Wo auf der Oberwelt das letzte Licht des Tages den Himmel und jede einzelne Wolke in lodernden Farben hervorhob, versickerte es hier auf Beleriar so farb- und klanglos, das nichts unter der Kuppel seinem Verschwinden nachzutrauern schien. Zuerst wurde es kühl, dann nahezu fahl und noch bevor es ganz verging, färbte sich der Ozean über den Dächern Nir'alenars bereits so schwarz, dass nur einige leuchtende Quallen und Seesterne seine ferne Tiefe verrieten.
Ascan erhob sich von dem Dachvorsprung, von dem aus er die letzten Momente der Dämmerung abgewartet hatte. Erst jetzt öffneten sich seine Schwingen, lösten sich seine Stiefel mit einem einzigen kraftvollen Schwung von den Ziegeln. Die Lichter der Stadt begannen nun zu erwachen. Abgesehen von den hell erleuchteten Alleen des Palastviertels, den Türmen der Magie und dem fast lichtlosen Areal des Seeviertels glichen die Straßen einander in ihrer chaotischen Verteilung kleiner Lichter. Eine wahllose Regelmäßigkeit, die von den pechschwarzen Schleifen und Armen des Dessibar durchzogen wurde. Es herrschte kaum Wind und wann immer sich Ascans Flügel im Aufschwung senkten, schien ihr Rauschen als einziges Geräusch über der Stadt zu schweben.
Seine Gedanken wanderten zu Damiel O'Sander und wie schon oft in den letzten Jahren verbanden sich die Erinnerungen an das Waisenhaus zu einer verwirrenden Mischung aus warmem Heimatgefühl und tiefster Abneigung. Gerade als er die lästigen Grübeleien abschütteln wollte, fuhr ein glühendes Pulsieren durch die Lagen seiner Kleidung, wo die Siegelmünze Emulars in den Falten des Stoffes verborgen lag. Überrascht fuhr seine Hand zu der Münze - und erreichte sie nie.
Ein schwarzer Blitz.
An mehr oder etwas Genaueres konnte Ascan sich beim besten Willen nicht erinnern, als der feine Staub sich allmählich senkte. Er flog nicht mehr, wurde ihm gelinde überrascht klar. Ungleich überraschender kam der Schmerz. Es war kein Schmerz, den er einem bestimmten Teil seines Körpers zuordnen konnte. Die Pein höchstpersönlich schien sich in ihm eingenistet zu haben. Mit einem Keuchen realisierte er gesplittertes Holz über und um sich und es brauchte nicht viel mehr, um zu erraten, was passiert sein musste.
Er war auf die Stadt gestürzt... So unmöglich ihm diese Erkenntnis auch erschien. Ascan kniff die Augen zusammen und wie zur Antwort explodierten Sterne hinter seinen geschlossenen Lidern. Sein schmerzender Schädel machte es ihm kaum möglich, seine Flughöhe zu überschlagen. Das Ergebnis dieser Rechnung änderte schlagartig alles. Nicht seine Verletzungen waren die Überraschung - sondern, dass er sie überhaupt noch spürte.
Der erste Versuch, sich aufzurichten, peitschte die Schmerzen erst recht auf. Seine Schwingen schienen sich verhakt zu haben und fixierten ihn in einer halb liegenden Stellung auf dem Rücken, doch die Panik, die das normalerweise bei ihm hervorgerufen hätte, gesellte sich nur einhellig zu seinen übrigen schockstarren Eindrücken. Gleichzeitig polterte eine letzte lose Holzstrebe zu Boden. An etwas wie feinmaschigem Draht kam sie zum Halten und federte auf diese Weise über den Boden, der von kleinen Federn und losem Streu bedeckt schien. Ascan merkte, dass es ihm zunehmend schwerer viel, seiner Umgebung einen klaren Sinn abzugewinnen. Vielleicht machte es auch keinen Unterschied mehr und das würden eh seine letzten Gedanken sein...
Dagegen sprach, dass sich sein Schmerz zwei Kernpunkte gesucht hatte. Der eine war sein Kopf, an dem etwas Warmes - wohl sein Blut - unangenehm hinabrann. Der andere fand sich im oberen Arm seines linken Flügels. Ein vorsichtiger Blick zur Seite und der Syreniae schloss stöhnend die Augen. Zu spät, um das Bild der spitzen Holzleiste wieder rückgängig zu machen, die sich glatt durch den Muskel seines Flügels gebohrt hatte.
"Bei Askalar!" stieß Ascan so wütend hervor, dass man es für einen Fluch halten konnte.