Die Seele der "Gischtfalke"

  • Vom Haus der Seherin kommend.


    Obwohl Ascan sie genau so sicher hielt, wie zuvor auch, Silene ihren Arm eng um die Schulter des Geflügelten legte und auch diesmal ihre Hände fest ineinander griffen, waren die Mühen des Aufstiegs mehr als deutlich spürbar. Das helle Klirren eines jeden Windspiels in Silenes Garten, klang noch lange in ihren Ohren nach, auch dann, als Ascan schließlich die gewünschte Flughöhe erreicht hatte und der Flugwind ihr erneut das helle Haar durchwühlte.
    Zum Greifen nahe flohen die Dächer unter ihnen fort und obwohl Silene keine Furcht verspürte, fragte sie sich, warum Ascan den Abstand zu den in der Mittagshitze glühenden Dachschindeln so kurz gewählt hatte. Kaum hatten sie das Ufer erreicht, verstand sie jedoch und sie bemerkte, wie die kühlen Aufwinde über dem Fluss ihnen einen ruhigen, freien Sinkflug anboten.
    Silene zügelte sich, was die Interpretation Ascans Wortwahl anbelangte, als er den Gesprächsfaden wieder aufnahm. Ein aufmerksamer Seitenblick unter seine Kapuze und auf das von Schweiß benetzte Gesicht genügte, um die Anstrengung zu verstehen, welche Ascan für das Starten vom Erdboden aus geleistet hatte. Jedes Einatmen trug den Geruch von Salz auf warmer Haut in sich. Erstarrend richtete sich Silenes Blick auf das glitzernde Vorbeigleiten des Dessibars hinab, wo sie sich alleine auf dessen Glanz und Rauschen fokussierte, während sich eine Antwort auf ihre Zunge legte.


    "Wie viele andere, befolge auch ich einige einfache Grundprinzipien, die mir ein friedvolles, sinnhaftes Zusammenleben mit anderen Wesen ermöglichen.", begann die Seherin und verstummte für einen Augenblick, in welchem das Rauschen um sie herum die Überhand gewann, ehe ihre eiskalte Stimme es wieder durchbohrte. "Es erscheint mir logisch, Verstöße gegen diese … Regeln zu vermeiden, denn auch wenn es keine Schuldgefühle gibt, die mich um den Verstand bringen können, so ist mir Schuldbewusstsein keineswegs fremd.", sprach sie mit ihrer unberührten Stimme, bedacht darauf, ihre Worte möglichst deutlich zu wählen. "Es ist zu vermeiden. Nichts liegt mir ferner, als Schaden zu verursachen."
    Vor ihren Augen verschmolzen die vorbeirauschenden Wellen zu einem komplexen Muster, das ihren Blick in die Ferne lenkte. Ohne, dass sie es hätte steuern können, erinnerte sich die Seherin an die größte Verfehlung ihres Lebens, klar und deutlich, so wie sie diese für alle Zeit sehen würde, bis sie eines Tages ihren letzten Atemzug tun würde. Es brachte ihr Denken zuweilen noch heute in bedrohliches Ungleichgewicht, es nagte am moralische Grundgerüst ihr Welt, unaufhörlich wie die Macht der Gezeiten. Es war ein dunkler Tag gewesen, der unter eine dunklen Zeichen gestanden hatte.
    Es würde niemals wieder geschehen. Mühsam schüttelte sie diese zehrenden Erinnerungen ab und richtete den Blick geradeaus, auf ihr Ziel in der flirrenden Mittagsluft. Einige Möwen wollten ihren Weg kreuzen, besahen sich aus neugierigen, dunklen Vogelaugen diese seltenen Gäste in ihrem Luftraum, doch sie drehten ab, bevor sie wirklich in ihre Nähe kommen konnten.


    "Ihr mögt Euch fragen, was mir an einem Leben mit einem reinen Gewissen gelegen ist … doch Ihr könnt die Welt nicht sehen, wie ich sie sehe, Ascan, und daher ist es wohl vergebens Euch zu beschreiben, wie es für eine Valisar ist, mit einer untilgbaren Schuld zu leben."


    Der Blick der Valisar war leer, als sie ihn anhob, mit verengten Augen nach vorne sah und versuchte, ihr Ziel am Horizont zu erkennen. Silene erinnerte sich daran, den Alten Hafen schon einmal besucht zu haben. Sie näherten sich rasch dem Hafenbecken mit seinen zahlreichen, verfallenden Schiffen und bald würden sie auch das schrille Kreischen der Möwen weit hinter sich lassen. Es gab zwischen den modernen Wracks schließlich nichts, was eine Möwe begehrte, und so hing auch zu belebten Stunden stets eine eigenartige Stille über diesem Ort.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Ein gutes Dutzend zwielichtiger Gestalten lungerte am alten Kai herum und einige Köpfe hoben sich alarmiert, als sie die dunkle Silhouette des Syreniae am Himmel bemerkten. Vermutlich gehörten die bewaffneten Männer und Frauen einer der Gruppierungen an, die diesen Teil des Seeviertels unter sich aufteilten. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Nachbarschaften noch immer ihre Fehden ausfochten und es war weise, sich nicht in diesen ewigen Konflikt verwickeln zu lassen.


    „Moral und Logik...“, kommentierte er die Erklärung der Valisar dunkel. „Ich musste feststellen, dass sich beides nur selten miteinander vereinbaren lässt. Interessant, dass es Euch zu gelingen scheint.“ Seine Augen suchten das trockene Hafenbecken und die dort gestrandeten Schiffe nach einem tauglichen Landeplatz ab. Im Schatten eines Schiffes, dessen Masten unter der Last der Zeit vermodert und abgebrochen waren, setzte er auf und sah sich um. Keine verdächtigen Bewegungen. Das Schiff bot zudem einen Sichtschutz zum Kai, sodass sie fürs Erste ungestört bleiben sollten.


    Nachdem er Silene auf die Füße gestellt hatte, strich Ascan seine Kapuze zurück und atmete tief durch. Die Hitze war durch die leichte Brise vom Meer erträglicher geworden, doch hier zwischen den Schiffen staute sich die trockene Luft.

  • Die Worte des Syrenia klangen düster, ließen die Valisar an den Eindruck denken, den der kurze Blick in Ascans Innerstes hinterlassen hatte. Welche Qualen kannte diese junge Seele und welche Dinge hatte er getan um zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen?
    "Es ist keine leichte Aufgabe.", stimmte sie zu und ließ den Blick über die Piere gleiten, welche bereit für die Ankunft von Schiffen waren, die niemals anlegen würden. Lose Taue hingen an den wenigen gusseisernen Pollern, die noch nicht gestohlen worden waren, um das Metall anderweitig zu verarbeiten.


    Die Aufmerksamkeit der Seherin war auf jede Nuance der Atmosphäre gerichtet, denn eine jede einzelne konnte ein entscheidendes Detail sein, dass sie zu dem Mädchen führen würde. Silene bemerkte, wie ihre Sinne sie zur Vorsicht mahnten. Selbst jetzt am helllichten Tage, war es sinnvoll achtsam zu sein. Dies war kein sicherer Ort, an dem man leichtfertig herumspazieren sollte, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen.
    Der Geflügelte landete geschickt an einem vor Blicken geschützten Ort und fern der verdächtig wirkenden, bewaffneten Gestalten, die offenbar keine wichtigere Tätigkeit zu verfolgen wussten, als ihre Zeit hier totzuschlagen. Mehr als unvernünftig, wie Silene fand, war ihnen allen doch ein endliches Leben gegeben worden, das jeden Tag ein Ende finden konnte.


