Weihrauch und Orakelsteine

  • Es fühlte sich seltsam für Fanir an, ihr so nah zu sein. Als sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, hatte es nicht den Anschein, als hätte die Vasilar etwas an ihrem Äußeren ändern wollen, es schien eher wie eine Art Reflex zu sein, als müsste sie es tun. Vieleicht um normal zu wirken, sinnierte Fanir. Denn so wirkte sie wirklich nicht. Sie wirkte unbewegt, nicht direkt unnatürlich, aber so, als würde sie nichts erwarten, dennoch auch so, dass sie nichts übberraschen würde. Fanir fand das interessant, es war nichts, was sie sich selbst wünschte, aber spannend anzusehen.


    Die Worte der Vasilar waren unbestimmt, genau das machte sie gefährlich, jeder konnte sie deuten, genau so, wie er oder sie es wollte. Fanir beschloss, später darüber nachzudenken, wenn sie wieder draußen war.


    Fanir fand den Beutel sehr hübsch, den die Vasilar zwischen sie stellte, aber gleichzeitig schalt sie sich, nicht so töricht zu sein und mehr auf ihre Umgebung zu achten. Sie beobachtete ihr Gegenüber. Ihr scheinbar ausdrucksloses Gesicht. Dann sah sie auf die Hand, die sie ihr anbot. Kurz ballte sie ihre eigene zur Faust, dann legte sie sie in die kühle Hand.


    Mit geschlossenen Augen fasste sie in den Beutel. Glatte Steine lagen darin. Welche sollte sie nehmen? Hatte es überhaupt eine Bedeutung, konnte sie jetzt noch ihre Zukunft ändern, war dies möglich? Sie atmete durch, und zog fünf Steine hinaus, einen nach dem anderen. Sie lies ihre Augen geschlossen, auch wenn sie die gestellte Aufgabe erfüllt hatte.

  • Auch Silenes Augen blieben geschlossen, bis Fanir die fünf Steine auf den Tisch gelegt hatte. Ihr Geist war fokussiert auf eine Welt, die hinter der Sichtbaren lag, dort, wo die Schicksalfäden wie Spinnennetze verwoben waren und klebrig die Zukunft gefangen hielten.
    Mit einem sanften Druck der Hand signalisierte Silene Fanir, dass sie die Augen wieder öffnen konnte. Silenes erster Blick nachdem sie ihre Augen geöffnet hatte galt den Steinen. Stumm musterte die die fünf Zeichen. Es waren fünf weiße Steine, die Fanir aus vielen verschiedenfarbigen Steinen gezogen hatte. Klare Zeichen, ohne Frage.
    Der erste Stein war Silene sehr vertraut, denn sie hatte ihn schon so oft von jungen Menschen gezogen gesehen. Es war tatsächlich das Zeichen “Mensch”, das Fanir als erstes gezogen hatte. Ein Zeichen, dass an ein großes M erinnerte.
    “Jeder Mensch hat sein eigenes Leben erhalten und das Recht sein Leben zu erfüllen. Dieser Stein erinnert daran, dass Euer Schicksal von Euren Entscheidungen abhängig ist … und dass Ihr im Grunde eures Herzens ein Mensch seid, ein Wesen, dass bei seiner Erschaffung im Gegenzug zu seiner Fehlbarkeit viel Einzigartigkeit und Freiheit erhalten hat.”, erklärte Silene. “Geht nicht den Weg, der leicht aussieht … geht den Weg, den keiner sonst zu gehen wagt.”
    Die Seherin wartete einen Moment und drehte den Stein nachdenklich mit ihren weißen Fingern einmal um seine eigene Achse, bevor sie Fanir ins Gesicht sah. Sie mochte ein mächtiges Feuer in sich tragen, doch war sie ein Wesen voller Gefühle und Wünsche. “Ihr geht ohnehin nicht die Wege, die euch einfach erscheinen … oder irre ich mich?”
    Etwas ironisch mochte dieser Frage wirken, denn die Seherin irrte sich selten.

