Durch die Straßen

  • Er nickte.


    „In Corandir, um genau zu sein.“ Was gab es über seine Heimatstadt schon zu sagen? Er hatte so vieles vergessen und was er noch wusste, verwahrte er zu tief und betrachtete es zu selten. Dabei…
    „Es waren… es sind schöne Erinnerungen.“


    Schiffbrüchig also… und von Nixen gerettet. Soviel dazu. Sein Blick trübte sich.


    „Damals... da war alles noch so weit entfernt. Wenn man Kind ist, ist alles grenzenlos. Da sind Regeln nur von den Großen ausgedacht, damit sie den Spaß noch eine Weile für sich allein haben.“ Obwohl da noch mehr lauerte, etwas, das kein Spiel gewesen war, konnte ihn der Gedanke zum Lachen bringen.
    Es munterte ihn auf, die schlechten Gedanken verdrängen zu können. Aus einem Seitenblick zu Tara sprach seine Dankbarkeit - und er fand es in diesem Moment tatsächlich etwas schade, dass sie es nicht würde sehen können.


    Für einen weiteren Augenblick schwieg er nachdenklich über der Frage, die er ihr hatte stellen wollen und entschloss sich dann kurzerhand, eine andere zu wählen. Ascans Blick wich zur Stadt aus.


    „Man kann annehmen, dass Ihr viele Liebschaften hattet. Eine schöne Frau wie Ihr bleibt selten lange allein… aber… war da jemals etwas dabei, für das ein Name wie ‚wahre Liebe’ angemessen gewesen wäre?“
    Um nicht falsch verstanden zu werden, hob er eilig die Hände und erklärte: „Ihr müsst verstehen – unter uns Sylphen gibt es einige interessante Legenden… aber solche über diese ‚wahre Liebe’, von der ihr Menschen und manch anderes Volk so gern sprecht, stammen nicht aus unserer Kultur. Es ist mir ein Rätsel… selbst von Menschen hörte ich bereits, sie sei nur ein Gerücht, nicht mehr als ein Wunschtraum. Also interessiert es mich, was Ihr dazu erzählen könnt.“


    Er ignorierte die Befürchtung, das es unangemessen war, Tara danach zu fragen und legte seine Unterarme abwartend aufs Geländer zurück.

  • Ein leichtes Schmunzeln glitt über Taras Lippen. Wie wahr seine Worte doch wahren, wie wahr..


    Als Ascan seine Frage gestellt hatte, hielt die Rothaarige einen Augenblick inne. Die wahre Liebe. Was für eine Frage. Tara griff in ihren Geldbeutel und ihre Finger spielten mit einer Krabbe.


    "Eine schwierige Frage, die ihr da stellt. Eine Frage, die vielleicht sogar eine Krabbe wert wäre. Aber ich werde trotzdem versuchen, sie euch zufriedenstellend zu beantworten."
    Tara packte die Krabbe weg, griff mit beiden Händen hinter sich an das Geländer und setzte sich ohne weitere Gedanken auf die Brüstung neben Ascan.


    "Wenn die wahre Liebe ein Gegenstand, ein Wort, ein Gefühl ist, dann habe ich sie wohl gefunden. Vielleicht sogar mehr als einmal. Ich liebe das Meer. Ich liebe den Wind in meinen Haaren. Ich liebe die Freiheit. Aber, wenn ihr eine Person meint.."


    Auch wenn Ascan sie nicht sehen konnte, schloß Tara die Augen. Sie brauchte die komplette Dunkelheit um sich herum um sich auf die nachfolgenden Worte zu konzentrieren.


    "Nein, ich traf noch keine Person, bei der ich die "wahre Liebe" fand. Eigentlich glaube ich daran auch nicht wirklich. Warum sollten wir Zuneigung, Verliebtheit, ja sogar Liebe für jemanden empfinden können, wenn es da doch dieses eine, diese reinste aller Liebe geben sollte?" Die Rothaarige pausierte einen Augenblick, aber es war deutlich, dass sie noch etwas hinzuzfügen hatte.


    "Dennoch.. ich kann nicht leugnen, dass auch in mir ein kleiner Funke voller Hoffnung flackert. Meine Eltern trafen sich unter widrigsten Umständen. Er ein Mensch, sie eine Nixe. Sie konnten nicht zusammen leben, sie waren sich nicht immer treu - aber wenn ich meinem Vater in die Augen gesehen habe, sobald er von meiner Mutter sprach.. war da mehr. Er hatte dann immer diesen Blick voll Liebe und Wärme..."


    Tara öffnete die Augen wieder und starrte in die Nacht hinaus. Sie dachte an ihre Eltern. Wie lange hatte sie beide nicht mehr gesehen? In ihrer Erinnerung vertieft, verpasste sie fast Ascan eine neue Frage zu stellen. Aber nur fast..


    "Und ihr? Habt ihr schonmal so tief geliebt, dass ihr gewillt ward, den Mythen der Menschen zu glauben?"

