Im Falle einer Nacht

  • Wo auf der Oberwelt das letzte Licht des Tages den Himmel und jede einzelne Wolke in lodernden Farben hervorhob, versickerte es hier auf Beleriar so farb- und klanglos, das nichts unter der Kuppel seinem Verschwinden nachzutrauern schien. Zuerst wurde es kühl, dann nahezu fahl und noch bevor es ganz verging, färbte sich der Ozean über den Dächern Nir'alenars bereits so schwarz, dass nur einige leuchtende Quallen und Seesterne seine ferne Tiefe verrieten.


    Ascan erhob sich von dem Dachvorsprung, von dem aus er die letzten Momente der Dämmerung abgewartet hatte. Erst jetzt öffneten sich seine Schwingen, lösten sich seine Stiefel mit einem einzigen kraftvollen Schwung von den Ziegeln. Die Lichter der Stadt begannen nun zu erwachen. Abgesehen von den hell erleuchteten Alleen des Palastviertels, den Türmen der Magie und dem fast lichtlosen Areal des Seeviertels glichen die Straßen einander in ihrer chaotischen Verteilung kleiner Lichter. Eine wahllose Regelmäßigkeit, die von den pechschwarzen Schleifen und Armen des Dessibar durchzogen wurde. Es herrschte kaum Wind und wann immer sich Ascans Flügel im Aufschwung senkten, schien ihr Rauschen als einziges Geräusch über der Stadt zu schweben.


    Seine Gedanken wanderten zu Damiel O'Sander und wie schon oft in den letzten Jahren verbanden sich die Erinnerungen an das Waisenhaus zu einer verwirrenden Mischung aus warmem Heimatgefühl und tiefster Abneigung. Gerade als er die lästigen Grübeleien abschütteln wollte, fuhr ein glühendes Pulsieren durch die Lagen seiner Kleidung, wo die Siegelmünze Emulars in den Falten des Stoffes verborgen lag. Überrascht fuhr seine Hand zu der Münze - und erreichte sie nie.


    Ein schwarzer Blitz.


    An mehr oder etwas Genaueres konnte Ascan sich beim besten Willen nicht erinnern, als der feine Staub sich allmählich senkte. Er flog nicht mehr, wurde ihm gelinde überrascht klar. Ungleich überraschender kam der Schmerz. Es war kein Schmerz, den er einem bestimmten Teil seines Körpers zuordnen konnte. Die Pein höchstpersönlich schien sich in ihm eingenistet zu haben. Mit einem Keuchen realisierte er gesplittertes Holz über und um sich und es brauchte nicht viel mehr, um zu erraten, was passiert sein musste.


    Er war auf die Stadt gestürzt... So unmöglich ihm diese Erkenntnis auch erschien. Ascan kniff die Augen zusammen und wie zur Antwort explodierten Sterne hinter seinen geschlossenen Lidern. Sein schmerzender Schädel machte es ihm kaum möglich, seine Flughöhe zu überschlagen. Das Ergebnis dieser Rechnung änderte schlagartig alles. Nicht seine Verletzungen waren die Überraschung - sondern, dass er sie überhaupt noch spürte.


    Der erste Versuch, sich aufzurichten, peitschte die Schmerzen erst recht auf. Seine Schwingen schienen sich verhakt zu haben und fixierten ihn in einer halb liegenden Stellung auf dem Rücken, doch die Panik, die das normalerweise bei ihm hervorgerufen hätte, gesellte sich nur einhellig zu seinen übrigen schockstarren Eindrücken. Gleichzeitig polterte eine letzte lose Holzstrebe zu Boden. An etwas wie feinmaschigem Draht kam sie zum Halten und federte auf diese Weise über den Boden, der von kleinen Federn und losem Streu bedeckt schien. Ascan merkte, dass es ihm zunehmend schwerer viel, seiner Umgebung einen klaren Sinn abzugewinnen. Vielleicht machte es auch keinen Unterschied mehr und das würden eh seine letzten Gedanken sein...


    Dagegen sprach, dass sich sein Schmerz zwei Kernpunkte gesucht hatte. Der eine war sein Kopf, an dem etwas Warmes - wohl sein Blut - unangenehm hinabrann. Der andere fand sich im oberen Arm seines linken Flügels. Ein vorsichtiger Blick zur Seite und der Syreniae schloss stöhnend die Augen. Zu spät, um das Bild der spitzen Holzleiste wieder rückgängig zu machen, die sich glatt durch den Muskel seines Flügels gebohrt hatte.