    Die drückende Hitze schien die Valisar kaum zu belasten, es war ihr nicht anzumerken, dass auch ihr Körper mit der Hitze kämpfte und nur ein genauerer Blick würde einen aufmerksamen Beobachter den hauchfeinen Schweißfilm auf der weißen Stirn sehen lassen, der ihre Haut etwas glänzen ließ. Ihre Augen hatten sich mittlerweile der Helligkeit angepasst und so waren ihre Augen offen und klar, als sie sich forschend umschaute. Ein paar wenige, langsame Schritte brachte sie an die Grenzen des Schattens, den der gewaltige Umriss des Schiffes warf, sodass sich ihr der Blick auf die vielen anderen Wracks im Hafenbecken eröffnete.
    Die Seherin spürte, dass Ereike nahe war, doch noch war keines der Bilder stark genug um ihr Auge zu erreichen, bevor es wieder verblasste. Ihr blieb nichts, als ziellos in diesem Nebel herumstochern, hoffend, dass sie auf etwas brauchbares stoßen würde.


    "Ich spüre, dass wir ihr nahe sind.", sagte sie ohne sich Ascan zuzuwenden und mit einer festen Stimme, die trocken klang zwischen all dem morschen Holz und Staub. Schweifend sah sie sich um, tastete mit ihren Augen einen jeden Schiffsbug ab, den sie von hier aus sehen konnte. "Sie muss in einem dieser Schiffe sein … ich kann es - "


    Jäh unterbrach sich die Seherin, erstarrte in einer halb ausgeführten Bewegung, die dazu gedacht gewesen war, sich das Haar aus der Stirn zu streichen. Hinter ihren trüb gewordenen Augen mochten tausende Bilder vorbeiziehen, doch eines davon war bemerkenswert klar und musste bedeutsam sein: Ein blütenweißer Falke stob auf, schwarzgetupftes Gefieder sträubte sich im Wind und wirbelte weiße Flocken auf, die zunächst wirkten wie Schnee. Doch es war kein Schnee … es war feuchte Gischt, die schäumend um einen Kiel aufstieg, der die Wellen zerschnitt.


    "Folgt mir.", sprach sie und es war, als würde ihre Stimme aus einer Tiefe heraufsteigen, die man nicht in der Brust einer Valisar erwarten würde. Jedes Wort war hart erkämpft und dem Sog der Vision abgerungen, die sie weit fort ziehen wollte. Alleine von dieser Vision geführt und ohne einen Blick für ihre Umgebung zu haben, schritt die Valisar ins Licht, in welchem ihr Haar und ihre Haut gleißend hell aufleuchteten. "Seht nach einem Falken."

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  • Während Ascan die Seherin dabei beobachtete, wie sie nahe an den Rand des Schattens trat, wischte er sich die schweißnassen Haarsträhnen aus der Stirn. In ihrem schwarzen Kleid und mit den langen weißen Haaren hob Silene sich scharf von den erdigen Farbtönen des Hafenbeckens ab. Noch immer bewegte sie sich elegant und nur ihre Haare, die der Flugwind noch weiter in Unordnung gebracht hatte, milderten die Strenge auf ihren konzentrierten Gesichtszügen.


    Ihr Hinweis, dass sich Ereike in der Nähe aufhalten musste, beruhigte ihn und Ascan sah ebenfalls in Richtung der anderen Schiffe. Dann jedoch unterbrach sie unvermittelt ihren Satz und der stechende Blick des Geflügelten sprang zu ihr zurück. Die Seherin war erstarrt und wirkte nun sogar noch puppenhafter und dadurch seltsam zerbrechlich. Argwöhnisch spähte der Syrenia in die Umgebung. Die Gruppe vom Kai war weder zu sehen noch zu hören. So lästig die Hitze auch war, war sie in diesem Fall ihr Verbündeter. Selbst ein streitsüchtiger Haufen überlegte es sich bei diesen Temperaturen zweimal, ob er sich Ärger suchen sollte. Dennoch bewegte Ascan sich einige Schritte auf die Seherin zu, bereit zu reagieren, sollte ihre Vision sie mehr kosten als nur ihren klaren Blick.
    Ihre mühevollen Worte, die noch fremder wirkten als in ihrer üblichen Tonlosigkeit, zogen sofort seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Fast schwebend überwand die Valisar die Grenze ins Licht und für einen irritierenden Augenblick strahlte sie förmlich vor ihm auf, sodass er blinzeln musste und seinen Blick dennoch nicht abwenden konnte. Ein Falke?
    Reflexartig schaute er nach oben, doch bis auf ein träges Flugschiff und das ferne, ewig leicht bewegte Schimmern der Kuppel gab es dort nichts zu sehen. Kein Vogel weit und breit.


    Die Schiffe musternd, zog Ascan in Erwägung, dass die Seherin keinen echten Falken im Sinn haben könnte. Vielleicht ein Gebilde, das einem Falken nur ähnlich sah, das Symbol eines Falken oder eine geflügelte Galeonsfigur.
    Tatsächlich entdeckte er ein flügelartiges Schnitzmuster am übernächsten Schiffsrumpf, nah beim Bug, knapp dreißig Schritt entfernt und der Syrenia bewegte sich ebenfalls ins Licht, um mehr davon sehen zu können. So fand er den verwitterten Schriftzug, aus dem sich mit etwas gutem Willen der Name des Schiffes ergab. „Gischtfalke“, las Ascan vor. Sein Blick wanderte zu Silene zurück und Hoffnung lag in seinem Blick, als er sie entschlossen ansprach: „Der Name des Schiffes dort drüben lautet Gischtfalke.“ Seine Hand wies in die entsprechende Richtung und ohne auf eine Bestätigung seiner Entdeckung zu warten, setzte er die ersten Schritte auf das verblüffend gut erhaltene Schiffswrack zu.

  • Die Seherin legte ihre Regungslosigkeit langsam ab und mit schlafwandlerischer Sicherheit begann sie damit, sich zwischen den Schiffen hindurch zu bewegen. Vor Silenes Augen verblasste das Hafenbecken, verklangen die wenigen Geräusche, die es zu hören gab, das Knarren des ein oder anderen Masten im leichten Wind, die Stadtgeräusche, das Knirschen im Staub und Schmutz unter ihren Schuhen. Sie sah genug, um nicht mit einem der Schiffswracks zusammenzuprallen, doch in Wirklichkeit war es ihre andere Sicht, die sie leitete.


    Gedämpft klangen die Worte, die Ascan an sie wandte, doch den Namen des Schiffes hörte sie klar heraus. Gischfalke., bestätigte er ihre Vermutung. Ein Schiff. Das war es. Es brauchte nicht erst die Geste des Geflügelten um ihr den Weg zu weisen, doch sie folgte ihm und gemeinsam näherten sie sich dem Wrack.
    In Silenes Ohren stellte sich ein Rauschen ein, welches stetig anschwoll als wollte es auch noch das letzte Umgebungsgeräusch ersticken, je näher sie dem Schiffsbauch kamen. Vergebens wehrte sie sich noch für einen Moment gegen die heranrollenden Eindrücke, doch nichts konnte aufhalten was geschah. Eine unsichtbare Hand griff nach ihrem Geist, tauchte ihr Bewusstsein für eine Sekunde ins Dunkel. Jemand … etwas war hier. Etwas, das sich auf einer anderen Ebene bewegte als sie selbst.
    Knisternd durchzuckte ein Schmerz ihren Kopf, den sie in dieser Form noch nie verspürt hatte und reflexartig schnellte eine ihrer weißen Hände empor um ihre Augen zu bedecken und die Luft scharf zwischen den Zähnen einzusaugen. Mit einem Mal war das Tageslicht wieder zu hell geworden, gleißend, stechend in den trübblauen Augen der Seherin, die mit jedem verstreichenden Moment jedoch an Klarheit gewannen. War es eine Warnung? Es raubte ihr den Blick, den sie brauchte um Ereike zu sehen und sie verstand, warum sie zuvor die Verknüpfung zwischen Ascan und dem Mädchen verloren hatte. Sie waren kaum mehr 10 Schritte von diesem Schiff entfernt und es genügte bereits, um Silenes drittes Auge fest zu verschließen.
    Die Valisar hatte keine Augen für die Schönheit des alten Schiffes und seine erstaunlich guten Zustand … ihr Blick war stattdessen starr vor sich auf den Boden gerichtet, wo sie im Unrat und Schmutz am Boden etwas Schwarzes hervorlugen sah. Der Syrenia war vorausgegangen, doch er musste bemerken, dass sie stehengeblieben war um sich zu bücken und mit den langen Fingern eine zwar verschmutzte, doch dunkle, lange Feder aus dem Staub zu ziehen.

