Das Zelt der Seherin

  • Was Silene sah, ähnelte jenen flüchtigen, oftmals bildreichen Momenten, kurz vor dem Hinübergleiten in den Schlaf, noch bevor sich wirkliche, klare Träume formen konnten. In fahlen Farbtönen gehaltene, unzusammenhängende Traumfetzen zogen an ihr vorüber, zeigten Geschehnisse, von denen Silene nicht sagen konnte, ob ihnen wahre Begebenheiten zugrunde lagen, oder sie lediglich Illusionen waren. Ascan begann zu erzählen und seine tiefe Stimme wob sich in die Bilder, flocht sich ein und wies Silene einen Weg. Sie folgte seinen Worten, ließ sich von ihnen das Bild malen, dass sie sehen musste. Der letzte Moment, in dem er Ereike gesehen hatte. Das staubige Grau des Morgens, das Flirren des ersten Lichtes durch ein Fenster … sie konnte es immer klarer ausmachen, auch wenn es ein ermüdeter, trüber Blick war, in dem sie den gestrigen Morgen erblickte.


    Ihre Fingerspitzen glitten allmählich von einer Feder zur nächsten, über ihre schmale Außenfahne, die Erhebung des Kiels, über die breitere Innenfahne schließlich zur angrenzenden Feder. Es klang wie Seidenstoff, der über raues Papier gezogen wurde. Ein Zittern ging durch das Bild, so wie sich Wellen um den Punkt kräuselten, an dem man einen Stein ins Wasser warf. Er verlor das Bild und mit ihm auch Silene, die versuchte, sich nicht aus der Erinnerung verdrängen zu lassen. Ein Schleier aus Wut, aus Verzweiflung überschattete die Szenerie, erstickte das bleiche Morgenlicht.
    Im selben Moment, in dem Ascan das Knarren erwähnte, konnte Silene für den Bruchteil einer Sekunde einen leichten Kinderfuß sehen, der sich sachte auf eine verwitterte Holzdiele setzte. Ihre Silhouette war schmalschultrig und im geflochtenen Haar an ihrem Hinterkopf meinte Silene tatsächlich, eine schwarze Feder stecken zu sehen, doch im selben Moment, in dem ihr Fuß auf dem Boden aufsetzte und die Seherin ihren Blick auf das Gesicht des Mädchens richten wollte, glitten Ascans Gedanken davon.
    Reines Chaos loderte auf, verschlang den Dachboden gierig, zerriss die Gedankengewebe mit seinen Krallen und formte daraus eine gänzlich andere Erinnerung, voller … Stein, Mauern, Zerfall, voller Schmerz. Schmerzen waren der Valisar nicht fremd, diese Empfindung war eine der wenigen, die sie besaß und sie erkannte sein gleißend rotes Glühen, wenn sie es in den Fühlenden sah. Und sie sah Wahn, der begann alles völlig willkürlich zu verformen.
    Silene vernahm Ascans Keuchen, spürte den erstickten Schrei in ihm aufsteigen und riss sich von diesem wirren, grotesken Durcheinander los. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, wie der Syrenia tiefer über die Stuhllehne gesunken war, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Silenes Gesicht zeigte eine Falte der Anstrengung zwischen den anmutig geschwungenen Brauen, während ihre Hand den Kontakt zu seinem Gefieder verlor und ohne einen festen Griff an ihre Seite sank.


    "Ascan!", erscholl ihre Stimme bestimmt und streng hinter ihm und klar wie eine Glasscherbe schnitt sie die weihrauchgeschwängerte Luft. Er musste zur Klarheit zurückfinden, auch wenn sie ungreifbar wirkte und sie musste sicherstellen, dass er im Hier und Jetzt angekommen war. Anders als sein Name, der in ihrem Mund zu einem Glassplitter geworden war, klangen ihre nächsten Worte geradezu sanft. "Geht nicht an diesen Ort."

