„Ascan!“ Ruckartig schreckte der Syrenia auf und hob seine Wange von der Decke. Sein schlaftrunkener Blick suchte und fand Damiel O'Sander, den Leiter des Waisenhauses, der knapp neben seiner Schlafstätte hockte und ihn ansah. „Sieht so aus als hättest du gut geschlafen. Willst du was mitessen?“
„Mitessen?“ brummte der Geflügelte fahrig und ließ seinen Kopf wieder auf die weiche Decke sinken. Der Halb-Oreade nickte geduldig. Nachdenklich maß sein Blick den Syrenia, der in voller Montur eingeschlafen war. „Es gibt Linseneintopf und ich wollte dich fragen, ob du Ereike gesehen hast, bevor du wieder spurlos verschwindest.“
„Nein und nein... ich weiß nicht, wen du...“ Plötzlich riss Ascan die Augen weit auf und stemmte sich hastig hoch. „Wie spät ist es?“
Der Braunhaarige blinzelte ihn irritiert an. „Kurz vor Mittag, warum willst...?“ „Verdammt!“ keuchte Ascan, während er sich schnell umsah. Der Beutel mit den Dukaten war gut verborgen. „Schließ die Luke zum Dachboden hinter dir ab!“ Schon war Ascan auf den Beinen und eilte zum Dacheinstieg.
„Was ist los? Warst du bei Selcaria? Jetzt wart doch mal! Ascan!“ rief ihm der Braunhaarige hinterher und stürzte ihm nach, doch da war der Syrenia schon auf dem Dach und es erklang das dunkle Rauschen seiner Schwingen. Damiel beugte sich nach draußen und erwartete schon, die schwarze Silhouette des Geflügelten über den Dächern verschwinden zu sehen, da entdeckte er ihn stattdessen im Hinterhof. „Was ist nur los mit dir? Sag mir bloß nicht... “ murmelte Damiel und sparte sich mit einer dunklen Vorahnung den Rest seines Satzes. Statt weiter sinnlos zu grübeln, machte er sich auf den weniger direkten Weg nach unten, jedoch nicht ohne noch rasch die Luke abzuschließen und den Schlüssel in seiner Hosentasche zu verstauen.
Ascan kannte den alten Hof. Nichts hatte sich seit seiner Abreise vor fünf Jahren verändert und weil die Kinder am Mittagstisch saßen, kam ihm auch niemand in die Quere, als er neben dem schmalen Kräuterbeet aufsetzte. Nachdem er dort zielsicher die richtigen Blätter abgerupft und sich zwischen die Zähne geschoben hatte, bewegte er sich auf den Brunnen zu. Noch im Gehen löste er seine Waffen von seinem Gürtel und legte sie an seinem Zielort zu Boden. Die zwischen den Stofffalten verborgenen Schnallen seines Umhangs öffnend, streifte er diesen ab, warf ihn über die leeren Holzeimer neben der Brunnenkurbel und wickelte hastig auch den Seidenstoff seiner grauen Tunika auf. Noch während er gehetzt auf der Minze kaute, schnappte er sich einen der gefüllten Wassereimer und kippte ihn kurzerhand über sich aus. In aller Eile die Spuren der Strapazen der letzten Tage abwaschend, überschlug er die Zeit, die er bis zur Brücke brauchen würde.
Gerade als er sich das restliche Wasser aus den Haaren schüttelte, erklang unvermittelt wieder Damiels Stimme. „Ich weiß, du hasst es, wenn ich dich das frage...“ Mit unwilliger Miene drehte Ascan sein Gesicht dem ungebetenen Zaungast zu. Damiel stand nur wenige Schritte entfernt und hatte seine Arme verschränkt, wobei bittere Sorge aus seinem Blick sprach. „Aber wo warst du und wohin willst du jetzt schon wieder? Was ist passiert?“
Ascans Augen verengten sich. „Es ist alles in bester Ordnung!" knurrte er und strich ärgerlich seine feuchten Haare nach hinten. "Hast du da nicht ein paar Kinder, um die du dich kümmern musst?“ Schon langte er wieder zu seiner Tunika, obwohl seine Haut noch nicht ansatzweise in der Mittagshitze getrocknet war.
Ein harter Zug erschien um den Mund des Halb-Oreaden. „Wieder ganz der Alte, hm? Dein Treffen mit Sel scheint sich gelohnt zu haben...“ Nun hielt Ascan abrupt inne und warf seinem Freund einen durchdringenden Blick zu. Ungerührt hielt dieser seinem bohrenden Blick stand. „...für Selcaria“, fügte Damiel mit einem vorwurfsvollen Schnauben hinzu.
Ein Schlag in die Magengrube hätte Ascan nicht härter treffen können. „So ist es nicht!“ begehrte der Syrenia mit kraftvoller Stimme auf und ließ davon ab, den grauen Stoff um seinen Oberkörper zu schlingen. Für einen kurzen Moment war sogar Kyleja vergessen. Einen Zeigefinger drohend erhoben, öffnete Ascan den Mund, um Damiels Behauptung richtig zu stellen. Als ihm aufging, dass er es nicht konnte. Der Heimleiter hatte ins Schwarze getroffen. Haltlos fiel die Wut aus Ascans Gesicht und wich Missmut. Er wusste, wie falsch es sich anhören musste, und dieser Umstand ließ seine Rechtfertigung nur noch bitterer klingen. „Es ist... nur ein letzter Gefallen...“
„Sicher“, entgegnete Damiel leise. Die Enttäuschung stand dem Braunhaarigen klar ins Gesicht geschrieben. Nachdem er den Syrenia noch für einen stummen Moment gemustert hatte, löste er seine verschränkten Arme und wandte sich mit starrer Miene ab. Sein alter Freund sah kein weiteres Mal über die Schulter zurück als er wieder ins Haus ging. Ascan seinerseits hielt seine Fäuste geballt bis der Heimleiter durch die Tür im Inneren verschwunden war, dann erst holte die Erinnerung an Kyleja ihn wieder ein. Die Aussicht auf die schöne Nymphe übernahm sein Denken und spornte ihn sogleich zu neuer Eile an. Mit dem verlockenden Ziel vor Augen, seine Sorgen für eine Weile zu vergessen, zog er seine übrige Kleidung an. Nur einen Flügelschlag später stieß sich Ascan von der Querstrebe der Schaukel ab und katapultierten sich weit nach oben, wo der Flugwind die brütende Sommerhitze beträchtlich linderte.
Zusammen mit dem Anblick Waisenhauses schrumpfte auch sein schlechtes Gewissen Damiel gegenüber. Es war keineswegs so wie sein alter Freund dachte. Er wusste, was er tat. Nur ein allerletztes Mal noch würde er Bran Boréas; der Rabe sein. Danach... war er frei.