    "Ereike ist hier.", wisperte sie und konnte ihrer Stimme kaum mehr Kraft verleihen. Warnend glitt ihr Blick zu Ascan hinüber. "Doch jemand … oder etwas ist bei ihr. Etwas … ungewöhnliches."

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  • Je näher er dem Wrack kam, desto schneller wurden Ascans Schritte. Im Gegensatz zu den anderen Schiffen, stand die Gischtfalke nahezu aufrecht im Hafenbecken, was nur möglich war, weil ein weiteres Wrack gegen ihre Seite gesunken war und sie auf diese Weise stützte. Die tonnenschwere Last hatte den Kiel auf ganzer Länge zusammengedrückt und nicht wenige Planken waren gesplittert. Wie krumme Speere ragten diese scharfkantigen Leisten aus der Bordwand hervor und verliehen dem Wrack etwas Wehrhaftes, dem man sich nur mit Vorsicht nähern sollte.
    Ein muffiger Geruch hing in der Luft und die Reste alter Muscheln und Krebstiere, die sich vom Schiffsrumpf gelöst hatten, bildeten einen weißen Kranz um das Wrack, in dem die Seherin Ereike zu sehen glaubte.


    Ascan betrat diesen hellen Bereich und hielt nach einer bodennahen Öffnung Ausschau, die groß genug für ein junges Mädchen wäre. Als er auf Anhieb nichts entdeckte, drehte der Geflügelte sich zur Seherin um, in der Hoffnung auf einen weiteren Hinweis. Silenes Blick war nach unten gerichtet und kaum bückte sie sich, erkannte auch Ascan die dunkle Feder, die sie kurz darauf aufsammelte und betrachtete. Noch immer wirkte die Seherin seltsam fern, doch aus ihren Augen sprach eine klare Warnung, die ihre Worte umso eindringlicher machte.


    Mit einem Nicken deutete der Syrenia an, dass er verstanden hatte, und seine rechte Hand legte sich automatisch auf den Griff des Revolvers. Was immer sich bei Ereike aufhielt, es würde das Kind herausgeben oder die Konsequenzen spüren. „Es muss eine Lücke geben, durch die sie ins Innere des Wracks gelangen konnte“, teilte er seine Überlegung mit der Valisar. „Aber selbst, wenn wir diesen Riss finden, bedeutet das nicht, dass er auch groß genug für uns sein wird.“ Ascans Blick wanderte die Bordwand empor und seine Stirn legte sich in Falten. Hätte er das geahnt, hätte er gleich auf dem Deck aufgesetzt.


    Auf Silene zugehend, betrachtete er nicht nur sie, sondern auch die schmutzige Feder in ihrer Hand, welche vor nicht allzu langer Zeit noch im Haar des Mädchens gesteckt hatte. „Wir betreten das Wrack am besten von Deck aus“, erklärte er, ehe seine Mimik und seine Stimme härter wurden. „Aber es wird nicht ungefährlich, Seherin. Das Holz ist seit Jahrzehnten morsch und kann jederzeit einbrechen.“ Die Flügel öffnend, schweifte Ascans Blick über die Schulter. „Noch dazu diese ungewöhnliche Präsenz... es wäre klüger, wenn Ihr hier draußen wartet.“

  • Er nickte, berührte die Waffe an seiner Seite, doch er hatte nicht verstanden. Sie hörte den Gedankengängen des Syrenia nur mit einem Ohr zu, während ihr Blick die teils zerbrochene und morsche Takelage in der Höhe betrachtete, mit den lose vom Deck herabhängenden Tauen, die leicht vom Wind bewegt wurden. Das Mädchen war klein und leicht, vielleicht hatte sie den Bug einfach kletternd überwunden und dann durch den geborstenen Bug eingestiegen? Ein Wunder, wenn sie sich dabei nicht verletzt hatte.

    Hart und furchtlos klang Ascans Stimme, als er sie vor den Gefahren warnte, die ihnen hier begegnen würden, doch die Seherin schüttelte nur sachte den Kopf und ihr Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück. Die dunklen Schwingen in seinem Rücken entfalteten sich und warfen einen breiten Schatten, wo er stand. Warum wollte er sie in Schutz nehmen? Hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt?

    "Die Gefahren sind mir bewusst.", sagte sie trocken, drehte die Feder zwischen ihren langen Fingern und strich mit der anderen Hand über den langen Federkiel. Ereike hatte diese Feder verloren und deren Fehlen nicht bemerkt. Sie war nicht gekommen, um sie sich zurückzuholen. Die Feder war nicht schwer zu finden gewesen.
    Eine dunkle Vorahnung beschlich die Seherin und sie versuchte, mit ihrem sehenden Blick Ereike aufzuspüren, doch sie versagte kläglich. Stattdessen spürte sie diese eigenartige Präsenz in dem hellen Schiff, dessen Äußeres zwar sichtbar verwittert war, doch deren Galionsfigur noch immer die edlen Flügel eines Falken trug. Dieses Wesen hatte Silene gewarnt, wollte offenbar nicht, dass sich jemand näherte.
    Silene sah an Ascan vorbei, maß das Schiff erneut mit genauen Blicken aus eisblauen Augen, in denen das Tageslicht noch immer schmerzte. Das Schiff vom Deck aus zu betreten, klang sinnvoll und es stand völlig außer Frage, dass sie hier unten warten würde. Wie konnte sie von Nutzen sein, wenn sie lediglich hier herum stand und abwartete, was geschehen würde?

    "Doch was auch immer in diesem Schiff ist, es ist nichts, wobei Euch diese Schusswaffe von Nutzen sein wird.", sprach sie deutlich, wies dabei mit einem schwachen Nicken auf den Revolver, den Ascan bei sich trug und wieder war ihr Blick zu Ascan zurückgekehrt. "Ich kann Euch nicht sagen, was es ist … doch es bewegt sich auf der Ebene, auf der sich Geistwesen bewegen."
    Sie war bei weitem keine Expertin was verirrte Seelen und Geister anbelangte, doch sie wusste zu unterscheiden, ob ein Wesen von dieser Welt war oder aus einer anderen stammte und sie wusste, dass sie einen Zugang zu deren Daseinsebene finden konnte. Und in diesem Fall war sie sich so gut wie sicher, dass dieses Wesen zu letzterer Kategorie gehörte.
    Nehmt mich mit hinauf, sagte ihr Blick und sie wusste, dass sie die Worte nicht aussprechen musste, damit er verstand.

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  • „Es ist Eure Entscheidung. Ich wollte Euch nur gewarnt haben“, entgegnete der Geflügelte merklich kühler und unterdrückte den Impuls, Silene die schwarze Feder aus der Hand zu nehmen, an der sie vor seinen Augen herumspielte. Was auch immer sie damit bezweckte... es war im Moment unwichtig und er würde es ignorieren.


    Dass sie ein Gespenst an Bord zu spüren glaubte, war dagegen mehr als wichtig. Wenn es etwas gab, das noch lästiger war als Zauberei, war es Magie, die nicht aus dem Reich der Lebenden stammte. Einen Magier konnte man zur Not erschießen, einen Geist jedoch...