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

    3 Mal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • Ein dunkles Lachen stieg von der Gestalt des Geflügelten auf. Gerade so laut, dass es wie ein Beben in der Luft pulsierte. Die Bewegungen seiner Schultern schüttelten sein Gefieder und ließen ein irritierendes, kicherndes Geräusch in ihnen entstehen. Mit ungehemmter Kraft drückten seine Handschwingen gegen den Zeltstoff und ließen das Gestänge über ihren Köpfen qualvoll ächzen. "Das hatte ich nicht vor", antwortete der Syrenia nach einem atemlosen Moment gefasst und blickte über die Schulter. Das Grinsen in seinem Mundwinkel war schmal und seine Pupillen soweit zusammen gezogen, dass seine Augen unnatürlich hell wirkten.


    Das Gesicht der Seherin wirkte froststarr und unbeteiligt. Gut so. Was immer sie gerade gesehen hatte, ging sie nicht das Geringste an. Ascans Haltung auf dem Stuhl veränderte sich und sein Körper richtete sich wieder zu früherer Spannung auf. Ein erlöstes Quietschen erklang von den Zeltstangen, von denen der belastende Druck seiner Flügel abfiel. Es bereitete dem Syrenia Mühe, seine Frustration über den gescheiterten Versuch unter einer Maske aus Beherrschung zu verbergen und er war nicht sicher, ob es ihm sehr gut gelang. Stechende Schmerzen strahlten von seiner Handfläche aus und eine klebrige Wärme verriet ihm, dass seine Verletzung erneut zu bluten begonnen hatte.


    Ascan ignorierte es. Wie alles andere. Die Frage, ob Silene etwas gesehen hatte, drängte sich auf seine Zunge, doch er stellte sie nicht. Ausgeschlossen, dass es genügt hatte, denn er war nicht einmal dazu gekommen, das Mädchen zu erwähnen. Längst war das Lächeln von seinen Zügen geglitten und hatte eiserner Härte Platz gemacht. Inzwischen rebellierte nicht nur sein Körper, sondern auch seine Seele mit aller Macht dagegen, doch er zwang seine Instinkte zum Schweigen. Tief drang sein Blick in den der Seherin. "Lasst es uns noch einmal versuchen."

  • Silenes Blick flackerte hinauf in das Gestänge des Zeltes, das unter dem Druck seiner mächtigen Flügel aufstöhnte, während Ascans leises Lachen die Luft um sie herum unheilvoll vibrieren ließ. Die Valisar bemerkte, dass er drohte, ihr Eigentum zu beschädigen und es störte sie, wenn auch auf sehr pragmatische, sachliche Art.
    Er sprach auf gefasste Weise, doch als ihre Aufmerksamkeit zu ihm zurück kehrte, hatte er ihr sein Gesicht zugewandt und man musste keine Seherin sein, um den Anflug von Wahnsinn in diesem Anblick zu erkennen. In den weiten, hellen Augen waren seine Pupillen kaum mehr als zwei kleine, schwarze Punkte, zurückgedrängt von einem Ring aus muschelgrauen Strahlen.
    Noch immer flatterte seine dunkle, vor Schmerz triefende Erinnerung aufgescheucht in ihrem Kopf herum und sie löste sich nur zaghaft auf, wie der zähe Nebel eines Herbstmorgens. Ein schwacher Eindruck des Moders, dem Geruch der kalten, rauen Mauern verflocht sich in ihrem Kopf mit dem Weihrauchduft, doch das Augenmerk der Seherin lag in diesem Moment nicht auf dieser Sinnestäuschung, sondern vor allem darauf, zu analysieren, wie tief dieser Wahnsinn saß, der klar aus seinen Augen sprach.
    Die Schlussfolgerung, zu der sie nach wenigen Augenblicken fand, war so naheliegend, dass sie diese für einen Moment ignoriert hatte. Es war einfach. Die Enge seiner Erinnerung spiegelte sich in der Enge ihres Zeltes wieder. Wenn sie ihn an einen anderen Ort brachte … mochte es ihm womöglich leichter fallen, diese alten Bilder gehen zu lassen.
    Das Gestänge seufzte leise, als seine Flügel in ihre ursprüngliche Haltung zurückfanden, als wollte es ihre Gedankengänge bestätigen.


