Die Valisar bestellte ein Glas Wasser.
Der Blick des Schankmädchens war zwar mehr als auffällig - vorsichtig und ein wenig furchtsam, wie Silene fand - doch war er viel zu ehrfürchtig um Silenes Würde anzutasten. Mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen verschwand das Mädchen wieder um dem Wunsch der Valisar nachzukommen.
Die Seherin hatte sich einen guten Platz reservieren lassen, sie saß in einer kleinen Einbuchtung der Wand, hatte vieles im Blick ohne den Kopf drehen zu müssen.
Auf dem Tisch, unter ihren langgliedrigen Fingern ruhend, lag ein Buch mit dunklem Einband, doch ohne Titel. Daneben lag ein Graphitstift. Sie trug heute, wie zu besonderem Anlass, weiß - ganz im Kontrast zur schwarzen Kleidung, die sie sonst zu tragen pflegte. Elegant und großzügig geschnitten waren die Hose und die Tunika, gerade so tief ausgeschnitten, dass es den goldenen Schnitt berücksichtigte, gerade so, dass es vorteilhaft war ohne aufdringlich zuwirken.
Die Valisar hatte ihren Sinn für Ästethik nicht verloren, ganz im Gegenteil. Durch ihr gefühlloses Kalkül konnte sie diese viel objektiver beurteilen.
Wie der Gestalt gewordene Novembernebel sah sie aus, blütenweiß und undurchsichtig ... und am Horizont eine Ahnung des weißblauen Himmels, der dahinterlag - in Form ihrer eisigen Augen.
Es war Falaviar, der 7. Tag der Woche, an dem sie stets ein Gasthaus zu besuchen pflegte, um zu lernen. Mimik und Gestik...
Gerade vor wenigen Atemzügen hatte sie einen jungen Elfen ins Auge gefasst, der den Zauberbrunnen alleine betreten hatte und sich nun an einem freien Tisch an der Wand des Raumes niedergelassen hatte.
Silene sah seinen Gemützustand schwanken. Manchmal sah er auf, ließ einen trüb wirkenden Blick schweifen, dann sah er wieder auf seine Hände herab und dachte nach. Da sich Silene ihres beunruhigend wirkenden Blickes bewusst war, wandte sie diesen bald von ihm ab und sah sich stattdessen nach anderen Gästen des elfischen Gasthauses um.
Die einen tuschelten miteinander, ein Paar flüsterte sich liebestrunken Turteleien in die Ohren, andere lachten und unterhielten sich fabelhaft.
Wie eine Leinwand war die Welt, bemalt mit den unterschiedlichsten, interessantesten Bildern... voller Leben. Und Silene war die Betrachterin, die starr und aus Entfernung die für sie blassen Farben beäugte.
Warum war sie hier? Es war irrational.
Es gab schlichtweg nichts mehr, das Silene hätte lernen können, kaum eine nützliche Gesten, die sie nicht beherrschte. Das kleine Buch war fast vollständig gefüllt mit Zeichnungen mit von Ausdruck erfüllten Gesichtern, Gesten.
Es gab Dinge, die würde sie nicht lernen können, das Weinen zum Beispiel; aber das wäre ohnehin unnütz. Sie könnte keinen Anlass finden, es anzuwenden.
Geheuchelte Gefühle ... eigentlich widersprach das ihrem Sinn. Ihrer gesamten Sinnhaftigkeit, ihrem "roten Faden". Wie sollten geheuchelte Gefühle sie den Weg ihres Schicksals weisen?
Vielleicht machten sie es nur leichter ... wollte sie es denn leichter haben ihr Schicksal zu erfüllen?
Einen letzten Blick schenkte sie dem turtelnden Paar, dann widmete sie sich den von grauen Bildern erfüllten Seiten, blätterte in dem Buch, jedes, der aus verwobenen Strichen erscheinenden Bilder streng musternd.