    Der Seherin den Arm fest um die Taille legend, überwand sich Ascan zu einem weiteren Aufschwung aus Bodenhöhe. Glücklicherweise waren nur wenige Flügelschläge nötig, doch gerade diese nagten an seinen Reserven und ließen Hunger und Durst neu aufflammen. Kaum war er auf dem Hauptdeck gelandet, ließ er Silene los, trat einen Schritt zurück und wischte sich mit hörbarer Atmung den Schweiß aus dem Gesicht. Die grauenvolle Hitze und die Anstrengung ließen flirrende Punkte auf den ausgebleichten Planken vor ihm tanzen. Eine Hand auf die Reling gelegt, kniff Ascan die Augen kurz zusammen und spähte dann in Richtung der Ladeluke. Auf dem Weg dorthin setzte er seine Schritte mit Bedacht und hielt seine Schwingen erhoben, für den Fall, dass die Planken plötzlich unter ihm nachgaben. Das Knirschen und dumpfe Ächzen klang alles andere als vertrauenerweckend, doch zu seiner Erleichterung hielt es so wie es sollte.


    Das grobe Holzgitter, das die große Luke früher verschlossen hatte, war eingebrochen und führte jetzt als schräge Rampe ins Unterdeck hinab. Der Boden dort war verdreckt, aber keine Fußspuren deuteten darauf hin, dass er in letzter Zeit von jemandem betreten worden war. Ascan zog die Augenbrauen zusammen und musterte die Pforten, die tiefer in den Bauch des Schiffes führen würden. Die Finger seiner unverletzten Hand bewegten sich unablässig, während er diese schmalen Durchgänge betrachtete.
    "Ihr habt also Erfahrung mit Geistern?", fragte er die Seherin, ohne sich dabei vom Anblick des Unterdecks lösen zu können.

  • Silene nickte stumm auf seine Erklärung, obwohl sie nicht nach einer solchen verlangt hatte. Sie verstand und sie konnte die Kühle in seiner Stimme akzeptieren. Kühle war gut, mit Kühle konnte sie umgehen.

    Und so nahm er sie mit hinauf auf das ausgeblichene, spröde wirkende Deck des Schiffes und kaum, dass sie es erreicht hatten, löste sich der feste Griff um ihre Körpermitte wieder. Während Ascan einen Schritt zurück machte, blieb Silene stehen und betrachtete den Syrenia. Erneut wurde sie der Anstrengung gewahr, die Ascan sich zumutete um sie hier her zu bringen. Nun war es wieder an ihr, ihre Versprechung einzulösen und hilfreich zu sein.
    Während Syrenia ausgelaugt wirkte, sich den Schweiß von der Stirn wischte und sich einen Moment abstützen musste, blieb die Valisar so ungerührt wie eine Statue. Die Hitze war ein unangenehmer Faktor, doch die Seherin ertrug sie mit Fassung, beschattete lediglich ihre Augen mit einer Hand und beobachtete die vorsichtigen Bewegungen des Geflügelten auf dem morschen Holz.
    Sie folgte ihm, setzte ihre leichten Schritte auf jede Stellen, die sich als stabil erwiesen hatten, bis sie schließlich neben Ascan zum Stehen kam und mit ihm hinab sah. Dort, wo das steile, grelle Tageslicht den Boden jenseits des Decks erleuchtete, war er staubig und schmutzig und wirkte unberührt, doch alles was dahinter liegen mochte, lag im Dunkeln.

    Die nervösen Bewegungen seiner Finger entgingen Silene nicht und da sie ihm nicht die Antwort auf seine Frage geben konnte, die er gerne gehört hätte, ließ sie sich etwas Zeit damit.
    "Nein.", antwortete sie wahrheitsgemäß und wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte man fast von einem bedauernden Ton sprechen können, den sie anschlug. Unvermittelt legte die Seherin eine ihrer kühlen Hände auf die Schulter des Syrenia und sah ihn mit einem Blick an, in dem ein bedeutungsvoller Glanz lag. "Ich habe die Präsenz dieses Geistes gespürt. Es gibt eine Möglichkeit zur Kommunikation und ich kann sie nutzen. Vertraut mir."
    Sie trat an Ascan vorbei, wobei ihre Hand leicht wie ein Blatt von seiner Schulter abfiel und nahm sich den Vortritt, begann vorsichtig und leichtfüßig durch die Luke hinab auf das staubige Unterdeck zu steigen. Aus dem Licht in die Dunkelheit tretend verschwand sie aus Ascans Sichtfeld und blickte sich aufmerksam um.

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  • Ascan schnaubte, als Silene verneinte. Gerade bereute er schon, sie an Bord getragen zu haben, da ließ ihn die Berührung an seiner Schulter fragend herüberschauen. Während die Kälte von Silenes Hand in seine Schulter floss, klangen ihre nächsten Sätze wie blanker Hohn in seinen Ohren.
    Einer kaltherzigen Frau vertrauen? Das war ein Fehler, den er garantiert nicht wiederholen würde.
    Ascan zog seine Schulter im selben Moment zurück, in dem Silene den Kontakt von sich aus löste. Sein Blick stach kalt unter seinen weißen Augenbrauen hervor und blieb auf die Seherin gerichtet, während sie sich gewandt aufs Unterdeck hinabbegab und dort die Schatten betrat.
    Zuerst ein Fluch, dann Hellseherei und jetzt eine Séance? Er war der falsche Syrenia für diesen übersinnlichen Kram...


    „Wir sind nicht hier, um mit Geistern zu reden“, knurrte der Geflügelte gerade laut genug, dass die Valisar ihn noch hören musste, und legte seine Schwingen mit einem Ruck an. „Wir holen Ereike und verschwinden wieder!“


    Tatsächlich stand Ascan noch immer unbewegt an Deck und durchforschte die Dunkelheit unter sich mit grimmigem Blick. Seine Hand legte sich abermals an den Griff des Revolvers und der Syrenia ließ die Schultern mehrmals kreisen, bevor er sich innerlich verfluchte und seine Schritte in die Tiefe setzte. Langsam, um die alten Holzstreben nicht zu abrupt zu belasten, sagte er sich. In Wahrheit sträubte sich alles in ihm gegen die Enge des Schiffes, die ihn nun bald vollständig umschließen würde. Gereizt von dieser Aussicht knirschte Ascan mit den Zähnen. Hoffentlich würden sie das Mädchen hier oben finden.
    Das einzig Gute am Halbdunkel des Unterdecks war, dass auch die Hitze hier unten etwas nachließ.

  • Der Syrenia folgte Silene nur zögerlich, doch er folgte ihr und trat neben sie, wo seine Schritte neben den ihren dunkle Spuren im Staub hinterließen.

    Wir ... werden tun, was notwendig ist, Ascan. Wir gehen nicht, bevor ich Ereike in Sicherheit weiß.“, antwortete sie mit glatter Stimme und ohne ihn anzusehen. Etwas in ihrer Stimme machte klar, dass sie keine Gegenworte und keine Antwort erwartete und womöglich hätte sie diese ohnehin nicht beachtet. „Ich werde versuchen mit ihm zu sprechen. Seid niemals unhöflich zu einem Wesen, welches Ihr nicht sehen könnt.“

    Vor den Augen der Seherin, die sich langsam an das Halbdunkel gewöhnten, entsprangen drei Gänge, wovon einer tiefer in das gestrandete Schiff führte und ein weiterer jeweils in den vorderen und hinteren Teil des ersten Unterdecks verlief. Auch wenn die Luft im inneren des Schiffes an Temperatur angenommen hatte, so blieb es doch stickig und es roch nach Seetang, nach Fisch und Salz.
    Ruhig und kühl strich Silenes Blick die Gänge entlang, wartete auf ein Zeichen, bis sie schließlich die Augen schloss und nach den Bildern suchte, die sonst so zuverlässig in ihrem Kopf erschienen, wenn sie es nur zuließ. Führe mich zu Ereike., wollte die Valisar in Gedanken sprechen, doch sie wusste, dass ihr dieser Wunsch wahrscheinlich nicht erfüllt werden würde.
    Stattdessen begann sich ein Schmerz hinter Silenes Stirn fein zu verästeln, sachte knisternd wie eine feine Eisschicht auf dem Wasser. So gut es ging verdrängte sie das schneidende Gefühl zwischen ihren Schläfen und konzentrierte sich. Das Mädchen. Es gehört zu uns. In unsere Welt. Mit jedem Atemzug schien sich der Kopfschmerz zu intensivieren, bis Silene all ihre Beherrschung aufbringen musste um nicht qualvoll aufzustöhnen und trotz allem aufrecht stehen zu bleiben. Sag, nach was es dir verlangt!