    "Bei Askalar!" stieß Ascan so wütend hervor, dass man es für einen Fluch halten konnte.

  • Das Zwitschern und Tschirpen der Vogelstimmen erstarb mit Einsetzen der Dunkelheit. Langsam kehrte Ruhe in die Vogelhandlung Brennan Targos ein. Nicht jedoch in sein Leben.
    Während sein Geselle die letzten Käfige für die Nacht vorbereitet hatte, hatte Brennan sich umgezogen.


    Die derben braunen Hosen waren feineren schwarzen gewichen. Statt Hemd und Lederwams trug Brennan das schwarze, enggeschnittene Gewand eines Shirashai-Priesters. Das Amulett seiner Göttin hatter er funkelnd und für jeden sichtbar auf seiner Brust ruhend.
    Brennan war bereit dafür den Palast der Nacht aufzusuchen.


    Sein Vorhaben hingegen scheiterte noch bevor er die Tür erreicht hatte. Tosender Lärm drang aus dem hinteren Teil seines Grundstücks. Es krachte laut und man hörte wie Holz zerbarste.
    Der Schock fuhr dem Dunkeläugigen in die Glieder. Seine Volieren!


    Ohne Umschweife rannte er hinaus um wenig später erleichtert stehen zu bleiben.
    Das Getöse kam aus der allerhintersten Ecke. Die Voliere, die dort stand war schon lange morsch und benötigte dringend eine Restaurierung. Brennan setzte sie nur noch selten für seine Tiere ein und sie hatte an diesem Abend leer gestanden.
    Dennoch wollte der Händler wissen, was die Käfiganlage zerstört hatte und trat näher.


    Im Schutz der Dunkelheit konnte das Wesen, was fluchend vor ihm lag Brennan mit Sicherheit nicht direkt erkennen, so sprach der Mann aus Shay'vinayar mit seiner dunklen Stimme:
    "Askalar? Kein Gott, dessen Name man hier häufig hört."

  • Die dunkle Stimme drang urplötzlich aus dem Schatten und ließ den Kopf des Syreniae herum schnellen. Das stetig dunkler werdende Zwielicht erschwerte es, etwas mehr als den Umriss des dunkelgekleideten Mannes zu erkennen.


    "Wer hat denn hier von Askalar gesprochen?" knurrte er gereizt, was dieses zusammenhanglose Gerede zu bedeuten hatte, während er die Hand hob, um zu prüfen wie fest die Leiste in seinem Körper steckte.
    Das hatte ihm noch gefehlt... Ein Hausbewohner, der sich vermutlich gleich über seinen zerstörten Hühnerstall auslassen würde.


    Ascans Schwingen bebten in Erwartung einer erneuten Schmerzwelle, als sich seine Finger um den armdicken Span schlossen und testweise an ihm rüttelten. Die Rache dafür erfolgte sofort. Nur die Anwesenheit des nutzlosen Zaungasts verhinderte, dass er den Schmerz hinaus brüllte, doch seine hart stockende Atmung musste in der Stille der Nacht mindestens genauso deutlich zu hören sein.

  • Regungslos beobachtete Brennan den ungebetenen Gast.
    Er war die Dunkelheit, das Dämmerlicht des Tempels gewohnt und fühlte sich wohl in den Schatten. Sein Blick erhaschte mit Sicherheit mehr, als der eines "normalen" Händlers. Und doch wurde ihm das ganze Ausmaß dieses abendlichen Zwischenfalls noch nicht ganz bewußt.


    Ein Syreniae. Offensichtlich abgestürzt. Eventuell verletzt.
    Nein, besonders amüsiert war der Mann aus Shay'vinayar nicht von dieser Störung. Den Mann konnte er wohl kaum hier liegen lassen. Und ob er am heutigen Abend noch den Tempel von Innen sehen würde, stand wohl in den Schatten.


    "Könnt ihr aufstehen?" Brummte Brennan in die Nacht und hielt Ascan eine Hand hin. Die Aussicht, den Geflügelten irgendwie ins Haus tragen zu müssen erschien ihm alles andere als verlockend.
    Dennoch würde er ihn hineinbringen müssen um zu sehen ob er Heilung benötige.

