an seiner Konzentration als erlebe er es ein weiteres Mal.
    "Dann dieses Geräusch... ein Knarren..." Die Erinnerung an Ereike rückte unvermittelt in die Ferne und entglitt ihm, noch bevor er sie festhalten konnte. Stattdessen drängten sich die Zeltwände in Ascans Bewusstsein. Aus dem Holz des Dachbodens wurde Stein und der staubige Geruch losen Gerümpels verwandelte sich in den modrigen Odem eines vergessenen Kellers. Er wollte nicht daran denken, doch unter der Hand der Seherin schienen die Bilder ein Eigenleben zu entwickeln, das sich durch seinen Willen nicht aufhalten ließ. Schon so lange auf ihn lauernd, sprang ihn der Wahn geradezu an. Rotglühende Schmerzen verbissen sich in seinem Verstand, wanden sich eiskalt um seine Handgelenke und bohrten sich bis tief in seinen Leib. Verführerisch zupfte der Wahnsinn an ihm, lockte mit seligem Chaos und ein Schrei kletterte in rasender Eile in seinem Inneren empor. Ascan schluckte ihn entsetzt hinab und brachte sich mit dem schmerzhaften Ballen seiner verletzten Hand in die Gegenwart zurück. Keuchend sackte er tiefer auf der Lehne zusammen und riss die Augen auf.
    Das konnte er nicht noch einmal ertragen...

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