    Spannung lag in seiner Haltung und mit einer versteinerten Miene starrte er in ihre Augen, in das eisige Blau dieser beiden zugefrorenen, doch grundlosen Seen, umgeben vom Raureif ihrer weißen Wimpern.
    Nichts sah zurück. Kein Mitgefühl, kein Ärger, keine Sorge. Nichts. Diese leergefegten Augen mussten ein jedes fühlendes Wesen wohl irgendwann in den Wahnsinn treiben. Nichts schien dazu in der Lage zu sein, die Valisar irgendwie zu berühren oder gar aus der Fassung zu bringen. Ihr Gesicht zeigte die gleiche Ausdruckslosigkeit wie zu Beginn, als Ascan ihr Zelt betreten hatte und in ihrem Inneren herrschte die gleiche Stille.


    "Nein.", entgegnete sie eisig, auch wenn seine Worte keine Frage gebildet hatten, sondern mehr einer Aufforderung glichen. Es quälte sie nicht, sein Leid zu sehen, doch sie erkannte es als solches und es widersprach ihrem Kodex, ihm noch mehr desselben zuzufügen. Das würde sie nicht auf sich nehmen. Außerdem versprach dieses Unterfangen unter diesen Umständen nur wenig Erfolg.
    "Nicht hier, nicht jetzt. Es wäre… unvernünftig.", ergänzte sie und verließ den Platz schräg hinter dem Syrenia, kehrte an ihre ursprüngliche Position zurück, wobei sie den rechten Flügel des Syrenia kühl und leicht streifte. Ungerührt erwartete sie die mit Sicherheit unbehagliche Reaktion auf diese Berührung, während sich ihr Blick auf Ascans mühsam beherrschtes, kreidebleiches Antlitz legte.
    "Euch behagt die Enge nicht. Sie sperrt Euren Geist in einen Käfig aus schmerzvollen Erinnerungen, in welchem kein Raum bleibt für Gedanken an Ereike. Wenn Ihr es noch einmal versuchen wollt …"
    Sie unterbrach sich, um sich eine Strähne des silberweißen Haares aus dem blanken Gesicht zu streifen. Ihre Hände ließen sich auf der schwarzen Tischplatte nieder, auf welche sie sich leicht wie ein Windhauch stützte, sich etwas vorbeugte, um seinen Blick noch fester halten zu können.
    "... so möchte ich Euch einen anderen Ort dafür vorschlagen. Könnt Ihr Euch damit abfinden?"

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    4 Mal editiert, zuletzt von Silene Sana'Santaly ()

  • "Unvernünftig...?" wiederholte der Syrenia fassungslos, während die Valisar um ihn herum schritt. Rasch zog er seinen Flügel an, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Körper seine Federn streifte. Es mischte sich übergangslos in seine übrige Entrüstung. Sein Aufbegehren kündigte sich in der Spannung seiner Kiefermuskulatur an. Wen interessierte die Vernunft, wenn sie daran Schuld trug, dass Ereike verschollen blieb!


    Die Seherin sprach bereits tonlos weiter und erläuterte ihre Entscheidung. Dabei war es die bestechende Sachlichkeit in ihrer Stimme, die eiskalte Präzision ihrer Analyse, die seinem Aufruhr den Wind aus den Flügeln nahm. Es rief das Bild von Selcaria vor seinem inneren Auge wach - und ließ ihn schweigend lauschen. Gleichzeitig brachte ihn ihre letzte Anspielung zum Aufhorchen. Ascan kam sich seltsam dabei vor, wie er so unbewegt verharrte und sie anstarrte, darauf wartend, dass sie ihren Satz beenden würde. Die Bewegungen, mit der sie die lose Haarsträhne zurückstrich oder ihre Hände auf den schwarzen Marmor legte... sie waren unheimlich und schön zugleich. Diese bis ins letzte Detail kontrollierte Anmut war etwas, das sie selbst der grauen Schlange voraus hatte. Sel war zwar ähnlich elegant aufgetreten, hatte dabei aber nicht annähernd diese Perfektion erreicht.


    Als Silenes stechend klare Augen ihn förmlich aufspießten, hätte er fast automatisch genickt. Ein anderer Ort? Sicher hielt ihn nichts in dieser beengten, verräucherten Konstruktion, aber das war nicht der Punkt. "Wie weit entfernt?" fragte Ascan skeptisch, während seine rechte Augenbraue sich hob. Nur kurz huschte ein Grinsen über seinen Lippen. "Ich nehme doch an, Ihr seid schwindelfrei..."