  • Ascans Kopf sank nach hinten gegen die Bretter. Es fiel ihm mit jedem Atemzug schwerer, die Augen offen zu halten. Wattige Dunkelheit verwischte die wenigen scharfen Konturen und ein angenehmes Flüstern versprach schwerelose Erleichterung, wenn er nur die Lider schloss.
    Doch der Fremde ergriff erneut das Wort und zerriss dadurch den lähmenden Schleier.


    "Ich wäre nicht mehr hier, wenn ich es könnte", antwortete er dem Schatten finster auf dessen helfende Geste hin. Sein Kopf fühlte sich selbst durch die Schmerzen zu leicht an und das quälende Brennen in seinem Flügel wich allmählich einer beunruhigenden Taubheit. "Wenn Ihr Euch nützlich machen wollt, sorgt für etwas Licht. Dann seht Ihr schon, weshalb." Seine Augen verloren den Fokus auf die dunkle Gestalt. "Oder besser noch: Holt einen Priester!"


    Was hätte er dafür gegeben, einen zwingenden Befehl aus seinen letzten Worten zu formen, doch die Fähigkeit dazu entglitt ihm noch im selben Moment, als er es versuchte. Er war zu mitgenommen, um sich auf seine Macht oder die Gedanken des Fremden zu konzentrieren.

  • "Dem könntet ihr schneller gegen überstehen als gedacht." murmelte Brennan und rief, nein, schrie seinen Gesellen herbei.


    Xandros war gerade Anfang 20. Der Bart, der ihm wuchs ließ ihn wild und auch um einiges älter aussehen. Zu Brennans Bedauern war Xandros kein Anhänger der Shirsashai, sondern hatte beschlossen seine Patengottheit Kireala anzubeten, war darin aber so nachlässig und überaus tolerant, dass es die Zusammenarbeit mit Brennan nicht störte.


    Es dauerte keine Minute, das der Geselle mit einer Laterne neben dem Verletzten und seinem Meister stand. Nun war das Ausmaß der Verletzung auch für den Priester vollends zu erkennen und er nickte nur stumm, richtete das Wort nicht an Ascan, sondern sprach nur zu Xandros.


    "Wir müssen ihn reinbringen und versorgen. Sonst haben wir ihn morgen früh noch hier liegen."
    Der Priester beugte sich hinab, griff einen Ast auf und steckte ihn Ascan entgegen.


    "Wenn ihr euch meiner "Gastfreundschaft" alsbald entledigen wollt, wovon ich durchaus angetan wäre, dann haltet euer Mundwerk und beißt hier rauf. Ich kann die Leiste nicht hier entfernen und der Weg wird nicht einfach für euch." Sprach er und ohne auch nur ein Widerwort abzuwarten, schob er dem Syreniae das Holzstück quer in den Mund.
    Fast zeitgleich griffen er und Xandros Ascan irgendwie unter Armen und Flügeln und hievten ihn schwer in Richtung der Vogelhandlung.

  • Es wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil.
    Die Schatten und Geräusche flossen erschreckend schnell und unaufhaltsam ineinander... wie das abstruse Werk eines verrückten Malers, der eindeutig zu viel Blutasche inhaliert hatte. Ein hüpfender Stern verwandelte sich innerhalb eines Lidschlags in ein grelles Licht. Zwei Menschen. Mehr Details wollten sich in seinem Kopf nicht verfangen. Es wurde etwas gesprochen und Ascan konnte sich mit blanker Willenskraft noch einmal aus dem verworrenen Wirbelwind lösen, der in seine Gedanken gefahren war.


    Er verstand genug, um das raue Holzstück nicht gleich wieder auszuspucken. Zumindest glaubte er, verstanden zu haben, bis man ihm unter die Arme griff und ihn kurzerhand hochzog. Hart riss es die spitze Leiste ebenfalls in die Höhe, doch statt sich dabei aus seinem Fleisch zu lösen, brach sie mit einem knackenden Ruck aus dem hölzernen Schrottberg.


    Der explodierende Schmerz ließ Ascan einknicken noch bevor er ganz aufrecht stand. Das Holzstück zwischen seinen Zähnen knirschte lautstark. Schwer verlagerte sich sein Gewicht auf die Körper der beiden Männer zu seinen Seiten und nur Augenblicke später konnte er sich nicht daran erinnern, Schritte gemacht zu haben. Doch es musste so sein, der er blickte plötzlich geradewegs auf eine Tür, hinter der sich ein dunkler Raum erstreckte. Entgegen jeder Logik bäumte sich sein Instinkt dagegen auf, das Gebäude zu betreten. Die Vision, wie ihn die Wände zwischen sich einkeilen würden, überwog sogar die Pein, die durch den Schock wieder durch seinen gesamten Körper streute.
    Dunkel knisternd richteten sich keine gesamten Federn auf. Seine Gedanken rasten und fanden dennoch keinen Sinn. Vehement spie er das Stück Holz aus.


