Was Silene sah, ähnelte jenen flüchtigen, oftmals bildreichen Momenten, kurz vor dem Hinübergleiten in den Schlaf, noch bevor sich wirkliche, klare Träume formen konnten. In fahlen Farbtönen gehaltene, unzusammenhängende Traumfetzen zogen an ihr vorüber, zeigten Geschehnisse, von denen Silene nicht sagen konnte, ob ihnen wahre Begebenheiten zugrunde lagen, oder sie lediglich Illusionen waren. Ascan begann zu erzählen und seine tiefe Stimme wob sich in die Bilder, flocht sich ein und wies Silene einen Weg. Sie folgte seinen Worten, ließ sich von ihnen das Bild malen, dass sie sehen musste. Der letzte Moment, in dem er Ereike gesehen hatte. Das staubige Grau des Morgens, das Flirren des ersten Lichtes durch ein Fenster … sie konnte es immer klarer ausmachen, auch wenn es ein ermüdeter, trüber Blick war, in dem sie den gestrigen Morgen erblickte.
Ihre Fingerspitzen glitten allmählich von einer Feder zur nächsten, über ihre schmale Außenfahne, die Erhebung des Kiels, über die breitere Innenfahne schließlich zur angrenzenden Feder. Es klang wie Seidenstoff, der über raues Papier gezogen wurde. Ein Zittern ging durch das Bild, so wie sich Wellen um den Punkt kräuselten, an dem man einen Stein ins Wasser warf. Er verlor das Bild und mit ihm auch Silene, die versuchte, sich nicht aus der Erinnerung verdrängen zu lassen. Ein Schleier aus Wut, aus Verzweiflung überschattete die Szenerie, erstickte das bleiche Morgenlicht.
Im selben Moment, in dem Ascan das Knarren erwähnte, konnte Silene für den Bruchteil einer Sekunde einen leichten Kinderfuß sehen, der sich sachte auf eine verwitterte Holzdiele setzte. Ihre Silhouette war schmalschultrig und im geflochtenen Haar an ihrem Hinterkopf meinte Silene tatsächlich, eine schwarze Feder stecken zu sehen, doch im selben Moment, in dem ihr Fuß auf dem Boden aufsetzte und die Seherin ihren Blick auf das Gesicht des Mädchens richten wollte, glitten Ascans Gedanken davon.
Reines Chaos loderte auf, verschlang den Dachboden gierig, zerriss die Gedankengewebe mit seinen Krallen und formte daraus eine gänzlich andere Erinnerung, voller … Stein, Mauern, Zerfall, voller Schmerz. Schmerzen waren der Valisar nicht fremd, diese Empfindung war eine der wenigen, die sie besaß und sie erkannte sein gleißend rotes Glühen, wenn sie es in den Fühlenden sah. Und sie sah Wahn, der begann alles völlig willkürlich zu verformen.
Silene vernahm Ascans Keuchen, spürte den erstickten Schrei in ihm aufsteigen und riss sich von diesem wirren, grotesken Durcheinander los. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie, wie der Syrenia tiefer über die Stuhllehne gesunken war, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Silenes Gesicht zeigte eine Falte der Anstrengung zwischen den anmutig geschwungenen Brauen, während ihre Hand den Kontakt zu seinem Gefieder verlor und ohne einen festen Griff an ihre Seite sank.
"Ascan!", erscholl ihre Stimme bestimmt und streng hinter ihm und klar wie eine Glasscherbe schnitt sie die weihrauchgeschwängerte Luft. Er musste zur Klarheit zurückfinden, auch wenn sie ungreifbar wirkte und sie musste sicherstellen, dass er im Hier und Jetzt angekommen war. Anders als sein Name, der in ihrem Mund zu einem Glassplitter geworden war, klangen ihre nächsten Worte geradezu sanft. "Geht nicht an diesen Ort."