  • Ihre fest auf sein Gesicht gerichteten, ausdruckslosen Augen schienen die beabsichtigte Wirkung gehabt zu haben. Er hörte ihr genau zu, die Wogen seiner Empörung glätteten sich, erstarrten unter ihrem auskühlenden Blick zu einer Eisfläche.
    Die Skepsis in seiner Stimme und seiner hochgezogenen Augenbraue schien nicht besonders weit zu reichen, wenn sie die nachfolgende Anspielung richtig verstand. Dass Ascan zu ihrem gemeinsamen Zielort fliegen wollen würde, war ihr klar gewesen, doch wenn sie seinen Worten die richtige Bedeutung beimaß, wollte er sie mitnehmen, davontragen. Es wollte ihr kein anderer, logischer Grund einfallen, warum er über ihre Schwindelfreiheit besorgt sein könnte.
    Die Seherin hatte das über sein Gesicht fliehende Grinsen verfolgt, war sich für einen kurzen Moment unsicher, ob Ascan sich einen Scherz erlaubt hatte. Doch das Grinsen war verschwunden, es blieb ein offen lesbares Gesicht zurück und Silene sah kein Anzeichen dafür, dass es sich um einen Witz gehandelt hatte.
    Unabhängig davon, entgegnete das marmorne Valisargesicht ohnehin keine seiner Regungen, sondern blieb beängstigend leer und unbeteiligt.


    "Mein Haus liegt im Künstlerviertel. Wenige Straßen nördlich des Parks.", antwortete die Valisar und richtete sich auf, was ihr eine edle Form von Erhabenheit verlieh. Die Eisigkeit ihres Blickes drückte nicht viel aus, doch eines musste dem Syrenia klar sein: sie hatte seine Anspielung verstanden und sie verstand es als Zustimmung auf ihren Vorschlag. "Es ist sicherlich ein weiter Weg. Um meine Schwindelfreiheit ist es jedoch gut bestellt."


    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sich Silene von ihrem Platz an dem Tischchen, ging mit wenigen, fast schwebenden Schritten in den hinteren Bereich des Zeltes, fuhr mit einer Hand hinter einen zarten Vorhang und zog dort einen leichten, dunkelblauen Umhang hervor. Im Vorbeigehen an der Räucherschale benutzte sie das im Sand steckende, silberne Schäufelchen um die Kohle unter dem Sand zu ersticken. Dann ging sie mit den selben Schritten zurück zu dem Syrenia, legte sich ihren Umhang um und fasste ihn in die Augen.
    "Lasst uns keine Zeit verlieren.", forderte sie Ascan auf und schloss mit einem leisen Klicken die silberne Schließe ihres Umhangs, dann trat sie jedoch noch nahe an die Kerzen heran und hauchte deren Flammen mit ihrem eisigen Atem aus. Das Zelt verdunkelte sich schlagartig und alleine das bläuliche Schimmern, das von den Laternen ausging und das Licht, das durch den verschleierten Eingang drang, konnte ihnen den Weg hinaus leuchten.

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  • Ob ihr Haus eine Verbesserung darstellen würde, war zu bezweifeln, doch er wollte es nicht auf eine Diskussion mit der Seherin anlegen. Die mochte im schlimmsten Fall länger dauern als der Weg ins Künstlerviertel. Als Silene sich erhob, löste Ascan die Verschränkung seiner Arme und betrachtete den dunklen Blutfleck, der sich durch den hellen Verband an seiner Hand abzeichnete. Er musste sich wohl oder übel darauf verlassen, dass die Gedankengänge der Valisar auf reinster Logik beruhten... und dies die optimale Lösung darstellte... für Ereike.


    Der Syrenia faltete seine Schwingen zusammen und zog seine Kapuze nach vorn, worauf sich tiefster Schatten über seine Züge legte. Schweigend erhob er sich vom Stuhl und wartete dicht am Eingang darauf, dass Silene ihre Vorbereitungen traf. In Gedanken war er längst hoch über der Stadt und allein diese Vorstellung genügte, um sein Blut wieder kraftvoller strömen zu lassen. Die günstigsten Winde bot die Route über den Dessibar. Dazu der Rückenwind. Sie würden schnell sein. Ascan maß die gertenschlanke Figur der Seherin mit einem einschätzenden Blick. Ihr Gewicht war kaum nennenswert und der Weg, den sie als weit empfand, war für ihn nicht mehr als ein Spazierflug.
    Schon kam die Weißhaarige zu ihm zurück und hüllte sich in einer einzigen geschliffenen Bewegung in ihren Mantel. Zu ihren Worten nickte Ascan wortlos und seine unverletzte Hand glitt zwischen die Seidenbahnen, noch während Silene noch einmal umkehrte, um mit ihrem kühlen Atem die Kerzenflammen zu löschen. Kurz hüllte Dunkelheit sie ein, aber da zog Ascan bereits die Schleier beiseite und ließ die Seherin im hereinfallenden Lichtschein das Zelt verlassen, bevor auch er nach draußen trat.