  • Natürlich klärte ihre Antwort nichts, ohne nicht zugleich neue Fragen aufzuwerfen. Trotzdem klang es aufrichtig, was sie gesagt hatte - und die Wahrheit war es, um die sich ihr Spiel doch drehen sollte.


    "Eine Sache zu lieben...", wiederholte er nachdenklich. "Freiheit. Nichts, das existiert... das ich mehr lieben... mehr begehren könnte." Er lächelte. "Dass... muss ich euch ja scheinbar nicht erklären..."


    Es dauerte seine Zeit, bis er daraufhin fortfuhr.


    "Jemanden... jemanden... vielleicht... das ist nicht..." Seine Stimme erstarb allmählich, bis Schweigen zurückblieb. "Diese Wahrheit kenne ich nicht... ich kann dazu nichts sagen", flüsterte er schließlich in die Dunkelheit.
    Seine Finger schlossen sich um eine Krabbe und zogen sie aus einer der Tiefe seines Mantels. Auffordernd hielt er Tara den Wettbetrag entgegen.

  • Ein seltsames Gefühl durchströhmte Tara, als sie Ascan reden hörte. Die sonst so ruppige Piratin fühlte wie er mit seinen gestammelten Worten sie tief im Inneren berührte.
    Sie empfand den widersinnigen Wunsch, Ascan in den Arm zu nehmen, ihm tröstende Worte zuzusprechen für etwas, dass sich nicht wußte, nicht kannte, nicht mal zu erahnen glaubte.


    Tara schallte sich selbst einen Narr dafür. Nur weil Ascan offensichtlich nicht das glücklichste Wesen Beleriars war, mußte das noch lange nicht bedeuten, dass sie Bedauern für ihn empfinden mußte. Schon gar nicht, wenn er keine klaren Worte an sich richten konnte.
    Die Piratin in ihr griff so schon im Geiste nach der Krabbe, jedoch war die "weiche" Seite Taras diesmal stärker.
    "Wenn ihr die Wahrheit nicht kennt, so seid ihr mir nichts schuldig." Antwortete sie und mit einem Lächeln auf den Lippen fügte sie hinzu. "Ansonsten könnte ich mich mit diesem Spiel allein durch die Frage nach dem Sinn des Lebens reich spielen."

  • Er zog die Krabbe zurück, drehte sie noch einen abwägenden Moment zwischen den Fingern und legte sie schließlich auf die Brüstung. Der feine, harte Klang verklang rasch in der Nacht.


    „Dann setze ich dafür eine Runde aus.“


    Ein fast unhörbares Wispern von oberhalb der Straße. Ascan drehte den Kopf, ließ die blicklosen Fassaden, die schmalen, stockfinsteren Klüfte zwischen den Häusern, den trübschwarzen Hintergrund der Kuppel vorüber ziehen. Vielleicht ein Windzug in einer brüchigen Dachritze. Vielleicht ein Vogel, der erst jetzt von einem langen Flug Rast eingelegt hatte.


    Seine Hände ließen von der Brüstung ab, spürend, dass der laue Nachtwind sich bereit gemacht hatte, die Richtung zu ändern.

  • "Dann setzt ihr eine Runde aus." Zufrieden verschränkte Tara die Arme vor der Brust.
    Das sollte wohl soviel bedeuten, wie dass sie daran war, die nächste Frage zu stellen.


    Tara überlegte und folgte Ascans Blick. Sie sah nichts, was seine Aufmerksamkeit hätte auf sich ziehen können und blickte so nur sturr in die Unendlichkeit. Nah einigen Sekunden fiel ihr die nächste Frage ein.


    "Spürt man die Freiheit wenn man fliegt noch stärker, als hier auf dem Boden?"
    Wahrscheinlich eine Frage, die für Ascan seltsam anmuten mußte, doch Tara fand sie berechtigt. Wie alt war der Traum vom Fliegen schon, den die Menschen hegten? Sie hatte sogar von Menschen gehört, die nur auf der Suche nach Sylphen waren, damit ihre Kinder mit Flügeln geboren werden sollten - auch wenn Tara das für einfach Ammenmärchen hielt.

  • Tief rann Luft in Ascans Lunge. Er hatte sich bereits halb abgewandt, als sie noch überlegt hatte, doch nun bewegte sich sein Kopf wieder in ihre Richtung.


    Der Drang, ihr ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit zu bereiten, den Himmel zum Teil ihres Lebens werden zu lassen, überwältigte ihn für einen Moment. Zugleich flüsterten stille Bedenken… dass sie zu begeistert sein könnte… dass sie nichts vermissen würde, was sie nicht kennen gelernt hatte.
    Ascans Hände ballten sich zu Fäusten.