    „Bitte.“, presste sie mit einem spröden Laut zwischen ihren weißen Lippen hervor, mehr eine Lippenbewegung als ein gesprochenes Wort. Und dann, erst kaum spürbar, doch immer deutlicher konnten sie den sachten Luftzug vernehmen, der aus den Tiefen des Schiffsbauches drang und der eine ungewöhnliche Kühle mit sich herauf trug.
    Mit einem Schlag war der Schmerz verschwunden. Silene schlug die Augen auf und eine ihrer Hände bedeutete Ascan still zu sein und zu lauschen. Tatsächlich schien der Wind durch das Schiff zu wispern, leise zu seufzen, doch Silene musste wohl die einzige sein, welche die Worte darin vernehmen konnte.

    „Wir sollen hinabsteigen. Er will verhandeln.“, sagte sie und sah ungerührt zu Ascan hinüber. Dann, ohne auf den Geflügelten zu warten, begann sie den Flur hinabzugehen, an dessen Ende eine hölzerne Leiter ein weiteres Deck nach unten führte.

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  • Silenes Art hatte ihn schon seit dem ersten Moment an Selcaria erinnert, doch hier unten war es schlimmer. Ascan wusste nicht, ob es daran lag, dass die Enge ihn paranoid machte oder daran, dass es nun keine Ablenkung mehr gab, die den Eindruck verfälschen konnte... aber sein Argwohn wuchs, dass sie einen unheilvollen Plan verfolgte. Einen Plan, den es zu durchschauen galt, bevor es zu spät sein würde. Ihre Belehrung zur Höflichkeit spiegelte sich als gefährliche Kälte auf dem Gesicht des Syreniae wider und hätte Silene sich in diesem Moment zu ihm umgewandt, wäre es ihr eine Warnung gewesen.


    Während er die Mimik der Valisar seinerseits nicht aus den Augen ließ und ihre Anstrengung, sich zu konzentrieren, verfolgte, rekapitulierte er alles, was seit Betreten des Zeltes geschehen war. Sie hatte ihr Können und ein verblüffendes Interesse an seinem Volk bewiesen, doch das machte sie nicht vertrauenswürdig. Nein, ganz im Gegenteil... Es machte sie gefährlich.


    Wie kam er darauf, einer gefühllosen Valisar zu glauben, dass es ihr hierbei um das Wohl eines fremden Mädchens ging? Er hatte nicht mehr als ihr Wort, dass Ereike sich in diesem Schiffswrack aufhielt... und seine Feder, die siedort draußen gefunden hatte. Doch war es die, die Ereike gehört hatte, oder nur eine seiner übrigen? Gelegenheiten hätte sie zur Genüge gehabt, eine ähnliche Feder aus seinem Gefieder zu ziehen...


    Ihre Lippenbewegung verengte seinen Blick. Sie gab vor, mit dem Geist zu reden. Könnte es eine geschicktere Ausrede geben, um direkt vor seinen Augen und dennoch unbemerkt einen Zauber zu sprechen? Zuerst kaum merklich, frischte ein rätselhafter Wind im Bauch des uralten Schiffes auf, den der Syreniae schon instinktiv spürte und seinen Ursprung in den morschen Tiefen wusste. Sein Gesichtsausdruck versteinerte, kaum dass die Seherin das Begehr ihres Geistes verkündete und sein Blick richtete sich starr in das Dunkel.


    Silene näherte sich ohne Zögern dem rechteckigen Abstieg, einem finsteren Loch, das im Dunkel des Ganges kaum richtig zu erkennen war. Die Staubpartikel, die sie mit ihren Schritten aufgewirbelt hatten, flirrten im Widerschein des Lichts, das hinter dem Geflügelten aufs Unterdeck strömte. Dort unten wäre er eingeschlossen. Eingesperrt in einen Käfig aus Holz und Schatten. Allein diese Aussicht reichte, um seinen schlimmsten Befürchtungen Gewicht zu verleihen. Ereike war nicht hier. Es war eine Falle.


    Plötzlich wusste er, warum seine Hand am Revolver lag. Mit finsterer Ruhe zog er die Waffe und richtete sie auf den Rücken der Seherin. Tief strömte die salzige Luft in seine Lungen. „Bleibt stehen, Silene!“ Syrenischer Zauber lag in seinen Worten, der seine Forderung zum Zwang werden ließ, doch das kümmerte Ascan nicht. Tricks und falsches Spiel von Frauen wie ihr hatte er zu lange erdulden müssen, um noch länger Rücksicht walten lassen zu können. „Dreht Euch um und seht mich an!


    Er wusste, was er in ihrem Gesicht erkennen würde. Nichts. Ihre Augen würden dieselben vereisten Spiegelseen sein, in die er schon beim Betreten des Zeltes geblickt hatte. Dass es so war, spielte jedoch keine Rolle. Entscheidend war, dass sie in seinen Augen las, dass er jetzt nicht zögern würde, ihrer hübschen Stirn ein sehr hässliches Loch zu verpassen, wenn sie ihm auch nur noch eine einzige weitere Lüge auftischte. „Wozu habt Ihr mich wirklich hergeführt?“

  • Ascans Stimme traf Silene wie ein Windstoß in ihrem Rücken, von einer unwirklichen Tiefe erfüllt, gerade so, als befänden sie sich in einer Kathedrale und nicht in einem beengten Gang mit hölzerner Akustik.

    Nur wenige Schritte trennten sie noch von dem Abstieg in die staubige Finsternis des Schiffes, doch aus den Metern wurden Meilen und mit einem Mal schien ihr nichts abwegiger, als auch nur einen Schritt weiterzugehen. Mit einem Impuls gleich einem Nadelstich direkt zwischen ihre Schulterblätter spürte sie, wie sich die Waffe auf ihr Rückgrat richtete.
    Silene wusste was er tat, wusste, welcher Macht er sich bediente um sie inne halten zu lassen, doch sie konnte dem nichts entgegensetzen, folgte scheinbar willenlos auch seiner Aufforderung, sich herumzudrehen. Dem Syrenia zugewandt, sah sie ihn geradeaus an, mit silberblauen Augen die so fern, kalt und hell schienen wie ein Stern am Firmament jenseits der Kuppel.
    Aus dem Dunkel ins Licht hineinsehend, erschien ihr Ascans Gestalt scharf umrissen und finster. Geradezu drohend überragten ihn seine schattendunklen, zusammmengefalteten Schwingen. Kein einziger Blick streifte die Schusswaffe, deren Lauf direkt auf sie gerichtet war und kein Funken Furcht konnte sich in Silenes kaltem Herz einnisten.

    Ihrer Natur folgend, las die Seherin in seinen Augen, erkannte die kalte Entscheidung in ihnen, den Abzug zu drücken und ihrem Leben hier und jetzt ein Ende zu setzen, sollte sich all dies als falsches Spiel herausstellen. Sie bewegte sich auf dünnem Eis, dessen war sie sich sicher.
    In Silenes Geist stellte sich ein sanftes Verständnis ein, denn sie konnte nachvollziehen, wie er auf den Gedanken kam, sie könnte ihn in einen Hinterhalt führen. Es ergab durchaus Sinn, doch selbstverständlich war es nicht so. Er kannte ihre einzige und wahre Absicht bereits, denn Silene hatte sie ihm bereits offenbart, aber er glaubte ihr nicht, weil er ihr nicht vertraute und er hatte auch keinen Anlass dazu. Welchen Grund gab es schon, einer Valisar zu vertrauen, die ohne Scham und Reue lügen könnte?

