Alles geben die Götter, die unendlichen,
ihren Lieblingen ganz:
alle Freuden, die unendlichen,
alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Johann Wolfgang von Goethe (aus: "Seefahrt")
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Ein Gewühl von Schatten erfüllte das dichte Unterholz. Die Bäume wiegten sich in einem ruhigen Wind, der die Blätter streichelte und sie stetig flüstern ließ.
Es war zu jener Stunde, zu der die Sonne schon verschwunden, der Mond noch nicht aufgegangen war, weder Tag noch Nacht herrschte, sondern das wispernde Zwielicht einer Zeit zwischen beiden. Die Luft roch schwer und feucht, ein paar dunkle Wolken dräuten am tiefen Düsterhimmel, verdeckten die ersten Sterne. Gefährten waren sie wahrlich, ein Schatten auf zwei Beinen, ein anderer auf vier weichen Pfoten, gleichsam geschmeidig und verschmolzen mit den Wäldern. Nir'alenar lag fern hinter ihren Mauern, hier herrschte niemand über Grund und Bewohner. Alleine dem Gesetz der Natur unterworfen, strichen auch sie beide durch den Wald, die Nasen umweht von Fährtenduft und Waldgeruch.
Ein Schatten nach dem anderen floh vor dem goldenen Glühen eines Paares grüner Wolfsaugen. Layias Sinne waren wach und klar, nichts entging den gespitzen Ohren, nichts der witternden Nase, nichts übersah ihr reflektierender Blick. Ein Lächeln zierte ihre Lippen, malte dunkle Striche auf ihr Gesicht, als die Wolken für einen Augenblick das Sternenlicht freigaben und es zu ihnen vorstieß. Der Wald hatte sie in seine Adern aufgenommen, sie floß davon, trieb wie ein Blatt im Wind.
Ihr Blick fiel auf Argon, den Tua'tanai, zumindest suchte er die Gestalt des Wandlers im nahen Dickicht, dass den bepelzten Körper nur widerwillig freigab. Ein Stich im Herzen, gemischt mit Freude rang ihr ein weiteres Lächeln ab, gleichzeitig mit einem Winseln bettelte ein Wolf in ihrem Inneren um Aufmerksamkeit. Scharrte an den Toren, begann einen Weg nach Außen zu graben.
Layia schluckte.
Viel Schönes hatte sie durch ihn gesehen, viel Hässliches durch ihn erlebt. Viel hatte ihr bewiesen, dass sie stark war, stärker als sie gedacht hatte. Und doch war eine eizige Angst geblieben. Die Angst vor der Angst selbst. Die Angst vor etwas, das sich nicht kontrollieren ließ und sie ihren Verstand verlieren machte. Spitze Eckzähne blitzen aus dem Lächeln, ehe sich die Lippen wieder schlossen. Ein kehliges Knurren nur drang aus der Kehle, eine silberne Perle tropfte aus ihrem Auge, spritzte ungesehen davon als sie ihre Schritte beschleunigte.
Sie ließ sich nichts anmerken, trieb weiter durch das Gehölz, hörte unweit die trappelnden Laute von Pfoten.
Heute sollte die Nacht werden, jetzt sollte der Moment sein, in dem sie loslassen wollte. All das loslassen, das sie so lange bedrückt und gequält, alles was sie in sich verschlossen hatte. Doch zwei Jahrzehnte Angst, zwei Jahrzehnte Furcht, ließen sich nicht einfach vergessen. Sie fühlte weiche Pfoten, die die Erde liebkosen wollten, schüttelte ein pelziges Haupt - und fühlte im selben Moment wieder ihr Gesicht mit den elfischen Zügen. Es ist nicht möglich!, schrie es in ihren Gedanken.
Du hast es gewusst., sagte ihr Herz.