    Nur ewigen und ernsten Dingen / Sei ihr metallner Mund geweiht
    Und stündlich mit den schnellen Schwingen / Berühr' im Fluge sie die Zeit
    Dem Schicksal leihe sie die Zunge / Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
    Begleite sie mit ihrem Schwunge / Des Lebens wechselvolles Spiel
    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Man konnte es fast greifen, es war ein Gefühl in der Luft, Fanir spürte, wie sich die feinen Häarchen an ihren Oberarmen aufstellten. Es war nicht unangenehm, es war nur da. Auf einen leichten Druck ihrer Hand hin öffnete sie die Augen. Es war ein bisschen heller geworden, so schien es jedenfalls Fanir.


    Fünf weiße Steine lagen zwischen ihnen nun auf dem Tisch. Fanir blickte gespannt in die Augen der Vasilar, wass würde sie ihr sagen?


    Als sie Einzigartigkeit sagte, hätte Fanir gerne geschnaubt, tat es aber nach kurzen zögern nicht, sie wollte ihr Gegenüber nicht beleidigen. Natürlich war sie einzigartig. Das hatten ihr ihre Geschwister oft genug unter die Nase gerieben.


    Einfache Wege ging sie tatsächlich nicht, weil sie ihr scheinbar verschlossen waren. Sie konnte sich meistens nicht auf den einfachen Weg halten und wählte deswegen meist den schwierigen, der aber ihr besser gefiel. Außerdem würde sie der Seherin nicht unter die Nase reiben, dass sie sich irrte.


    Also sagte sie: "Nein, nein, natürlich nicht. Was seht ihr in den anderen Steinen?"

  • Eine unbeschreibliche Kühle sprach aus dem durchdringenden Blick der Seherin, hinter dem sich vieles verbergen konnte. Sie wusste, dass die junge Frau vor ihr verstanden hatte. Sie hatte ihre Gründe für die Wege, die sie wählte … und es waren nicht die einfachen Wege. Etwas stand ihr im Weg und Silene hatte ihr übliches kaltes Interesse daran entwickelt, herauszufinden, was es war. Es war kein Interesse, dass von Mitgefühl motiviert wurde, denn es stammte nicht aus dem erfrorenen Herz der Valisar.
    Die Steine vor ihr gaben ihr lediglich die Richtung an, in den sie ihren klaren Blick wenden mussten, doch sie begann die Umrisse einer aufgewühlten Vergangenheit zu sehen. Sie berührte die nächsten beiden Steine, nacheinander, denn sie bildeten eine bedeutende Kombination.
    “Dieser ist der Stein der Not.”, erklärte Silene und deutete auf den ersten Stein, auf dessen Oberfläche dicht schraffiert war. Etwas in der Linienführung wirkte, als wären die Rillen voller Zorn auf den Stein geritzt worden. “Akzeptiert, was geschehen ist. Dann könnt ihr Euch der widmen die Ihr sein wollt. Nichts in Eurem Leben geschah je ohne Folgen nach sich zu ziehen … jedweder Natur. Akzeptiert, dass Ihr nun hier seid, trotz und gerade weil in Eurem Leben schmerzhafte Dinge geschehen sind.“
    Silene pausierte kurz, dachte an Ihr eigenes Leben. Dieses Zeichen verlangte viel von dem, der es zog. Akzeptanz war schwierig, manchmal gar unmöglich, wenn man voller Gefühl und Verletzung war. Der einzige Grund, warum sie in der Lage war, so zu sehen, wie es gerade tat … der einzige Grund war, dass Ihr unausprechliches Leid zugefügt wurde. Noch mehr. Es war Leid, das sie nicht empfinden konnte, dem sie niemals Ausdruck verleihen würde und um welches sie niemals auch nur eine Träne vergossen hatte. Die folgenden Worte sprach sie mit einer Stimme, die eisiger klang als zuvor, denn es waren Worte, die sie sich selbst immer wieder in Erinnerung rief. „Die Vergangenheit ist nichts, als eine Erinnerung.“


