Listen! you hear the grating roar
Of pebbles which the waves draw back, and fling,
At their return, up the high strand,
Begin, and cease, and then again begin,
With tremulous cadence slow, and bring
The eternal note of sadness in.
Matthew Arnold
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Ein eisvogelblauer Abendhimmel spannte sich hoch über Nir'alenar, der Perle, die sich in ihrer gläsernen Muschel barg. Neblig und steif hatte der Tag begonnen, mit einem fast unsichtbaren, leise knisterndem Reif auf den Pflanzen. Doch die sonst so zarten Strahlen der Kuppelsonne hatten den Boden rasch erreicht und erwärmt, sodass es ein ungewöhnlich warmer Tag für diese Jahreszeit wurde. Nicht nur Silene, die Valisar mit der Gabe die Zukunft zu sehen, auch andere Wesen, die unter der Kuppel weilten, konnten in dem stählernen Blau die ungestüme Nacht herannahen sehen. Keine Wolke war es, die den nächtlichen Sturm ankündigte, kein kalter Luftzug. Selbst die Vögel in den Stadtbäumen sangen vereinzelt noch vergnüglich ihre Lieder. Nein, es war vielmehr die Spannung, die in der Luft lag. Eine geradezu knisternde Ladung, welche die Bewohner der Stadt Blicke an den Himmel werfen ließen.
Nur nicht Silene. Die Valisar sah nicht an den Himmel. Ein unnützer Blick, der nichts neues verriet.
Traurig.
Traurig fühlte sich die Valisar nie. Früher hatte sie es gekannt, jenes schmerzende Ziehen in der Brust, die Enge, wie sie in der Kehle entstand, das trockene Brennen, dass sie in den Augen weckte. Früher hatte sie oft geweint, aus Freude, aus Trauer, aus Verzweiflung oder in entfesselter Lust. Heute blieb ihr Auge trocken, so trocken wie es schon seit Jahrzehnten war. Trocken wie das Straßenpflaster unter ihren Schuhen.
Langsam und doch zielstrebig lief sie die Straße hinunter, auf ihrem Weg zu ihrem Anwesen, der durch den Park führte. Wie hätte es auch anders sein können, wie hätte eine Valisar schlendern können, wie hätte sie sich in der Leichtigkeit des Laufens verlieren können? Wie wäre es ihr möglich gewesen, zu genießen was sie tat - ihr Auge schweifte, ja, doch sah es gezielt Dinge an, betrachtete, beobachtete.
In sich spürte sie das kalte Sehen. Es war das einzige Gefühl, dass sie hatte behalten dürfen. Sie fühlte es nicht jeden Tag, nicht jederzeit, doch in diesem Moment, jetzt grub es in ihr. Wie der weiße, dichte Rauch, der über einer Räucherschale aufstieg, wand sich dieses Sehnen durch ihr Innerstes, berührte das erfrorene Herz, ließ es unter der Berührung aufseufzen und erzittern, wie vor Äonen Silene unter der Berührung Geliebter geseufzt hatte.
Dieses Gefühl war gefährlich, denn niemals wieder wollte sie ein warmes Herz erdrosseln. Nie wieder wollte sie das Gefühl in anderen auslöschen, wie sie es getan hatte. Silene, die Verfluchte, sie hatte Herzen gebrochen, verletzt, zerrissen, verbluten lassen. Nun, da ihr eigenes Herz nicht mehr bluten konnte, nun, da es erstarrt war, starr und kalt, staubig wie die Oberfläche eines Mondes, konnte sie all dies nicht mehr empfinden.
Manchmal, da merkte Silene, wie sich das alte Herz daran erinnerte, an längst vergangene Zeiten. Als Silene noch fühlte, als die Valisar noch warm war. Jeden Tag lebte, als sei es ihr letzter. Diese Tage waren längst vergangen, keiner lebte mehr, der ihr von diesen Zeiten hätte erzählen können. Niemand, der sie damals gekannt hatte, wandelte noch unter der Kuppel. Niemand, der den Unterschied hätte sehen oder beschreiben können, außer ihr selbst.
Altes Herz ... altes, kaltes Herz. Wie viel Zeit ist vergangen, seit wir zum letzten Mal im Licht badeten? Wie lange ist es her, dass wir pulsierten, warm, seidig, rauschend das Blut unter der Haut fühlten? Wann hatte der Wind das letzte mal einen Duft getragen ... ein Gefühl, eine Stimmung übertragen? Hat er das jemals getan?
All diese hohlen, leeren Jahre, sie drängten sich der Valisar auf, sie wurden überpräsent, sie würgten sie, sodass die Valisar nicht mehr flach und lautlos atmete, sondern die Luft zischend einatmen musste.
Sie erinnerte sich gut an die ersten Tage nachdem der Fluch sie traf, denn für die Gefühllose lagen diese Tage nicht weit in der Vergangenheit. Für gefühllose, alterlose Wesen verging die Zeit anders. Mit dem Gefühl für Liebe und dem Gefühl der Wärme, weicht auch der Sinn für die Zeit. Ganz zu Beginn war es, als wäre sie gestorben. Ein Nichts. Stille. Silene war tot. Lediglich das vertrocknetes Abbild eines Wesens, dass einst vor Leben gesprudelt hatte.
Wann verschwammen die Grenzen so sehr, dass man sie vergaß?
Wie lange musste man lügen, bis aus der Lüge Wahrheit wurde?
Oder hatte sie diesen Punkt schon längst erreicht?