    Seine Beine bebten in dem Reflex, ihn wieder zu tragen. Gleichzeitig drängte es ihn, die Arme der Menschen abschütteln, doch weder das Eine noch das Andere wollte ihm gelingen. Die hilflose Wut führte nur dazu, dass ihm erneut Blut über die Stirn sickerte.

  • Brennan ächzte. Es war nicht das Gewicht des Gefiederten, sondern seine Bewegungen, die es schwierig machten ihn in Richtung der Vogelhandlung zu bekommen.
    "Wenn er nicht gleich still hält, dann gebe ich ihm einen drüber." Zischte Brennan und setzte erneut an, den Syreniae ein Stück vorwärts zu bekommen.


    Tatsächlich malte sich der Priester eben jenen Gedanken ausführlicher aus. Er könnte Ascan ein überziehen, ihn problemlos reinschleppen, das Stück Holz aus ihm holen, den Heilzauber wirken und wieder auf die Straße setzen. Vielleicht würde er es dann tatsächlich noch bis Mitternacht in den Tempel schaffen.
    Sein Blick glitt zu Xandros. Ob der allerdings mitspielen würde war zweifelhaft. Aber er war nur ein Geselle.


    Mit Sicherheit war der Priester nicht der Gewalt zugewandt. Seine Stärke waren die Worte, das Überzeugen, nicht die stumpfe Anwendung von Handgreiflichkeiten. Manchmal machten sie einem das Leben dennoch einfacher.
    So entschied Brennan schnell, seine Rechte ließ Ascan los und schlug in mit unvermittelter Heftigkeit nieder.


    Ein Taschentuch drückte sich auf die blutende Wunde des zusammenfallenden Körpers und keine Minute später lag Ascan auf einem schmalen Bett in einem dunklen Raum. Sicil hatte früher hier drin geschlafen. Seitdem hatte sich nicht viel geändert.


    Brennan besah sich den Geflügelten und war sich sicher, dass sein Schlag nicht fest genug war um auch die Behandlung unter Bewusstlosigkeit durchzuführen. Der Syreniae zuckte bereits wieder.
    Seufzend zog Brennan sich das Priestergewand über den Kopf. Ein Glücksfall, dass noch nichts von Ascans Blut drauf gelandet war und wenn möglich sollte das auch so bleiben.


    "Könnt ihr mich hören?"

  • Die erlösende Schwärze währte nicht lange. Kaum fand sich wieder ein Gedanke in seinem Kopf, tauschte die schmerzhafte Gegenwart mit dem Nachhall des Vergangenen. Von einer Sturmfront in die nächste. Die Krämpfe, die im Traum durch seinen fixierten Körper zuckten und das Brennen, das ihn langsam von innen nach außen zersetzte, waren schlimmer als jeder durchlöcherte Flügel es jemals sein könnte.
    War er noch immer hier und der Sturz in den Hinterhof war der gnädige Wahn gewesen?


    Zum zweiten Mal war es diese Stimme, die zu ihm durchdrang. Traum und Wirklichkeit rückten an ihre Plätze zurück, während der Blick des Syreniae sich flatternd hob. Derselbe Mensch... dieselben Schmerzen... nicht aber derselbe Ort...


    Im matten Schein einer Lichtmuschel gab es kaum etwas zu sehen. Schlichte Möbelstücke und ein verhängtes Fenster. So war es der Mensch, auf dem Ascans getrübter Blick länger verweilte. Etwas war ungewöhnlich an ihm und Ascan ahnte, dass die Erklärung dafür längst in seinem Kopf kreiste, wenn es ihm nur gelänge...
    Unwillig versuchte er seine Lage zu ändern, denn die Wand drückte seinen rechten Flügel mehr als unangenehm zusammen, während die verwundete Seite halb geöffnet im Raum lag. Verwundbarer als ihm lieb war.


    "Wo...?" brachte er hervor, bevor sich auch dieser Gedanke verflüchtigte. Nichts ergab irgendeinen Sinn... abgesehen von der bitteren Tatsache, dass es ihm verflucht dreckig ging.