    „Die Vergangenheit ist nur eine Erinnerung und Eure Zukunft ist formbar. Noch.”, sagte sie und wies auf den zweiten Stein. “Dies ist das Zeichen des Pferdes. Es rät Euch, einen Verbündeten zu finden, einen Gefährten. Eine jede Begegnung birgt die Möglichkeit etwas aus ihr zu lernen. Dieses Zeichen rät Euch zudem auch, damit nicht zu zögern, denn diese eine Gelegenheit werdet Ihr nur einmal erhalten … und sie wird an Euch vorüberziehen, wenn Ihr sie nicht nutzt.“
    Die blauen Augen der Valisar richteten sich wieder auf das Gesicht der jungen Frau aus und studierten dessen Regungungen gründlich.

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    Friedrich Schiller - Das Lied von der Glocke

  • Fanir nickte stumm, während die Frau ihr gegenüber sprach. Akzeptanz. Würde sie sich dazu durchringen können? Vielleicht, wenn sie es wirklich versuchte, aber leicht würde es nicht werden. Der Stein der Not sah sehr zerkratzt, so als wäre er selbst in Not, dachte Fanir sarkastisch.


    Die Vergangenheit ist nichts als eine Erinnerung, damit konnte Fanir leben. Eine Erinnerung, eine schmerzliche, aber etwas das nicht zurückkommen würde. Nicht in das Jetzt, die wirkliche Welt. War es das was zählte? Fanir wusste, ohne die Erinnerung würde sie nicht leben wollen, denn es waren auch gute Erinnerungen darunter. Doch sie hatte es schon länger geschafft nicht an die Dinge zu denken, die ihr wehtaten. Jedenfalls ohne dass es ihr wehtat.


    Hatte sich das Gesicht der Vasilar verändert? Es war unmerklich und Fanir konnte es nicht deuten. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, wie sie fand auch gerechtfertigterweise. Hier ging es ja auch um sie, oder? Es war ein komisches Gefühl, sich dies bewusst zu machen. Diese Vasilar vor ihr, las ihre Zukunft. Niemand anderes drängte sich jetzt im Mittelpunkt, nein, da war allein sie. Es kribbelte ein bisschen in ihrem Bauch.


    Verbündete, Gefährten... einen Menschen dem ich vertrauen könnte wäre doch schon was, ging es durch ihren Kopf. Der Vasilar vertraute die so, dass sie ihr zwar nicht eine Lüge über ihr zukünftiges Leben sagen würde, aber das war es dann auch. Sie schien so kalt zu sein. Perfekt für das was sie tat, doch darüber hinaus...? Bisher hatte Fanir nicht wirklich das Bedürfniss gehabt, sich jemanden zu suchen. Der Wunsch war klein gewesen, jetzt sie würde es überdenken. Sie nickte nocheinmal entschlossen, erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf den Tisch gestarrt hatte und blickte in die kalten Augen der Vasilar. Die ihren Blick ungerührt erwiderte. Eine Gänsehaut überzog ihre nicht bedeckten Arme.

  • Silene entgegnete regunglos den Blick derjungen Dai'Vaar. Augenkontakt bot der Seherin stets die Gelegenheit, in Blicken zu lesen und in diesem las sie Entschlossenheit. Für einen kurzen Moment wirkte es, als zöge ein Schleier über das klare Eisblau ihrer Iris, dann blickte sie auf die verbliebenen zwei Steine hinab. Sie fügten sich in das Bild der Wahrsagung ein wie ein fehlender Splitter eines Kristalls. Selten waren die Steine so derart klar mit einer Warnung. Etwas in Silenes erhabener Haltung veränderte sich und lies sie noch aufgerichteter wirken.