    Der Stoff seiner Kapuze nahm der plötzlichen Helligkeit ihre Schärfe, sodass er einen Pferdekarren ausmachen konnte, der sich ihnen in diesem Augenblick näherte. Voll beladen mit großen Kisten rumpelte das sperrige Gefährt heran und der holpernde Klang mischte sich mit all den übrigen Geräuschen des Marktes. Die Lautstärke war ein harter Kontrast zu der unwirklichen Stille, die im Zelt geherrscht hatte, doch darauf achtete der Syrenia nicht. Ohne lange zu überlegen, griff er nach dem Handgelenk der Valisar. Sofort war es wieder ihre Kälte, die er spürte. Sie zu sich ziehend, legte er ihren Arm noch in der gleichen Bewegung um seinen Nacken und hob sie auf die Arme. Mit einem knappen Lächeln und der Anweisung "Gut festhalten" schritt er bereits voran, kaum dass der Karren an ihnen vorüber zog. Ein großer Schritt brachte sie auf die offene Ladefläche und wie auf einer Treppe erklomm der Syrenia die Kisten, die so kurzerhand zu einer schwankenden Treppe wurden. Nicht ganz unbemerkt vom Fuhrmann des Karrens, der empört über die Schulter sah und brüllte: "He, Ihr da! Mein Karren ist kein..." Der Rest des Satzes sollte seinen offenen Mund nie verlassen, denn im gleichen Moment öffneten sich die dunklen Schwingen des Syreniae über seinem Kopf. Beim Absprung des Geflügelten hastig den Kopf einziehend und seinen Hut im jähen Windzug festhaltend, glotzte der sprachlose Fahrer dem seltsamen Paar nach, das ein satt rauschender Flügelschlag dem Markt gänzlich enthob. "Bei Emular", murmelte er und beeilte sich hastig, seine Tiere zu kontrollieren, die durch den großen Schatten und das ungewohnte Geräusch gescheut hatten.


    Ascan hielt Silene sicher, während er sich auf seine schweren Flügelschläge und das Gewinnen an Höhe konzentrierte. Sie waren längst auf Augenhöhe mit der Statue des Arion Falkenauge als die Häuserfront, die den Markt umschloss, unter ihnen vorüber zog. Die weite Offenheit über den Dächern war ein purer Genuss nach der betäubenden Enge, die ihm das Zelt auferlegt hatte. "Verzeiht den plötzlichen Aufbruch, Seherin", sprach Ascan mit Blick nach vorn. Das glitzernde Band des Dessibar war bereits von hier zu erkennen und ihr Flug wurde stetig schneller. "Normalerweise würde ich jetzt fragen, ob Ihr Euch gut fühlt..." Nun blickte er doch zu ihr und ein spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. "... aber ich schätze, das träfe es nicht so ganz, was?"

  • Silene trat ins Licht, mit leicht wehendem Umhang an Ascan vorbei, der die seidigen Stoffbahnen, die den Eingang des Zeltes stets verhüllten, für sie zur Seite geschoben hatte. Die Luft, die nahezu unbewegt zwischen den Ständen hing, wirkte ungleich wärmer als das Innere des Zeltes, der Lärm des Markttreibens und das grelle Sonnenlicht machten es notwendig, einen Moment innezuhalten, damit sich die Sinne an diese Umgebung anpassen konnten.
    Die Hand der Seherin wollte sich heben, um ihre Augen ein wenig vor der Helligkeit schützen, doch im selben Moment spürte sie schon den festen Griff des Syrenia um ihr Handgelenk. Ihr Blick glitt für einen Moment über seine Züge, doch viel Zeit blieb ihr dafür nicht – in einer einzigen Bewegung hatte er ihren Arm um seinen Hals gelegt und sie angehoben. Ihre Füße verloren den Kontakt zur Straße und ehe sie sich versah, hatte Ascan den vorbeifahrenden Wagen erklommen und sich in die Lüfte erhoben.