  • "Niralenar." Brummte Brennan. "Ihr seid über dem Händlerviertel.. abgestürzt."
    Der Dunkeläugige hielt seine Auskunft knapp. Im Zweifel würde der Verwundete vor ihm sowieso nichts verstehen oder sich später daran erinnern.


    Zähneknirschend sah Brennan sich das Häufchen Elend im Schein der Lichtmuschel an. Es hatte den Kerl schwerer erwischt, als er gehofft hatte und abermals strich Brennan die Idee, heute noch in den Palast der Nacht zu gehen aus seinen Gedanken.


    "Ich kann euch nicht heilen, solange ihr noch derart gepfählt seid." Sprach er mehr zu sich selbst als zu Ascan.
    "Die Latte muss aus eurer Schulter. Es wird schmerzen. Sehr schmerzen. Denkt an irgendetwas Schönes."


    Für einen Augenblick ließ Brennan Ascan mit Xandros und seiner ausweglosen Situation alleine.
    Er wies einen der Singvögel an sein Lied zu trällern und ging sich dann die Hände waschen. So gut eine göttliche Heilung auch meistens wurde, Wundbrand war gefährlich und nie zu unterschätzen.


    Mit einem Stapel weißer Laken kam der Priester zurück, legte sie auf den einzigen Stuhl im Raum und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder ganz auf den Syrenia.
    "Es wird Zeit, bevor er noch mehr Blut verliert." Sprach Brennan in leiser Stimme zu Xandros. Der nickte nur stumm.


    Wahrscheinlich würde Ascan später nie wissen, was als nächstes genau in diesem Zimmer geschah. Tatsächlich stemmte Xandros das Knie gegen Ascans Brustkorb, während Brennan die Schultern des Geflügelten festhielt. Ein Ruck höchster Anstrengung durch den Gesellen des Händlers und einen kurzen aber heftigen Blutschwall später drückte Brennan Targo die linke Handfläche auf die Brust des Geflügelten, während seine rechte das freibaumelnde Amulett ergriff und sein Lippen Shirashais Worte der Heilung formten.
    "de Denga, di Shirashai kolmena kumbra lo.."


    Eine schwarze, undurchdringbare Dunkelheit stieg aus Brennans Handflächen aus und zog in Ascans Wunde ein.
    Sie war tief, seine Verletzungen schwer und die Heilung dauerte. Ein ums andere Mal sprach der Priester die Worte, die Energie floss weiter und weiter und eine gefühlte Ewigkeit später ebbte die göttliche Spannung abrupt ab und ließ Brennan Targo ins sich zusammen fallen.

  • Ascan hätte jeden für verrückt erklärt, der ihm sagte, dass er einmal für ein schmales Bett dankbar sein würde, doch Schwindel, Schmerz und die daraus resultierende Übelkeit scherten sich wenig um Prinzipien. Die Hände um den Holzrahmen der Schlafstätte verkrampft, geriet die Ankündigung des Menschen rasch in Vergessenheit. Nur einen Augenblick später - oder waren es Stunden gewesen - kamen wieder Geräusche im Zimmer auf.


    Aufgebracht spürte er die groben Griffe, die ihn noch stärker beschränkten. Es war eine flüchtige Empörung, denn schon explodierte der Schmerz in seinem Flügel, fetzte die Latte zusätzliches Fleisch mit sich nach draußen. Nichts hielt ihn mehr, die Pein heraus zu schreien. Was danach folgte, war ein Schementanz, untermalt von einem monotonen Mantra, das in seiner verwaschenen Erinnerung die Gestalt eines dunklen Liedes annahm.


    Dann ebbte es ab. Die Geräusche, der Schmerz, die Verwirrung... alles wich einer beruhigenden Dunkelheit.


    Als Ascan den Blick wieder hob, sank der Mann, den er zum ersten Mal wirklich klar vor sich sah, gerade in die Knie. Der andere griff hastig nach ihm und konnte ihn so vor einem Sturz bewahren. Ein kurzes Lauschen in seinen Leib, dann war Ascan sich sicher, dass er geheilt war.
    Ohne weiteres Zögern schwang der Syreniae die Beine vom Bett. Langsam und mit der erhabenen Kraft, die er gewohnt war, streckten sich seine schwarzen Schwingen im Raum aus - so weit sie es vermochten.