    „Ihr wisst warum wir hier sind. Um Ereike zu finden und in Sicherheit zu bringen.“, antwortete die Valisar und langsam drehten sich ihre leeren Hände offen und ohne einen festen Griff nach vorne, sodass ihre weißen Handflächen neben ihrem dunkel gekleideten Körper aufleuchteten. „Ihr wisst nur nicht, warum Ihr meinen Worten Glauben schenken solltet, Ascan Ypios.“
    Und was könnte ich tun, um das zu ändern? Völlig ohne eine Regung in ihrem porzellanartigen Gesicht, wartete sie auf eine Reaktion im edel geschnittenen Gesicht des Syrenia, das so finster und drohend wirkte wie ein aufziehender Sturm.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Ihre Worte und die Geste ihrer Hände wirkten wohlüberlegt. Ascan hatte nicht weniger von ihr erwartet. In seinen rechten Mundwinkel stahl sich ein karges Lächeln, das nicht bis in seine schmalen Pupillen reichte. Nein... er hatte wirklich keinen Glauben zu verschenken.


    Den erhobenen Revolver um kein Stück senkend, trat der Syrenia langsam auf die scheinbar wehrlose Valisar zu. „Ihr versteht mich gut, Silene.“ Seine Stimme klang amüsiert, doch dabei nicht weniger gefährlich als das kalte Metall in seiner Hand. Das Holz ächzte, wo seine Stiefel es belasteten, doch darauf achtete Ascan nun nicht mehr. Die eigentliche Gefahr befand sich direkt vor seinen Augen und blieb dabei dennoch so undurchsichtig wie ein wolkenverhangener Himmel. „Also begreift Ihr auch, warum ich mich nicht ohne Absicherung dort hinunter begeben kann. So gern ich Euch auch glauben würde... und das würde ich wirklich...“ Er verlachte sich innerlich beim Gedanken daran, dass er tatsächlich einmal naiv genug dazu gewesen wäre. Dunkler und gar nicht mehr belustigt, fügte er hinzu: „Aber glaubt mir, wenn ich Euch verspreche, dass ich diesen Abzug schneller ziehen werde, als ihr zucken könnt, sobald ich sehe, dass dort unten weder ein Geist noch Ereike warten.“


    Würde sie endlich mit der Wahrheit herausrücken, sobald er sie packen und die todbringende Mündung an ihre Schläfe legen würde? Kein Hinterhalt konnte es wert sein, dass eine Valisar dafür ihr Leben aufs Spiel setzte. Schon gar nicht eine Valisar wie sie, die tief genug in seine Finsternis geblickt hatte, um zu wissen, dass er ruchlos genug für einen solchen Mord war.


    Drei Schritt trennten ihn noch von der Seherin. Ihre kühle Unberührtheit forderte seine Entschlossenheit heraus und reizte zugleich seine Sturheit. „Es geht mir hierbei nur um...“ Weiter kam Ascan nicht und selbst wenn, wären seine Worte im Krachen der Planken untergegangen, die im selben Moment unter ihm brachen. Beim abrupten Sturz bekam er mit seiner verwundeten Hand gerade noch den Rand des Lochs zu fassen, ehe auch dieses Holz abbrach.
    Sein energischer Fluch verkam durch den Aufprall ein Deck tiefer zu einem dumpfen Schmerzenslaut, dem nur einen Sekundenbruchteil später ein weiteres Knirschen folgte. Erneut gab das morsche Holz unter dem Gewicht des Geflügelten nach, doch dieses Mal fiel er auf unebenem Grund und rollte dadurch ein Stück zur Seite, ehe er ganz zum Liegen kam. Nur ein grauer Schimmer fiel dort hinab, wo die Decke eingebrochen war und ließ erkennen, dass es alte Taue waren, die seinen Fall gebremst hatten.


    Ascan hustete hart im aufgewirbelten Staub, den die Jahrzehnte des schleichenden Verfalls aufgeschichtet hatten und kam nur schwer gegen den Eindruck an, ersticken zu müssen. Zu seinen Schmerzen in der linken Hand, die er für einen Moment viel zu schwer belastet hatte, gesellten sich die Prellungen des Sturzes. All das zählte allerdings zu seinen geringsten Sorgen. Er war zu tief im Schiff... zu weit gefallen. Genau hierhin hatte er nicht gewollt... und schon gar nicht so!

  • Still schenkte Silene den Worten des Syrenia Gehör, keineswegs überrascht von der Düsternis die aus ihnen sprach. Nur für einen kurzen Augenblick hatte sie von dem Schmerz gekostet, den diese junge Seele mit sich trug, doch es hatte genügt. Dieser Ausdruck, der in Ascans grauen Augen aufleuchtete, wirkte wie eine Erinnerung an die wenige Stunden zurückliegenden Momente in ihrem Zelt – als sich die selben, zu zwei Punkten zusammengezogenen Pupillen auf die Seherin gerichtet hatten. Die Gefahr, welche dieser Blick barg war unübersehbar und auch wenn Silene nicht wissen konnte, was hinter diesen Augen geschah und welche Gedanken sich in seinem Kopf formten, so ahnte sie doch, dass diese kaum friedlicher Natur waren.


    Sie reagierte zu langsam, obwohl der ausgesprochene Bann augenblicklich von ihr abfiel als Ascan kaum zwei Armlängen vor ihren Augen in den Boden einbrach, verfehlte ihre reflexartig ausgestreckte Hand die des Syrenia um Weiten.
    Zur Vorsicht gemahnt tastete sie sich langsam an das klaffende Loch im Holz vor, gerade nahe genug um einen flüchtigen Blick hinab zu werfen, doch alles was sie dort unten erkennen konnte, war ein trüber Schimmer zwei Decks unter ihr, wo das helle Haar des Syrenia aufleuchtete. Den Geräuschen und dem herzhaften Flüchen nach zu urteilen, war sein Sturz mehr als schmerzhaft ausgefallen, doch nun hustete er und war ganz offensichtlich bei Bewusstsein. Ohne Zweifel hatte er sich verletzt und so fragte sie nicht danach, blickte lediglich hinab und versuchte zu sehen, worauf Ascan so unsanft gelandet war.
    Eine störende Spannung hatte sich zwischen Silenes Schläfen eingenistet und im selben Moment, in dem sie nach der anderen Präsenz dort unten tastete, füllte ein dumpfes Rauschen ihre Ohren. Kein Zufall. Der Geist dieses Schiffes hatte seine Ungeduld geäußert und den Prozess beschleunigt, in dem er Ascan hatte stürzen lassen, dessen war sich Silene absolut sicher. Jetzt hatte er Ascan zweifelsohne genau dort, wo er ihn wollte.

    "Seid vorsichtig, was auch immer Ihr vorhabt zu tun.", warnte sie den Geflügelten, auch wenn er diesen Ratschlag mit Sicherheit nicht benötigt hätte und wich vor dem Abgrund zurück. Das wäre nicht nötig gewesen., sprach die Valisar in Gedanken, als sie sich vorsichtigen Schrittes aber zügig auf den Abstieg zubewegte, wobei sie sich stets mit einer Hand an der Vertäfelung der Wände absicherte.

    Willkommen auf meinem Schiff., dröhnte es wie als Antwort darauf durch ihre Gedanken und der Luftzug, der ihr nun aus den Tiefen des Schiffes entgegenschlug, hatte eine geradezu stürmische Qualität. Die Gewissheit, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte, brannte sich noch tiefer in ihr Bewusstsein ein und sie konnte nicht entscheiden, von wem die größere Gefahr ausging – von dem misstrauischen Syrenia mit seiner goldenen Schusswaffe oder von diesem Geist, in dessen Fänge sie sich verstrickt hatten, ohne dass es einen Ausweg gegeben hätte.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
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    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Der Staub legte sich nur quälend langsam und so konnte Ascan zur Antwort bloß mehrmals husten, als die Valisar ihn warnte. Es verwirrte ihn, dass sie es tat. Was bezweckte sie damit? Gehörte es zum Plan? Sicher war sein Sturz nicht einkalkuliert gewesen. Es sei denn... die Seherin hatte die Planken im Vorfeld sabotieren lassen oder ihn durch einen Zauber...