    Nur schwerlich konnte man von Überraschung sprechen, die das erfrorene Herz der Seherin schneller schlagen ließ, doch etwas in ihrem Inneren verkrampfte sich ob der plötzlichen Bewegung und ein Schauer ging durch ihren Körper, der eine Gänsehaut auf ihren Armen erscheinen ließ. Sie befolgte seinen Rat und verschränkte ihre Hände fest ineinander, sodass ihre Arme einen weiten Ring um Ascans Hals schlossen.
    Ihr Körper war gespannt, was es Ascan sicherlich erleichterte, sie zu halten, doch dort, wo ihr kühler Leib den seinen berührte, musste ihre Kälte bald damit beginnen, auf unangenehme Weise in seine seidene Kleidung zu kriechen.


    Mit dem Eintauchen in die Lüfte über der Stadt war es, als bewegten sie sich in eine andere Welt. Ein sachter Wind, den man auf dem Pflaster stehend nicht spüren und nicht sehen konnte, verwirbelte die Luftmassen. Das lange, silberne Haar der Valisar nahm diesen Wind augenblicklich in sich auf, er strich es zur Seite, schmiegte es an die Schulter des Geflügelten und ließ es hinter ihnen wehen wie ein seidenes Tuch.
    Unter ihnen zogen die in der drückende Mittagshitze flirrenden Dächer rasch hinweg und Silene kam nicht umhin ihre Einschätzung bezüglich der Distanz zu korrigieren. Die Luftlinie zwischen den Stadtvierteln mussten in den Augen eines geflügelten Geschöpfes verschwindend gering sein.


    Ohne von Angst zu sprechen, war Silenes Blick nach unten gerichtet, auf die vorbeifliehenden Gebäude und Straßen unter ihnen, bemerkend, dass sie zunehmend an Höhe gewannen. Und nicht nur das, auch ihre Geschwindigkeit nahm stetig zu. Ein jedes Geräusch, das von der Stadt aufstegen wollte, verblasste im mächtigen Rauschen im dunklen Gefieder und dem fast schon scharf klingenden Flattern, das die Flügel bei jedem Schlag erzeugten. Schon nach kurzer Zeit konnte sie den Dessibar erkennen, meinte fast zu hören, wie sich sein Tosen in das Rascheln der schwarzen Federn mischte, die sie beide durch die Luft trugen.
    Auch wenn Ascans Flügelschläge schwer und kraftvoll waren, wirkte er wesentlich entspannter als zuvor. Er sprach von ihrem unvorhergesehenen Aufbruch und bat um Verzeihung. Silene gab ihm darauf nur eine stumme Antwort in Form eines schweigenden Nickens, das er wohl nur an seiner Schulter spüren konnte, da sein Blick stetig nach vorne gerichtet war. Von einem erhöhten Punkt zu starten, um sich von seinen Schwingen tragen zu lassen, entsprach seiner Natur und der konnten sich die Syreniae oftmals nur schwer entziehen. Silene hatte dieses Volk gut genug kennengelernt um zu wissen, welche Eigenheiten sich in ihren Köpfen verbergen konnten und der ununterdrückbare Freiheitssinn, der sie des öfteren zu Dummheiten verleitete, gehörte zweifelsohne dazu.
    Ascan sah für einen Moment zu ihr, die unfassbar geringe Distanz zwischen ihnen ließ den kurzen Blickkontakt der blauen und der stahlgrauen Augen fast greifbar werden, und es war beinahe, als stünde die Zeit für einen einzelnen Herzschlag still.
    "Euer Spott ist unangemessen.", antwortete Silene in den immer schneidender werdenden Wind und ließ den visuellen Kontakt zu ihm zerbrechen wie eine knisternd dünne Eisschicht. Sie sah hinab, sah den glitzernden Strom, der die Stadt zerteilte, näher kommen und spürte, wie der Wind auffrischte, eine salzige Note bekam. Silene verstärkte den eisernen Griff ihrer Hände sorgsam. "Ihr braucht Euch keine Sorgen um mich machen, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt."