    Nichts hinderte Ascan mehr daran, die Puzzleteile zusammen zu setzen, die ihm im Gedächtnis geblieben waren.
    Seine grauen Augen fixierten den Priester. Denn das war der Dunkelhaarige... Ein Priester der Shirashai. Verräterisch baumelte das sternförmige Silberamulett auf dessen Haut. Noch immer im Sitzen, tauchte Ascans Hand in die Innentaschen seines Mantels, ohne dass sich sein Blick von dem Priester und dem anderen wandte. Sein Gold war noch an Ort und Stelle. Feuchtwarmes Blut hatte den dunklen Samt teilweise so stark durchweicht, dass Ascan die Schwere seiner Verletzung nicht abtun konnte. Er zog einen der Goldbeutel hervor und wog ihn kurz nachdenklich in der Hand.


    Die Erschöpfung, die sich im Gesicht des Priesters abzeichnete, war nicht zu übersehen. Mit auf die Knie gestützten Ellenbogen betrachtete Ascan seinen 'Wohltäter'. Inwieweit Eigennutz im Spiel gewesen war, würde sich zeigen. "Was schulde ich Euch?" wollte er dunkel wissen und die Dukaten im Beutel klingelten verlockend, als er ihn zu diesen Worten in der Hand drehte.



  • Die Heilung anderer durch Shirashais göttliches Wirken war etwas, dass Brennan in seinem Leben nur sehr selten ausgeführt hatte. Überhaupt war er damals erstaunt gewesen, dass Magie in ihm wohnte. Das die Magie sogar derart stark war, ein Wesen zu heilen und sogar vor dem Tod zu bewahren, hatte ihn immer in Demut versetzt. Seitdem liebte er seine Göttin noch mehr als zuvor - sofern das überhaupt möglich war.


    Doch gerade weil Brennan Targo es nicht gewohnt war, seine Kraft an andere weiter zu geben, kam ihm dies einer unglaublichen Anstrengung gleich, deren er sich erst bewußt wurde, als Xandros ihn stützte.


    Brennan schloß die Augen. Atmete tief ein. Atmete aus. 5 Sekunden der Ruhe, 10, 15, nur um neue Kraft aus seinem Glauben zu schöpfen. Soviel Kraft, dass es ihm möglich war, aus eigener Kraft zu stehen und dem Fremden in seinem Haus gegebenenfalls entgegenzutreten.


    Als der Dunkeläugige die Lider wieder hob, sah er Ascan mit weitausgebreiteten Flügeln vor ihn sitzen. Die Schwingen gaben ein imposantes Bild ab - hätte der Syreniae in der kleinen Kammer nicht selbst wie ein eingesperrter Vogel gewirkt.
    Offenbar hatte Brennan zuviel der göttlichen Energie in Ascans Körper fliessen lassen. War es nicht ursprünglich sein Plan gewesen, den Geflügelten nur soweit zu heilen, dass er nicht befürchten musste, er könne tot auf seinem Grundstück zusammensacken?


    Doch auch Brennan inhalierte mit jedem Atemzug neue Kraft. Die schwarze Macht, die in Ascan geflossen war, war Brennan nicht abgezweigt worden. Brennan war nur ein Medium. Das Medium seiner Göttin, die den Syreniae offensichtlich geheilt wissen wollte. Eine Leitung, die erschöpft von dem Transfer war, jedoch nichts an eigener Kraft eingebüßt hatte.


    Mit einem kalten Blick sah der Priester auf den Goldbeutel. Die Stirn kräuselte sich und ein Mundwinkel hob sich zu einem kühlen Lächeln. Geld? Gold? Edelsteine? Brennan hatte genügend von all denen. Er war ein wohlhabender Mann. Ein Mann, dessen Reichtum mach einen Adeligen vor Neid hätte erblassen lassen.
    Und er war ein Priester der Shirashai. Emulars Jünger mochte man eine Schuld mit Münzen begleichen können. Doch Shirashai sehnte sich nach ganz anderen Dingen.


    "Zunächst schuldet ihr nicht mir, sondern meiner Göttin euren Dank." Sprach Brennan mit monotoner Stimme. "Und sofern ihr keinen unglaublich treffenden Grund hattet, mein Eigentum zu zerstören, so bekomme ich von euch auch noch eine neue Voliere.." So warm der dunkle Farbton seiner Iris war, so kalt war der Blick, den er Ascan damit zuwarf.

  • Kurze Eindrücke flackerten hinter seiner Stirn auf. Kleine Federn am Boden... Drahtgitter... loses Streu...


