Die Türme der Magie (alt)

  • „Eine Geschichtenerzählerin?“, fragte der Djirin aufrichtig
    interessiert. Er hätte darauf kommen sollen, immerhin hatte seine
    Gesprächspartnerin eine sehr angenehme Art mit Worten umzugehen und
    verstand sich darauf die Aufmerksamkeit zu fesseln. Unterbewusst hatte
    er es wohl darauf geschoben, dass er seine Muttersprache so lange nicht
    gehört hatte. „Aber wenn Magie im Spiel ist, würde ich mich über
    seltsame Zufälle nicht weiter wundern. An der Zauberei ist alles
    sonderbar und wenn es einem zumindest ein paar Münzen einbringt sollte
    man nicht lange überlegen, sondern zugreifen.“


    Er jedoch rechnete derzeit nicht einmal mit einem noch so geringen Teil
    eines Schatzes und auch dass er in nächster Zeit einen Dieb stellen
    würde war eher unwahrscheinlich. Said seufzte. Er mochte es nicht
    besonders sich alt zu fühlen, zumal der Zustand noch sehr lange andauern
    konnte, aber das war er nun einmal. Und dann seine Habseligkeiten: Ein
    Gehstock, ohne den seine Knie nachgaben, ein Instrument, für das seine
    Finger inzwischen zu unbeweglich waren und Sehgläser, mit denen er
    inzwischen beim Pfandleiher gewesen war.


    Ach, er wurde wirklich alt, dachte er ärgerlich. Noch vor einem halben
    Jahrhundert hätten ihn solche Kleinigkeiten schließlich auch nicht
    weiter gestört. “Lasst Euch von mir nicht unterbrechen. Es ist
    schließlich eine ganze Weile her, dass ich einer Geschichtenerzählerin
    aus der Heimat zuhören durfte. Und an dieser Kunstform habe ich mich
    tatsächlich noch nie selbst versucht…“

    Zauberei ist die Soße, die Dummköpfe über ihre Fehler gießen, um damit den Geschmack ihrer Unfähigkeit zu überdecken.


    George R. R. Martin

  • Die Djirin zuckte leichthin mit den Schultern. "Ich habe nie verstanden, wieso viele Leute es als Kunst betrachten. Es gibt viele Künstler auf dieser Welt, Artisten, Musiker, Maler. Aber ich erzähle doch nur, reihe Worte aneinander. Die wahre Kunst findet in den Köpfen meiner Zuhörer statt, die aus meinen Erzählungen Geschichten machen, Bilder dazu entstehen lassen und nur hier oben" sie tippte sich lächelnd an den Kopf, "die fantastischsten Dinge erleben können. Das bewundere ich."


    Tatsächlich war die Djirin der Meinung, selbst ziemlich fantasielos zu sein. Die gängigsten Geschichten wiederholten oft bestimmte Muster, die die Zuhörer vereinnahmten. Djasihra verpackte sie nur in verschiedenen Worthüllen, um ihnen den Anschein von etwas neuem zu geben. Viel spannender fand sie Berichte über tatsächliche Geschehnisse. "Ach, die Heimat." Sie seufzte. "Ich bin eigentlich erst seit kurzem hier unten, doch scheint es mir schon unendlich lange her zu sein, seit ich zum letzten Mal einen Blick zurück auf die gläsernen Flaschentürme der Hauptstadt geworfen habe. Wieso wissen wir etwas immer erst zu schätzen, wenn wir uns mit dem Verlust desselben auseinandersetzen müssen?"

  • „Wahre Kunst findet immer in den Köpfen statt“, wandte Said ein. „Sie regt die Vorstellungskraft des Zuhörers oder Betrachters an und auch dasselbe Werk kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise wahrgenommen werden. Außerdem schafft auch der Maler nicht unbedingt Neues. In vielen Fällen bringt er nur das was er sieht auf die Leinwand. Und der Musiker spielt in den meisten Fällen nur Melodien, die jemand anderes erdacht hat. Dennoch sind sie Künstler, oder? Ich glaube nicht, dass einen der Versuch ihre Leistungen zu vergleichen wirklich weiterbringt. Man würde sich nie einig werden…“


    Eine seltsame Angewohnheit der Leute die fremden Talente höher zu bewerten, als die eigenen. Auf der anderen Seite war Bescheidenheit maßloser Selbstüberschätzung natürlich vorzuziehen und dieser tiefe Respekt vor dem Publikum war eine sympathische Eigenschaft bei einer Künstlerin. „Und es bedarf der richtigen Worte, um lebhafte Bilder im Geiste anderer zu erwecken.“


    Bei der Erwähnung der Flaschentürme wurde auch der Blick des alten Djirin ganz wehmütig. Schließlich hatte er die Heimat – so kam es ihm zumindest vor – viel endgültiger verloren, als er beschlossen hatte ihr für immer den Rücken zu kehren. „Manche würden jetzt sagen, dass diese Dinge in der Erinnerung besser sind, als sie in Wirklichkeit waren“, erwiderte er auf Djasihras Frage. „Aber ich glaube damit wird man ihnen nicht gerecht. Ich denke es liegt daran, dass man sich an die wirklich guten Sachen viel zu schnell gewöhnt und beginnt sie für selbstverständlich zu halten. Aber für diejenigen, die einen Weg auf diese Insel finden, muss es auch wieder Wege zurück geben. Macht Euch also nicht zu viele Gedanken, denn wenn wir Djirin etwas haben, dann ist es Zeit.“

    Zauberei ist die Soße, die Dummköpfe über ihre Fehler gießen, um damit den Geschmack ihrer Unfähigkeit zu überdecken.


    George R. R. Martin

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