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  • Ihre Augen trafen die seinen und Ascan realisierte zu spät, dass er ihre Wirkung unterschätzt hatte. Silene war ihm so nah, dass er das Kristallmuster in ihren himmelblauen Iriden schillern nah. Etwas Entscheidendes in seinen Gedanken gefror und plötzlich drang ihr Blick viel tiefer als er durfte, zerschnitt einen inneren Widerstand und stieß bis tief in seine Brust vor. Die verhängnisvolle Einbildung, etwas im Spiegel ihrer Seele zu sehen, das nicht existierte, bemächtigte sich seiner. Noch ehe die Einsicht, damit einem fatalen Irrtum zu unterliegen, in seinem Verstand aufleuchten konnte, schloss sich jedoch bereits ein warmer Zauber um Ascans Herz und löschte schlagartig jede zugeneigte Empfindung für ihre frostig schöne Erscheinung aus.


    Mit Mal wurde er der lähmenden Kälte gewahr, die von ihr ausging und die dabei sogar durch den Stoff seiner Kleidung strahlte. Körperlich so starr wie eine Puppe aus Porzellan und vom Genuss des Fliegens so weit entfernt wie ein gefrorener Stein, spannte sich ihre Gestalt unbewegt in seinem Griff. Nichts an ihr glich dem, was er an Kyleja liebte.


    Ohne auch nur zu Blinzeln hatte sie den Blickkontakt zu ihm gebrochen und ihre Antwort war, was sie immer war und auch immer sein würde: kühl, sachlich und gefühllos. Mit einem ungleich härteren Ausdruck blickte Ascan nach vorn und vermisste die sanfte Wärme seiner Geliebten in seinen Armen. Die Erinnerung an ihr glockenhelles Lachen mischte sich in das Rauschen des Flugwinds und ließ neue Kraft in seine Schwingen strömen. Ein letzter, machtvoller Flügelschlag brachte sie auf den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn. Der eindrucksvolle Blick auf Nir'alenar, das aus der Höhe einem exotischen Schmuckstück glich, reichte weit und zog die Aufmerksamkeit unwiderstehlich hinab. Von jenseits der nördlichen Stadtmauer, durch die einzelnen Viertel bis hin zum Hafen schlängelte sich der Dessibar wie ein funkelndes Band und in einiger Entfernung unter ihnen steuerte ein gewaltiges Flugschiff des Windvolks auf seinen Landeplatz zu.

    „Gut“, entgegnete der Syrenia mit rauer Stimme. „Denn jetzt könnte Euch das Atmen schwer fallen.“
    Ohne weitere Erklärung zog Ascan seine Schwingen an. Innerhalb eines Atemzugs ging ihr Aufstieg in einen rasenden Sturzflug über. Die Stadt sprang ihnen geradezu entgegen und die sanften Luftströme verwandelten sich blitzartig in heulende Sturzwinde, die sich mit ungezügelter Wut gegen ihre Körper warfen. Kurz schloss Ascan seine Lider, sah die Grenzen der Insel vor seinem inneren Auge zurückweichen und überließ ihr Schicksal dem Willen der Winde, dann riss er seine Augen entschlossen wieder auf und visierte die Straßen nördlich des Parks an. Sie befanden sich noch immer auf direkter Fluglinie, doch es trennten sie nur noch wenige Augenblicke von ihrem Ziel.


    Gekonnt winkelte er seine Schwingen an, wodurch ihr pfeilschneller Sturz in einen fast ebenso steilen Gleitflug überging. „Wohin genau? Zeigt es mir!“ verlangte er und spürte wie ihm der scharfe Wind die Worte von den Lippen riss. Dieses Mal senkte Ascan seinen Blick nicht. Mochte die Seherin mit ihrer eisigen Grazie die Spiegel zum Beschlagen bringen, für ihn existierte nur eine Frau. Eine ebenso atemberaubende Schönheit, deren liebevolles Lächeln ihn die Schatten seiner Vergangenheit vergessen ließ. Sobald Ereike gefunden war, würde er zu Kyleja zurückkehren. Sie würde enttäuscht sein, dass er sie nicht geweckt hatte; gekränkt, wenn sie vom Flug mit der Seherin erfuhr; wütend vielleicht, doch er freute sich darauf, all diese Regungen über ihr Gesicht fliegen zu sehen. Was am Ende zählte, war nur, dass sie wieder für ihn lächeln würde.