    "Die Sache mit Eurer Voliere bedauere ich zutiefst", entgegnete Ascan und ein ungerührtes Lächeln glitt dabei in seine Mundwinkel. "Nehmt die Dukaten und lasst Euch dafür zwei neue bauen. Man kann niemals genug Vögel in Gefangenschaft halten, nicht wahr?"


    Er warf den Dukatenbeutel kurzerhand dem stumm dastehenden Gesellen zu. Der fing ihn schon aus Reflex heraus auf, blickte den Priester jedoch unschlüssig fragend an, kaum dass er ihn in den Händen hielt.


    Bei Emular... es hätte so einfach sein können, doch von allen fünfzehn Göttern musste es ihn ausgerechnet in die Hände eines Shirashai Priesters verschlagen.


    "Was Eure großzügige Göttin angeht... Sicher, ich bin sehr dankbar." Ascan zuckte scheinbar gelassen mit der Schulter. "Aber es war nicht Shirashai, die Euch aufgetragen hat, mich zu heilen... oder sehe ich das falsch? Es war Eure Entscheidung." Ernst drang sein Blick in den des Priesters. Etwas darin warnte ihn, diesen Menschen nicht zu unterschätzen. Er spürte noch die dunkle Macht, die in seine Muskeln gedrungen war. Sie strahlte angenehm bis in die äußersten Spitzen seiner Schwingen, verhieß eine Kraft, die er nicht begehrte, aber auch nicht ignorieren konnte.

  • Xandros hatte den Beutel erstaunt aufgefangen und sah jetzt relativ hilflos zwischen Brennan und Ascan hin und her. Ein kurzes Nicken mit dem Kinn von Brennan und Xandros warf den Beutel wieder auf das Bett.
    "Du kannst gehen. Danke für deine Mithilfe." leise und voller Höflichkeit richtete Brennan das Wort an seinen Gesellen und erst, als dieser das Zimmer verlassen hatte und zu Ascans Bedauern die Tür hinter sich schloss, richtete Brennan die Aufmerksamkeit wieder auf und das Wort an Ascan.


    "Mit jedem Herzschlag wirkt meine Göttin durch mich und ich kann euch eines versichern.." Brennan besah sich seinen Unterarm. Ascan war geheilt, aber das Blut des Syreniae hing noch immer an Brennans Haut.
    "Shirashai ist keine Dirne, die ihr Wirken für ein paar Goldmünzen hergibt."
    Der Händler griff sich eines der weißen Laken und rieb sich die Hände ab. Das Blut auf seiner Haut fing bereits an zu trocknen und hinterließ dunkelbraune Flecken auf dem feinen Stoff.


    "Ihr steht in Shirashais Schuld und ich sage es euch gerne noch einmal." Brennans Blick suchte Ascans Augen. "Diese Schuld ist erst abgetragen, wenn ihr mir mit euren eigenen Händen eine neue Voliere gebaut habt."
    Der Dunkelhaarige ging in Richtung Tür, drehte sich jedoch wieder um, als er die Klinke in der Hand hielt. "Es ist eure Entscheidung, wann ihr damit anfangen wollt, doch lasst euch gesagt sein, selbst wenn ich euch nie mehr wieder sehe, die Schuld wird auf euren Schultern lasten, so lange ihr sie nicht abtragt. Oder.." Brennan sah aus dem Fenster in die Dunkelheit und hielt einen Augenblick lang inne.
    "Oder wisst ihr, was oder wer euch dort vom Himmel geholt hat und ob es nicht vielleicht göttliche Fügung war?"


    Ein kaltes Schmunzeln glitt über die Züge des Priesters und er verließ das Zimmer. Die Tür blieb offen stehen, es stand Ascan frei, jederzeit zu gehen.
    Aber Brennan wollte jetzt nur eins.
    Etwas essen.

  • Ascan wartete, bis sich die Schritte des Priesters entfernten, dann erst atmete er auf. Es hätte schlimmer ausgehen können... Zwar wusste er nicht, woher der Priester seinen bedenklichen Sinn für Ironie nahm, ihn - von allen Wesen - um den Bau einer Voliere zu bitten, aber er würde diese Schuld begleichen.
    Seine Finger suchten die Münze Emulars und fanden sie. Fest schloss sich sein Griff um das kühle Edelmetall. Was war dort oben mit ihm geschehen? Niemals zuvor war er... gestürzt. Die Winde waren seine Welt, die Höhe der einzige Ort, an den nichts heranreichte... und dennoch. Etwas hatte ihn getroffen.