    Energisch schüttelte Ascan den Kopf, um die wahnhaften Gedanken abzuschütteln, da toste wie aus dem Nichts ein Windstoß an ihm vorbei. Es war unnatürlich. Seine schwarzen Federn richteten sich raschelnd auf und plötzlich hatte es der Syrenia eilig, auf die Beine zu kommen. Knapp neben ihm funkelte der Revolver, den er im Fallen losgelassen hatte. Ascan langte nach der Waffe. Sein Puls raste und die Vorstellung, dass er sich mit einem Geist in einer abgeschlossenen Kammer befand, deren einziger Ausweg das unerreichbare Loch in der Decke war, ließ seine Hände und sogar seine Knie zittern. Vielleicht spielten ihm seine Sinne Streiche, doch er bekam den immer stärkeren Eindruck, nicht allein zu sein. Abgesehen von Silene, die nun vermutlich einen Weg nach unten suchte, schien sich noch jemand anderes hier aufzuhalten. Der Geist, von dem sie gesprochen hatte? Hatte sie am Ende etwa die Wahrheit gesagt?


    Je länger er mit pochenden Schläfen ins Dunkel starrte, desto klarere Umrisse wurden im Zwielicht sichtbar. Ascan zögerte mehrere Atemzüge lang und bewegte sich schließlich mit achtsamen Schritten vorwärts, um genauer hinzuschauen. Kein Zweifel. Einer der Schemen hatte etwas Menschliches an sich und beim Nähertreten erkannte er auch, wem die Gestalt ähnelte, die dort auf den zusammengerollten Tauen saß.


    „Ereike“, keuchte Ascan und für einen kurzen Moment war die beklemmende Enge vergessen. Den Revolver senkend, war er mit zwei schnellen Schritten bei ihr und beugte sich gleichsam besorgt wie erleichtert zu ihr hinab. „Ich bin es. Ascan“, begann er. Ihr Gesicht war kaum zu erkennen. Schaute sie ihn an oder durch ihn hindurch?
    Entschieden sprach er weiter: „Jetzt wird alles gut, Ereike. Ich bin hier, um dich nach Hause zu holen. Bist du verletzt?“


    Das Mädchen antwortete nicht und rührte sich auch sonst kein Stück. Die Stirn runzelnd, blickte Ascan noch einmal prüfend über die Schulter, sicherte den Revolver und steckte ihn in den Halfter zurück. „Keine Angst. Ich bringe dich nach draußen.“ Schon griff er unter Ereikes Arme, um sie hochzuheben, da blitzte Überraschung auf seinem Gesicht auf.


    Es gelang ihm nicht.


    Noch einmal versuchte er es, packte dabei kräftiger zu und investierte seine ganze Kraft in die einfache Aufgabe, das Mädchen von den Tauen zu ziehen. Es änderte nichts. Genauso gut hätte er versuchen können, die Statue auf dem Marktplatz zu stemmen. Mehr als nur irritiert ließ Ascan von der kleinen Gestalt ab, die noch immer keinen Mucks von sich gab, und stolperte einen Schritt zurück.


    Eine eigentümliche Belastung lag mit Mal in der Luft, die sich wie Blei auf seine Schultern legte und das Atmen mühsamer machte. Es fiel ihm schwer, zu bestimmen, ob es seine Platzangst war, die die Dunkelheit um ihn herum in Bewegung versetzte oder eine gänzlich andere Macht. Der Drang, nach draußen zu gelangen, wurde fast übermächtig. Gleichzeitig wusste Ascan, dass er nicht ohne Ereike gehen konnte.


    Er brauchte die Seherin...

  • Der Abstieg gestaltete sich leichter als erwartet – zu leicht. Die hölzernen Streben der Leiter seufzten unter Silenes Füßen und der Staub, der vom Boden aufwirbelte, als sie aufsetzte, trieb Tränen in die Augen der Seherin. Doch nichts von dem, was Silene für möglich gehalten hatte, trat ein.

    Die Dielen hielten stand, bogen sich nur leicht durch, als sie sich langsam durch den dicht mit Spinnweben tapezierten Raum bewegte. Der Raum lag in vollkommener Dunkelheit – lediglich das klaffende Loch im oberen Deck ließ einen Hauch von Licht nach unten dringen und half der Valisar dabei, sich zu orientieren.


    Mit beiden Händen die alten Weben durchtrennend, die sich überall klebrig und staubig an ihre schwarze Kleidung hefteten und sich in ihrem Silberhaar verfangen wollten, lauschte sie nach der Stimme des Syrenia, die unweit erklang.
    Er musste sie gefunden haben. Doch etwas stimmte nicht, und die bleierne Stille, die sich mit einem Mal über das Schiff senkte, trug bedeutend zu diesem Eindruck bei. Der Kopf der Seherin füllte sich erneut mit stechenden Kopfschmerzen, doch unfähig, Furcht oder Panik zu verspüren, setzte Silene ihren Weg ungerührt fort, verharrte keinen Augenblick.


    „Geist dieses Schiffes. Höre meine Worte.“, sprach die Seherin leise, als sie nur noch wenige Schritte von dem Loch trennten, durch das Ascan gestürzt war. Sie setzte ihren Fuß vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorne. „Wir kommen als ungebetene Eindringlinge … doch wir verlangen nicht viel. “


    Laut ächzte das Holz auf und die Seherin erstarrte. Die Finsternis, die aus dem Loch im Boden zu quellen schien, war von einem eigenartigen Leben erfüllt, streckte sich lang und kriechend nach ihr aus. Es war zu dunkel um Details auszumachen, doch Silene war sich sicher, dass diese Schatten bereits auf sie zu bewegten, ihr immer näher kamen.
    „Wir möchten nur das Mädchen wieder nach Hause bringen, das ist alles.“, erklärte Silene, diesmal lauter, sodass auch der Syrenia ihre Worte vernehmen konnte. „Gib sie frei.“
    Im selben Moment zerbarst mit einem hellen Splittern der Boden unter ihren Füßen.


    Inmitten eines Haufen aus trockenen Holzsplittern, wehenden Spinnweben und umhüllt von einer Staubwolke, landete die Seherin unsanft auf ihrer Seite, hustend. Das Gesicht der Valisar war unbewegt wie eh und je, doch das staubige, in Unordnung geratene Haar nahm Silene die kühle Perfektion und ließ sie geradezu lebendig wirken.
    Lediglich auf die Hände gestützt, fanden ihre hellen Augen sogleich die zusammengekauerte Gestalt Ereikes. Dieser Geist raubte ihr die Fähigkeit klar zu sehen … unter normalen Bedingungen wäre ihr ein derartiges Missgeschick vermutlich nicht geschehen und auch jetzt, wo sie dem Mädchen gegenüber saß, konnte sie sich nicht auf ihren sehenden Sinn verlassen. Doch eines war der Valisar auch ohne Zuhilfenahme ihrer Hellsicht bewusst: der Geist hatte Ereike in seiner Gewalt.
    Zerzaust und voller Staub wogte das feuerrote Haar des Kindes im nicht nachlassen wollenden kalten Luftstrom, der hier unten herrschte. Silene hatte keine Augen für den Syrenia, den sie im selben Raum wusste, denn starr lag ihr Blick auf den Lippen des wie versteinert wirkenden Mädchens, die mit einem Mal begannen, sich zu bewegen.


    „Sie … bleibt bei mir ...“, sprach es aus dem kleinen Mund, doch die Stimme mit der sie sprach gehörte nicht ihr. Es war eine Stimme wie ein schwerer Fels, der über Kieselsteine bewegt wurden. Ein Klang wie die dröhnende Brandung an nadelspitzen Klippen.