  • Für einen kurzen, flachen Atemzug schien Ascan in der Luft zu stehen, auf dem höchsten Punkt einer Parabel zu verharren und Silene wurde sich bewusst, in welch erstaunlicher Höhe sie sich befanden. Der Blick der Valisar wurde erneut nach unten gezogen, wo sich Nir'alenar weit unter ihnen entfaltete wie eine riesenhafte Karte. Das steile Mittagslicht ließ kaum Raum für Schatten in der Stadt unter ihnen, ließ sie seltsam surreal wirken und die Häuser klein wie Spielzeug erscheinen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ein Luftschiff von oben betrachten können, stellte sie fest und beobachtete das Gefährt, wie es lautlos wie eine Wolke dahinzog. Wie insignifikant und winzig alles erschien, wie kristallklar war die Luft, welche der Seherin einen weiten Ausblick gewährte, weit hinaus bis hinter die Stadtmauern.
    Es mochte die Valisar völlig kalt lassen, doch sie erkannte die Schönheit in diesem Anblick und vielleicht konnte man sogar von einer kühlen Art von Faszination sprechen, auch wenn sie ihr nicht den Atem raubte. Ebenso, wie sie den Flug nicht genoss und das Gefühl zu fliegen sie nicht berauschte, aber sie dennoch die Besonderheit dieser Erfahrung anerkennen konnte.
    Sie wusste, dass der Geflügelte keinerlei Interesse daran hatte, sie fallen zu lassen, doch die Vorstellung drängte sich ihr unweigerlich auf, verdeutlichte ihr erbarmungslos, was geschehen würde, wenn sie aus dieser Höhe stürzen würde … wie sie auf dem Pflaster zerschellen würde wie eine Porzellanfigur. Die Bilder ließen sie zwar kalt, doch sie spürte eine deutliche Aversion gegen sie.


    Kaum hatte Ascan zu Ende gesprochen, begriff Silene, dass sie den Aufstieg hinter sich gebracht hatten und den höchsten Punkt ihrer kurzen gemeinsamen Flugreise überschritten hatten. Doch auch wenn sie sich vorstellen konnte, was als nächstes geschah, so konnte sie nicht verhindern, dass sich angesichts des plötzliche Sturzes ihre Augen reflexartig verschlossen und sich die Schlinge ihrer Arme um Ascans Hals etwas zuzog.
    Der Sturzflug wandelte sich ein ein Gleiten, doch noch immer warf sich ihnen der Wind mit unbeschreiblicher Kraft entgegen, zerrte an den flatternden Stoffen ihrer Umhänge, presste ihre Körper aneinander und trug die Worte des Syrenia im selben Moment fort, in dem er sie ausgesprochen hatte. Silene zwang ihre Lider, sich ein Stück weit zu öffnen, damit sie sehen konnte, wo sie sich befanden und sie ihm eine akkurate Antwort geben konnte.
    Er behielt recht, es fiel Silene schwer zu atmen, wollte der Wind ihr doch die Atemluft sofort wieder nehmen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als den Kopf so weit zu drehen, dass sie gegen ihren eigenen Arm und Ascans Schulter atmen konnte, woraufhin der reißende Wind ihr Haar wild durcheinanderwarf.


    "Es ist das weiße, yelindea'sche Haus mit den grauen Dachschindeln.", sprach sie mit scharfer Stimme und spürte, wie der Wind auch ihr die Worte von den Lippen stahl und sie zu einem mühsamen, deutlich hörbaren Einatmen zwang. Ihr Haus war eindeutig zu erkennen. Er konnte es nicht übersehen und vor allem, er würde es nicht überhören können, denn die verwirbelte Luft würde ihnen bald erste Klangfetzen zutragen. Aus dem Winkeln ihrer verengten Augen warf sie einen Blick auf das ihnen mit rasender Geschwindigkeit näher kommende Künstelviertel.
    "Ihr werdet hören, wenn Ihr richtig seid."


    ---> weiter im Haus der Seherin

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