    „Dieser“, begann sie und deutete auf den vierten Stein der Reihe, dessen Oberfläche nichts zeigte als 5 Punkte, die wie die Ecken eines Pentagons angeordnet waren. „ist der Stein der Fülle … und des Urfeuers. Er verspricht das Feuer der Kreativität, Feuer in welchem Dinge erschaffen werden können, aber auch eines, dass verschlingt, genährt werden muss. Scheut euch nicht vor einem Opfer, denn es wird Euch zu Fülle führen. Ihr müsst zunächst das Gegenteil dessen erfahren, was Ihr Euch wünscht.“


    Silenes Lippen zeigten einen Hauch eines Lächelns, als sich ihre Blicke nochmals berührten. Nur wer den Schatten kannte, konnte das Licht in seiner Vollkommenheit sehen … und dieses Kind der Flammen kannte vielerlei Schatten. Schließlich berührte sie den letzten Stein. Er war kleiner als die anderen, trug die selbe weiße Farbe und wirkte dennoch ungleich leuchtender. Inmitten der makellosen Oberseite des polierten Steines verlief eine schwarze Ader eines anderen Gesteins. Ihr war die Gänsehaut auf den Armen der Dai'Vaar nicht entgangen und wenn Silene selbst eine solche Regung hätte zeigen können, nun wäre der richtige Moment dafür gewesen.


    „Eine deutliche Warnung.“, verkündete sie und ihre Lippen zeigten kein Lächeln mehr und nichts wirkte so, als hätten sie je eines gezeigt. „Bündelt Eure Gedanken, Eure Kräfte und richtet sie auf Euer Ziel. Euer Feuer wird Widersacher anziehen. Diebe, die sich in Euerem Licht baden wollen und Wesen denen es danach trachtet, Euere Flamme ein für alle mal zu löschen.“


    „So klar sah ich eine Bedrohung zuletzt vor vielen, vielen Jahren … nehmt Euch in Acht.“, riet die Valisar, doch ihre Stimme konnte keine Freundlichkeit tragen und so wurde aus einem freundlichen Rat, der aus dem Mund eines Freundes stammen mochte, eine eisige Warnung.

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  • 5 weiße Steine, mehr war es doch nicht, dennoch bekam es Fanir etwas mit der Angst zu tun. Was die Vasilar sagte trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich wohler fühlte. Ihr Blick auch nicht. Eigentlich hätte es für Fanir nichts neues sein müssen, dass sie das mit dem Feuer wusste. Dass sie eine Dai'Vaar, gut, dass sah man ihr vielleicht noch an. Aber das Feuer? Nein, Fanir zweifelte keine Sekunde mehr, dass ihr Gegenüber eine übersinnliche Ader hatte, wenn sie denn je gezweifelt hatte.


    Wenn sie das Gegenteil erfahren würde von dem was sie sich wünschte, müsste sie doch erstmal wissen, was sie sich denn wünschte. Das würde schwer werden, das sah sie jetzt schon. Aber Fanir hatte Zeit. Sie hatte keinen wirklichen Plan, kein wirkliches Ziel, dass sie in die Stadt gezogen hatte, wahrscheinlich sollte sie darüber einmal nachdenken...


    Der letzte Stein, er hatte definitiv etwas magisches. Die anderen hätten auch wahllos zusammengewürfelte Steine aus einem Flussbett gewesen können, aber dieser strahlte etwas aus. Selbst bevor sie es Aussprach, Fanir wahr klar, dies war etwas wichtiges war. Bedeutender als die anderen? Wenn, dann nur unwesentlich, ein Müh, denn für Fanir waren es alles wichtige Dinge gewesen, die die Vasilar ihr erzählte.


    Gefahr, ja, sie war doch eh überall. Auch wenn es bedrohlich klang, Fanir dachte nicht daran sich zu verstecken. Na ja, jedenfalls nicht mehr als sonst. Dennoch kroch ein Gefühl der Kälte in ihr herrauf, als sie sie ansah.