    Und Emular hatte ihn nicht beschützt.

    Der Syreniae verbannte diesen Gedanken, erhob sich von der Bettstatt und nahm den Goldbeutel dabei wieder an sich. Sein Blick wanderte zwischen dem Doppelfenster und der Tür hin und her, bis er schließlich ans Fenster trat und es mit einem entschlossenen Ruck öffnete. Fast augenblicklich fuhr der Nachtwind ins Zimmer und verfing sich in seinen Federn. Der Gedanke, sich mit dem Nachhall der göttlichen Kraft in den Himmel zu schwingen, löste eine dunkle Sensation in ihm aus.
    Schon hatte er den Stiefel auf dem Fensterbrett, als ein letzter Gedanke ihn zurückhielt. Was, wenn der Priester mit seiner Anspielung nicht ganz Unrecht hatte und es Shirashai selbst gewesen war, die seinen Sturz herbeigeführt hatte?
    Er schüttelte den Kopf und schmunzelte bei dem Gedanken. Wie anmaßend, zu glauben, eine Göttin würde sich für ihn die Mühe machen.
    Trotzdem... Er verharrte am Fenster, den Blick in die Schatten jenseits der Dächer vertieft. Falls es - entgegen aller Wahrscheinlichkeit - tatsächlich so gewesen war und er für einen Moment ehrlich mit sich selbst blieb: Was würde er tun, wenn ihm diese dunkle Kraft zu gut gefiel? Wenn danach kein Flug mehr an diesen heranreichen würde?


    Langsam, fast bedächtig zog er den Fuß vom Fensterbrett. Einmal nur. Wenigstens einmal, bevor er Beleriar verließ, wollte er einer Versuchung nicht nachgeben. Ascan schloss das Fenster. Der Laut, mit dem der Riegel vorsprang, hatte etwas Endgültiges an sich und er brauchte einen Augenblick, um die Finger von den Fenstergriffen zu lösen. Dann jedoch wandte er sich um, faltete seine Schwingen so eng es ihm möglich war an seinen Rücken und durchschritt mit steinerner Miene die Tür, die ihn erst einmal tiefer in dieses Gebäude führen würde, bevor er es verlassen konnte.


    Der Weg führte ihn durch einen Flur und eine Treppe abwärts. So etwas wie ein Verkaufsraum öffnete sich an ihrem unteren Ende. Käfige reihten sich an den Wänden auf und obwohl Ascan kein Geräusch hörte, wusste er, dass sie nicht leer waren. Ein Anflug von Gänsehaut machte sich auf seinen Armen bemerkbar, doch er schalt sich selbst einen Narren und blickte sich genauer um, um im Halbdunkel herauszufinden, welche Tür zur Straße führte.

  • Ascan war alleine im Verkaufsraum. Die meisten Käfige waren abgedeckt, alles schien unwirklich friedlich.


    Bevor der Geflügelte jedoch auch nur annähernd eine Tür erspähen konnte, bemerkte er den blassen Schein einer Lichtmuschel in seinem Rücken.
    Xandros stand hinter ihm. Bereit für den wohlverdienten Feierabend.


    Als Ascan sich umdrehte, deutete er dem Syreniae an still zu sein, in dem er seinen Finger auf die Lippen legte. Dann öffnete er die Tür zur Straße und schob den Mann mit den dunklen Flügeln hindurch, bevor er ebenfalls hindurch ging.


    "Feierabend" murmelte er mit einer Stimme, die sehr jung schien und nicht so recht zum wilden Aussehen des Mannes passen wollte. Xandros verabschiedete sich mit einem Nicken von Ascan und den Worten "Ihr werdet ihn früher oder später wiedersehen. Das ist gewiss...". Dann steckte er den Schlüssel in das Schloss und beabsichtige die Vogelhandlung abzusperren.

  • Ascan ließ ihn gewähren. Er hatte nicht vergessen, dass dieser wortkarge Bursche dem Priester nach seinem... Unfall zur Hand gegangen war.
    "Gewiss ist, dass ich mir beim Zimmern einen blauen Daumen holen werde", schmunzelte der Syreniae, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern machte sich auf den Weg ins Palastviertel. Notgedrungen zu Fuß, denn solange die dunkle Segnung noch nicht abgeklungen war, würden seine Schwingen dort bleiben, wo sie waren: Sicher gefaltet und regungslos auf seinem Rücken.

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