Der Marktplatz muss einer der lautesten Orte in Nir'alenar sein. Bunte Stände drängen sich in den Straßen, bieten alles an, was käuflich ist, Waren aus ganz Beleriar, seltenes und wertvolles und auch einige Dinge, die nur Meereswesen unter die Kuppel bringen können. Wesen nahezu aller Völker schieben sich über den gefüllten Platz, man tritt sich auf die Füße, kommt sich in die Quere, streitet sich um die ein oder andere Errungenschaft. Marktschreier preisen ihre Waren an, Verkäufer eilen kreuz und quer über den Markt um Nachschub herbeizutragen.
Der Markt ist kein Ort, der zum Verweilen einlädt, doch je weiter man sich von der alles überblickenden Statue des Arion Falkenauge entfernt, um so mehr scheint sich das bunte Treiben zu beruhigen und schließlich findet man den ein oder anderen Stand, der sich elegant aus der hektischen Geschäftigkeit heraushält, sich an die hohen Steinhäuser lehnt und dort auf vorbeigehende Kunden wartet.
Dort, in einer der ruhigeren Ecken, jedoch noch nicht gänzlich eingeklemmt zwischen den Häusern des Händlerviertels lässt Silene schon im Morgengrauen ihr Zelt errichten. In all den Jahren, die sie in Nir'alenar verbracht hatte, hat sie niemals einen anderen Platz für ihr Zelt gewählt, auch wenn es sicherlich Plätze gab, an denen mehr Leute vorbeikommen. Doch man kennt das weiße Zelt der Seherin und jeder Besucher des Marktes kann darüber Auskunft geben, wenn man danach fragt. Es ist nicht zu übersehen, auch wenn es bei weitem nicht der größte Stand auf dem Markt ist. Es ist auch nicht zu überhören. Eine seltsame Stille legt sich wie ein dichter Mantel über diesen Ort und das silbern klingende Windspiel am verschleierten Vordach scheint diese noch dichter zu weben.
Auf einer quadratischen, etwa vier auf vier Schritte großen Grundfläche erhebt sich das Gestänge des Zeltes hoch über das Pflaster, schneeweißer, blickdichter Stoff fällt rundum in schweren Falten, gleich einem Vorhang, auf den gefegten Boden hinab, verhüllt alles, was sich dahinter befinden mag und sperrt das Tageslicht aus.
Es gibt eine silberne Glocke, mit der man sich ankündigen kann, über welcher ein helles Holzschild verkündet, dass dies das Zelt der Seherin Silene Sana'Santaly ist. Die Schleier vor dem Eingang lassen sich mit Blicken nicht durchdringen und selbst, wer einige der Stoffbahnen zur Seite schiebt, muss erst tiefer ins Innere vordringen, um einen Blick hineinwerfen zu können.
Das Innere des Zeltes wirkt geräumiger, als man von außen erahnen kann, denn zumindest erlaubt es der hochgewachsenen Valisar, aufrecht darin zu stehen. In der Mitte des Raumes steht ein Tischchen, dessen makellose schwarze Marmorplatte auf drei geschwungenen Beinen ruht, zwei bequem gepolsterte Stühle bieten einem Gast und der Seherin selbst einen Sitzplatz. Ein Kerzenleuchter daneben spendet das nötige Licht um sein Gegenüber sehen zu können, doch zusätzlich erfüllt eine kleine Laterne mit blauem Glas in jeder der vier Ecken angebracht das Zeltinnere mit einem unsteten blauen Schimmern.
Im hinteren Bereich des Zeltes steigt eine dünne Rauchsäule aus einer sandgefüllten Schale, in der stets ein Kohlestück glimmt, auf welches die Seherin hin und wieder ein Körnchen Weihrauch wirft. Ein Hauch dieses Duftes schwebt immer in der Luft, denn er öffnet den Geist der Seherin genau so wie den der Fragenden.
Es dringen kaum Geräusche nach innen durch, lediglich das Klingen der silbernen Glocke und das leise Flüstern des Windspiels ist von hier zu hören und genau so ist von außen nicht hörbar, was im Zelt gesprochen wird, es sei denn man presst das Ohr an den dichten Stoff.
Erst am frühen Abend, wenn bereits viele der Stände abgebaut sind, verlässt die Valisar ihr Zelt, lässt es von ihren zwei Angestellten wieder abbauen und bis zum nächsten Tag sicher verwahren.