    Sie nickte. Eine Warnung, eine, die sie tatsächlich aber beachten würde. Dennoch, ein was musste sie noch loswerden.


    "Vielen Dank", sie musste sich räuspern, weil sie so lange geschwiegen hatte, "Ihr habt ... es war wirklich unglaublich." Sie machte eine kleine Pause um sich zu fangen, es würde nicht einfach werden. "Könnt Ihr ... Wisst Ihr vielleicht, woher meine Narbe stammt?" Fragend sah sie die Vasilar an. Sie wusste, sie konnte in die Zukunft sehen, ob sie auch etwas aus der Vergangenheit sah? Wenigstens einen kleinen Zipfel. Mehr wollte Fanir nicht, etwas, woran sie sich festhalten konnte, wie die Zukunft, die sich gerade vor ihr ausgebreitet hatte.

  • Eine Frage nach der Vergangenheit. Silene neigte den Kopf ein wenig, deutete ein Kopfschütteln an. „Ich weiß es nicht … aber ich kann versuchen, es für Euch zu sehen.“, antwortete sie und legte ihre gefalteten Hände zwischen sie beide auf den Tisch. „Ich kann Euch jedoch nichts versprechen. Minaril öffnet das Tor zu Vergangenheit nur manchmal und meist nicht weit.“
    Die Seherin erhob sich von ihrem Stuhl, richtete ihre hochgewachsene Gestalt würdevoll auf und trat auf die Laternen zu, von denen in jeder Ecke des Zeltes eine brannte und das seltsame, bläuliche Licht verstreute. Sie drosselte die Flamme einer jeden, sodass es merklich dunkler wurde in ihrem Zelt und unstete Schatten entstanden, die sich im Flackern der Lichter bewegten. Sie warf einige Körner frischen Weihrauchs auf die glühende Kohle in der Räucherschale im hinteren Bereich des Zeltes und fächelte sie sanft mit einem schwarzen Fächer an.
    Schließlich kehrte Silene zurück an den Tisch, ließ sich unendlich elegant nieder und faltete ihre Hände wieder vor sich auf dem Tisch. Der Raum begann sich mit dem nun viel intensiveren Duft von Weihrauch zu füllen, viel schwerer als zuvor, viel weniger erfrischend sondern eher besänftigend. Der Raum mochte abgedunkelt sein, doch Silenes Augen wirkten hell wie ein gefrorener See im Sternenlicht.
    „Ich werde dazu Euere Narbe berühren müssen.“, verkündete die Valisar und wartete auf Zustimmung der Dai'vaar. Als sie diese erhielt, nickte sie sachte und während ihr Blick auf Fanir gerichtet war, bat sie diese erneut darum, ihre Hand zu ergreifen und die Augen zu schließen.
    Eine lange Weile geschah nichts Offensichtliches, doch Silene war der sichtbaren Welt schon längst entflohen. Mit ruhigen, langen Atemzügen, unterbrochen von kurzen Pausen in der Atemfülle und -leere konzentrierte sie ihren Geist auf die Wärme, die, ausgehend von Fanirs Hand, zunehmend von ihr Besitz ergriff. Silenes Augen waren geöffnet, doch ihr Blick wirkte fern, unberührbar, unerreichbar. Viele, lange Atemzüge verharrten die beiden Frauen so.


    Schließlich hob Silene ihre freie Hand, kühl wie ein Novembermorgen und zwei ihrer langen weißen Finger legten sich gleich einem Frosthauch auf den Beginn der Narbe, die das Gesicht der jungen Frau vor ihr zeichnete. Minaril schien gewillt zu sein, Silene einen Einblick zu gewähren, denn hell und unvermittelt, gleich einem gleißenden Blitz durchzuckte sie eine Vision.
    Der unscharfe Umriss eines Frauengesichts, schwebend. Von Zorn und einem gewissen Schmerz entstellt. Reflexion von Licht auf einer Klinge blendet blaue Augen ...