    Gewissenlos, ihr seine Welt aufzeigen zu wollen… ihr - die ebenfalls dieses Verlangen nach grenzenloser Freiheit in sich zu tragen schien… die jedoch durch nichts als ihre eigenen Entscheidungen eingeschränkt war...
    Der Sylph musterte Tara mit dunklem Blick.

    Nein… sie war nicht wirklich wie er.


    Die Spannung löste sich aus seinen Fingermuskeln, strömte seine Flügel hinab. Unsichtbar lag ein Lächeln auf seinen Lippen, seine Augen fixierten die neugierige, rothaarige Frau.


    „Möchtet Ihr es… selbst herausfinden?“

  • Tara zuckte zusammen und starrte Ascan an. Mit diesem.. "Angebot" hatte sie nicht wirklich gerechnet. Ihr Blick glitt in die Höhen der Kuppel, die schwarz wie Pech über sie gespannt war. Sie zögerte. Fast einen Augenblick zu lang um noch eine Antwort erwarten zu können.


    "Ich? N.. nein, danke." Abwehrend hielt Tara die Hände vor sich. "Ich bin ein Kind des Bodens, der Meere. Es wäre.. nicht richtig." Taras Miene verzog sich. Sie scheute sich eigentlich vor nichts. Sie nahm es mit jedem Kämpfer auf sich und sah jeder Gefahr trotzig ins Auge. Aber fliegen? Sie? Was wäre, wenn Ascan sie fallen ließ oder, oder.. ihr schlecht würde? Dennoch war da diese furchtbare Neugierde in der Rothaarigen, die einerseits Befriedigung suchte, andererseits sich jedoch gegen die Erlangung dieses Gefühles zu wehren schien.

  • Verwundert hob Ascan die Augenbrauen.
    „Ängstigt Euch die Höhe, Tara… oder bin ich es?“ Es klang amüsiert.


    … nicht, dass er ihr eines von beidem verübeln könnte. Jedoch hatte er ihr ein Angebot gemacht – und war nicht bereit, es allzu schnell zurück zu ziehen.


    „Überlegt es Euch“, fügte er sanft hinzu.

  • "Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich vor jemanden wie euch Angst habe." Taras Antwort klang ein wenig bissiger als beabsichtigt. Dann atmete die Halbnixe jedoch tief ein, schloß für einen kurzen Augenblick die Augen und nickte.


    "In Ordnung, zeigt mir wie es ist."
    Die Rothaarige wußte nicht was passieren würde oder wie das Gefühl in der Höhe sein würde. Sie nahm an, dass Ascans Flügel ordentlich Wind verursachen würden und band sich schnell die Haare im Nacken zusammen. Dann sah sie Ascan fragend an.

  • Hatte er sie also doch nicht überschätzt.
    Zufrieden beobachtete er, wie sie sich innerlich und äußerlich für ihr ‚Abenteuer’ wappnete.


    „Das werde ich“, versprach er und legte seine rechte Hand über die Brosche seines Mantels. „Aber nicht heute Nacht“, fuhr er bedauernd fort.


    Selbst wenn er es wollte… er hätte es nicht gekonnt.
    Die Schmerzen waren abgeflaut, aber sie waren noch da. Er würde seine Flügel heute nicht einmal mehr mit seinem eigenen Gewicht belasten, geschweige denn… mit dem einer weiteren Person.


    Ascans Schwingen legten sich eng an seinen Rücken, als er einen Schritt vor ihr zurücktrat und seine Gestalt im Dunkel noch undeutlicher wurde. Er brauchte Zeit und musste noch herausfinden, wie schwer die Verletzung war. „In fünf Tagen an der Schwarzen Katze – kurz nach Einbruch der Dunkelheit...“


    „Ich werde auf Euch warten, Tara“, sagte er im Umdrehen, hob die Hand an seine Kapuze und kein Gedanke hielt ihn nun länger davon ab, seine Schritte entlang der dunklen Straße fort zu setzen.


    Es war lange her… und außerdem… wusste er wirklich noch keinen geeigneten Ort, an dem er heute Nacht schlafen konnte.

  • Tara öffnete wieder die Augen und sah Ascan hinterher. Die Piratin konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ein kurzes Spiel war das gewesen, aber.. ihre Hand glitt über die Brüstung und bekam Ascans Krabbe zwischen die Finger. Immerhin war sie nicht leer ausgegangen.


    Als der Sylph schon fast fort war, stiegen Zweifel in der Piratin auf. Ob sie tatsächlich für so eine Erfahrung schon bereit war? Nun, sie würde es wissen, wenn sie in fünf Tagen wieder in der schwarzen Katze war. Oder eben nicht.


    Fröhlich pfeiffend steckte sie die Krabbe ein und schlug dann einen Weg ein, der sie zu ihrem heutigen Nachtquartier führen sollte. Das Interesse, Ascan zu überfallen, war auf null gesunken und Tara fand die Informationen und das Gespräch ansich waren genug "Beute" für einen einzige Abend und eine erste Begegnung.

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