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  • Die Geräusche aus dem oberen Deck und das folgende Krachen raubten die Schwere aus der Luft, sodass Ascan trotz des erneut aufwallenden Staubs aufatmen konnte. Wenngleich im Dunkel kaum etwas zu erkennen war, konnte er die Silhouette der Seherin ausmachen. Sie war vielleicht verletzt, doch bevor seine Überlegungen fortschreiten konnten, drang eine grausige Stimme aus Richtung des Kindes.
    Entsetzt rissen die Augen des weißhaarigen Syrenia auf. Das einzige, was sich noch an seiner erstarrten Gestalt regte, war das raschelnde Gefieder.


    So eine Stimme hörte er nicht zum ersten Mal.


    Widerwillig drängten sich Erinnerungen vor sein inneres Auge. Eine qualvoll verdrehte Gestalt in einem Kreis blauer Flammen. Das Gesicht ein Grauen erregendes Gemälde aus grenzenlosem Schmerz... und dazu Selcaria, die kalt auf die arme Seele hinabblickte, die sie mit ihrer Magie aus dem Totenreich zurück gerissen hatte. So unbewegt wie jetzt hatte er abseits der unheiligen Beschwörung verharrt und gedanklich alle Götter beschworen, dass sie ihren Fehler erkennen und dem schaurigen Geschehen ein Ende setzen würde. Die Laute, die der lebende Leichnam ausgestoßen hatte... die immer deutlicher geworden waren, bis sie in ein verzweifeltes Kreischen um Erlösung übergingen, würde er nie vergessen können – das war ihm damals bereits klar gewesen. Die Stimme eines Toten, die nicht in diese Welt gehörte. Nun hörte er sie erneut.


    Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sich endlich ein enttäuschtes Seufzen Selcaria entrungen hatte. Mehr als nur erleichtert hatte Ascan ihren Blick aufgefangen, der es ihm erlaubte, dem Geschöpf das Ende zu bereiten, nach dem es flehte. Kein Zögern und keine Reue begleiteten den Schuss, mit dem auch die magischen Flammen schlagartig erloschen.


    Die gleiche Waffe lag nun geladen in seiner Hand, aber dieses Mal war es kein toter Körper, sondern der eines Kindes, dem die unheilvolle Stimme entstieg. Ascans Gesichtszüge verzerrten sich bei der Vorstellung, Ereikes Seele könnte gerade dieselben Qualen erleiden. Was sollte er tun...? Was würde die Seherin jetzt tun?
    Abwartend und angespannt richtete sich sein Blick auf die blasse Frau, die seiner Erinnerung an Selcaria mehr glich als sie es jemals ahnen könnte.

  • Die grauenhafte Stimme war verklungen, doch die weiße Seherin wirkte nicht, als wolle sie der Stimme etwas entgegensetzen. Stattdessen war ihr eisiger, versteinerter Blick unverwandt auf das Mädchen gerichtet und sie rührte sich keinen Deut.


    Niemals zuvor hatte sie etwas derartiges mit eigenen Augen gesehen und auch wenn sie mit Bestimmtheit wusste, was hier vor sich ging, brauchte sie einen langen Moment um das weitere Vorgehen zu überdenken. Die Seherin konnte die Bedrohlichkeit und die dunkle Macht des Geistes nicht fürchten, doch auch sie war nicht vollständig unempflindlich gegenüber der unwirklichen Stimmung. Sich der Tatsache bewusst, dass dieses Geisterwesen über Fähigkeiten verfügen musste, die jenseits ihrer Befürchtungen lagen, ließ sie ihren Geist zur Ruhe kommen um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
    Nach einigen ruhigen Atemzügen, in denen auch der Geflügelte zu ihrer Erleichterung nichts unternahm, stand sie endlich auf, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sodass sie auf das Kind hinabsehen konnte. Mit langsamen, genau bemessenen Schritten näherte sie sich, bis sie auf einer Höhe mit Ascan war.


    Mit einem festen Blick, der aus den Tiefen ihres erkalteten Herzens zu stammen schien, begegnete sie kurz dem schreckensweiten Blick des Syrenia, während in den farblosen Iriden ihrer eigenen Augen rein gar nichts zu lesen war. Auch die schwere Waffe in seinen Händen hatte sie nicht übersehen und so bewegte sie den Kopf sachte, ein Kopfschütteln andeutend.
    Dann fokussierte sie sich wieder völlig auf die Kindergestalt. Da es völlig unsinnig war in den leblosen Augen des Kindes nach einer Reaktion zu suchen, starrte die Seherin auf den Punkt zwischen ihren Augen. Der Herr des Schiffes brauchte die Augen des Kindes nicht um die Valisar und den Syrenia wahrzunehmen, doch sie wollte sehen, wie fest sein Griff um die Seele des Kindes lag.


    "Warum.", wisperte Silene mit ungewohnt spröder Stimme und sprach damit einen Gedanken aus, den sie sich bereits selbst beantwortet hatte. "Warum bleibt das Kind?"


    Für einen langen Moment geschah nichts. Keine Antwort erklang und auch der kalte Wind nahm weder ab noch zu. Kalt fügte die Valisar hinzu: "Warum nicht ich?"

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    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • „Nein“, kam Ascan über die Lippen, noch bevor er die Tragweite von Silenes Frage ganz erfasst hatte. Das brauchte er auch nicht. In solchen Momenten hörte er auf seinen Instinkt. Es machte offenbar keinen Unterschied, denn schon einen Augenblick später sickerte ein beunruhigendes Lachen aus dem Mund des kleinen Mädchens.
    War es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass sie diesen Geist zum Lachen brachten?


    Langsam schwoll das Gelächter ab und nun färbte ein getragener Ton die unwirkliche Stimme. „Ihr Lebenden... Ihr nehmt euch alle so wichtig. Was sollte ich mit dir, Seherin? Was gäbe es für mich in dieser Welt noch zu erfahren, die schon lange nicht mehr die meine ist?“
    Stille trat ein, in der Ascan unmerklich aufatmete. Das Geschehen entfernte sich von seiner Erinnerung. Hier ging es nicht darum, ein Monster zu vernichten, sondern eine Lösung zu finden. Abwägend betrachtete er erst Silenes, dann Ereikes leeres Gesicht und brachte seine Gedanken in Ordnung.
    Wenn dieses Gespenst nicht mehr an Weltlichem interessiert war, warum behielt es dann das Kind?


    Seine skeptische Miene musste nicht unbemerkt geblieben sein, denn kurz darauf begann der Geist erneut zu sprechen. „Ich bin fern von Körper und Zeit. Meine Erinnerungen und mein Schiff sind alles, was mich in der Stille begleitet. Fortgehen kann ich nicht und bleiben kann ich nicht. Mein Leben endete an dem Tag, als ich mein Liebstes an die See verlor und ich weiß, dass ich ewig dafür büßen werde.“


    Ein Vibrieren, einem Schauer gleich, ging durch die Planken, auf denen sie standen. Plötzlich schienen sich Wellen im Dunkel um sie herum abzuzeichnen. Das Holz knirschte und das ferne Jaulen eines Sturms ließ schattenhafte Takelage schwanken. Im Toben eines geisterhaften Sturms aus längst vergangener Zeit gefangen, versuchte Ascan, den Worten des Geistes einen hilfreichen Sinn abzuringen. „Ich habe ihrer Mutter geschworen, sie sicher zu ihr zu bringen, aber das habe ich nicht. Nicht einmal ihren Leib konnte ich den Wellen entreißen. Nichts, das meine Trauer gestillt hätte. Mein Schmerz ist ewig... und ewig ist mein Fluch“, flüsterte die verlorene Seele und geisterhafte Blitze zuckten über das Deck ihrer sichtbar gewordenen Erinnerung. Seemänner eilten umher und ein brüllender Kapitän streckte sich über die Reling, die Hand verzweifelt nach etwas ausgestreckt, das längst in den gewaltigen schwarzen Wellenbergen verschwunden war.

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