    Silene blieb ungerührt, denn sie wusste, was sie erwartete. Wie der Donner dem Blitz zu folgen pflegt, folgte ein gewaltiger Schwall an Bildern auf das erste Aufleuchten der Vision. Wie eine Lawine rollten die Bilder über sie herein, zu schnell um jedes einzelne genau zu betrachten, doch langsam genug, dass die Seherin eine Antwort erhalten konnte. Silenes abwesender Blick flackerte, dann kehrte er zurück, fixierte Fanir, drückte deren Hand leicht und ließ sie dann los.
    „Sie stammt aus den ersten Tagen Eures Lebens. Diese Erinnerungen sind für gewöhnlich blass und ungenau.“, begann Silene zu erklären und erhob sich um die Laternenflammen wieder zu erhellen. Mit dem zurückkehrenden Licht wichen die Schatten aus dem Raum. „Diese Narbe hat eine von Zorn geführte Klinge in Eurem Gesicht hinterlassen.“
    Die Art und Weise, in der die Valisar fortfuhr lies keinen Zweifel offen. Sie musste jeglicher Gefühle beraubt sein, denn sie sprach völlig ohne Regung, ohne Mitleid, ohne Bedauern. Manchmal wünschte Silene sich, befähigt zu sein zu solchen Regungen, denn sie machten es ungleich leichter, die Wahrheit an Fühlende heranzutragen, ohne sie zu zerbrechen. Ihr lag nichts am Zerbrechen von fühlenden Wesen, im Gegenteil, es passte nicht in ihren Kodex, in ihre Vorstellung von richtig und falsch … und doch sie konnte dem keinen Einhalt gebieten.
    „Eure Mutter führte die Klinge, bevor sie Euch als Säugling vor einer fremden Haustür zurückließ.“

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  • Fanir wurde, wenn es denn ging, noch nervöser. Dass die Vasilar aufstand trug leider nicht gerade dazu bei dass sie sich entspannte. Die Vergangenheit. Schon viel zu oft hatte sie sich gefragt, wer ihr die Narbe zugefügt hatte. Sie hatte die Narbe bereits verflucht, verwünscht, gesegnet und beschuldigt. Viel zu oft wurde sie wegen der Narbe als hässlich bezeichnet, seit sie von zu Hause weggegangen war sogar noch öfter. Nicht wenige Menschen hatten sie als böses Ohmen genommen, etwas vovon man sich besser fernhielt, was dann oft ein Problem für Fanir dargestellt hatte. Aber manchen menschen wollte sie erst gar nicht begegnen, deswegen mochte sie ihre Narbe, manchmal.


    Früher hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre ohne sie, ob sie sich dann trotzdem nicht die Mühe machen würde, sich hübsch zu machen. Sie war zu dem Entschluss gekommen, dass sie dann wahrscheinlich eine ganz andere sein würde. Jemand, den sein äußeres sehr wichtig war, jemand, den sie im Moment jedenfalls nicht sein wollte.


    Fanir war klar, es kamen nicht viele Personen in Frage, die ihr das angetan haben konnten, die Zahl war sehr klein, aber sie musste e wissen. In ihr war etwas, das erst schweigen würde, wenn sie es denn wusste.


    Und so beobachtete sie die Frau bei ihrem Weg durch den Raum mit einer Mischung aus Angst, Sorge, Aufregung und Anspannung. Würde das ihr leben mehr ändern, als die Weisagungen der Vasilar?


    Die eine kalte Hand lag auf Fanirs Narbe, mit der anderen hielten sie sich an den Händen. Sie sah konzentriert aus, schließlich schloss Fanir die Augen und atmete tief durch. Sie versuchte ihre Aufregung unter Kontrolle zu bringen, vergeblich. Als sie das Zeichen bekam, ihre Augen zu öffnen, tat sie es sogleich, in der Hoffnung, es hätte sich irgendetwas geändert. Natürlich war dem nicht so, der Raum sah genauso aus wie vorher.


    Ihre Worte, sie ergaben durchaus Sinn. Auch wenn es Fanir nicht wahrhaben wollte, in ihr war etwas, das diese Möglichkeit schon immer geahnt hatte. Und so konnte sie sich auch zusammenreisen und musste nicht weinen. Nein, sie versuchte sich an einem gleichmütigen Gesichtsausdruck, wie dem der Vasilar. Eher weniger von Erfolg gekrönt.


    "Ich danke Euch. Ihr habt mir viel zum denken gegeben, es ist wohl am besten ich werde nun gehen. Aber bitte sagt, wenn ich etwas für Euch tun kann, als Gegenleistung für Eure Dienste." Fanir wäre gern aus dem Zelt geflüchtet, aber sie fühlte sich, als würde sie ihr etwas schulden. Schließlich hatte sie ihr einen Weg gezeigt, den Weg, über den sie nun nachdenken würde.

  • Zwar waren ihr viele Gefühle verwehrt, doch auch Silene spürte körperlichen Anstrengung, wenn auch vielleicht dumpfer und in abgeschwächter Form. Visionen wie diese hatten die Eigenschaft, viel Kraft zu kosten und so mochte Silenes Gesicht einen winzigen Hauch erschöpfter wirken als zuvor, auch wenn es nach wie vor ein altersloses, ausdrucksloses, makelloses Antlitz war.
    Die Seherin musterte das von Gleichmut ergriffene Gesicht vor sich und erkannte eine Beherrschung darin, die selten war unter den fühlenden Völkern. Vielleicht war Fanirs Mienenspiel das, was andere Fühlende „valisarhaft“ nennen mochten … doch im direkten Vergleich zu Silene schien es bei einem Versuch zu bleiben.
    Dennoch verspürte Silene etwas wie Anerkennung für die vor ihr sitzende Frau mit der überschatteten Vergangenheit und so gab sie sich größte Mühe um eine mit Präzision eingeübte Geste zu vollbringen. Die Valisar legte ihre Hand, die noch immer die Erinnerung an Fanirs Wärme trug, in einer besänftigenden Art und Weise auf die ihre und ihr eisvogelblauer Blick wirkte seltsam … ergriffen, in einer unbestimmten Nuance schimmernd. Silenes Bewegung bewegte die Luft des Raumes und ein kühler Hauch berührte die Dai'vaar.
    Eine unheimlich echt wirkende Geste, die Silene aus reinem Respekt ausführte, ohne einen echten Kern aus echter Berührtheit aufzuweisen.

    „Euer Dank ist mir Lohn genug.“, sagte sie und ihre Stimme klang wie eine hauchdünne Eisschicht auf sich bewegendem Wasser. Minaril hatte sie heute klar und tief sehen lassen, was sie als Zeichen nahm, dass es richtig und wichtig war ein Angebot auszusprechen. „Mein Zelt steht Euch jederzeit offen, solltet Ihr meiner Augen oder Ohren bedürfen.“

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  • Fanir nickte. Ihr war klar, sie würde das Zelt der Vasilar wahrscheinlich nie wieder betreten, sie hatte alle Antworten erhalten, die sie haben wollte. Sie war ihr in einer gewissen Weise dankbar. Dankbar dass sie nun nicht mehr im Dunkeln tappte, was ihre Vergangenheit anging und auch dankbar, dass sie einen gewissen Teil ihrer Zukunft gesehen hatte. Es war dieses Fitzelchen, an dem sie sich nun festhalten würde.


    Sie erhob sich, und verneigte sich vor der Vasilar. "Habt vielen Dank", dann drehte sie sich um und verlies ihr Zelt. Draußen drehte sie sich nicht nocheinmal um.

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