Die Nacht der Shirashai

  • Brennan lächelte Ta'shara an. Natürlich hatte es ihm gefallen, dass Ta'shara die Göttin kennenlernen wollte. Er hoffte nur, sie fühlte sich nicht dazu verpflichtet, weil sie bei ihm wohnte. Doch diese Sorge war nur gering ausgeprägt. Ta'shara mochte vielleicht ihm gefallen wollen, aber der Händler hatte auch diesen Funken Neugierde in ihren Augen gesehen - oder zumindest geglaubt, ihn zu erkennen.


    "Sharinoe." Brennan nahm jetzt das Wort an sich und grüßte die Hohepriesterin auf angemessene Art und Weise.
    "Wir freuen uns, euch persönlich antreffen zu dürfen. Neben Ta'shara habe ich auch Amelie mitgebracht. Ich erzählte ihr von euch und meiner Liebe zum Palast der Nacht und sie wollte das Unglaubliche mit eigenen Augen sehen." Der Vogelhändler war nah an Amelie herangetreten und legte ihr jetzt sanft den Arm um die Hüfte.


    "Ich glaube, beide haben viele Fragen an euch und wir sind euch für die Zeit, die ihr für uns erübrigt mehr als dankbar."

  • Ein leichtes Lächeln trat erneut auf Sharinoes Lippen, doch es blieb undeutbar. Ihre silberfarbenen Augen leuchteten in einem wissenden Licht, während sie von Ta'shara zu Amelie glitten und auf der Nymphe haften blieben, die nun scheu und unsicher wirkte. Sharinoe war sicher, daß es nicht in ihrem Naturell lag, eher der Situation zuzuordnen war. Ja, die Hohepriesterin der Nacht erkannte ein suchendes Herz, obgleich es schwer war, die Absichten der anderen Frau zu ergründen. War sie tatsächlich nur hier, um Brennan zu Gefallen zu sein oder war da mehr? Ihr Blick verharrte auf den Zügen des Halbwesens. Geteiltes Blut strömte durch ihre Adern und machte es schwer, ihr Innerstes zu ergründen.
    Als sie das Wort ergriff, blieb ihre Stimme leise, war aber dennoch von einer solchen Macht erfüllt, daß sich ihr niemand zu entziehen vermochte.


    "Es wäre an Grausamkeit kaum zu überbieten, würde ich euch meine Zeit und meine Aufmerksamkeit verweigern, wenn ihr mit suchendem Herzen zu mir kommt. So scheut euch nicht, eure Fragen offen auszusprechen oder sucht mich zu einer anderen Stunde ohne Begleitung auf, wenn ihr sie nicht mit anderen teilen möchtet."


    Sie schenkte Brennan ein Lächeln, wandte sich jedoch wieder zu den Frauen um. Obgleich sie erkennen konnte, daß ihm selbst Fragen auf dem Herzen liegen mussten, würde er zurücktreten, wenn es darum ging, Suchenden zu Antworten zu verhelfen. Und sie zweifelte daran, daß seine Fragen für die Ohren der Frauen bestimmt sein würden.

  • Amelie blickte auf, als sie Brennans Arm um ihre Hüfte spürte und wagte dann abermals einen Blick zu Sharinoe, als diese sprach. Ein suchendes Herz. Ja, so konnte Amelie ihr eigenes Herz wohl bezeichnen und insgeheim hoffte sie, dass die Suche in dieser Nacht schließlich ein Ende finden würde.


    Doch Amelie empfand es als unhöflich, dass sie sich nicht selbst vorgestellt hatte, also richtete sie nun ihre Worte an Sharinoe. "Bitte verzeiht. Es ist normalerweise nicht meine Art, mich nicht selbst vorzustellen. Wie Brennan bereits erwähnte, hat er mir von Euch und dem Palast erzählt. Anfangs wollte ich seinen Worten keinen Glauben schenken", nach kurzem Überlegen fügte Amelie hinzu: "Nachdem mich vor Jahren meine verehrten Gottheiten missachtet hatten, als ich sie brauchte, habe ich den Glauben an die Götterwelt verloren. Amelie zögerte, bevor sie die Frage stellte, die ihr die ganze Zeit auf der Zunge lag. "Bitte sagt, bin ich dennoch in diesem Tempel erwünscht? Brennan hat mir heute Nacht den richtigen Weg gezeigt, dessen bin ich mir sicher".


    Mit hoffnungsvollem Blick sah sie zu Sharinoe. Amelie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass Sharinoe diese Frage mit einem JA beantwortete.

  • Nachdenklich ruhte Ta'sharas Blick auf der Priesterin. Ihr Lächeln blieb weiterhin so freundlich, wie auch distanziert. Die Götter als solche haben sie nie interessiert. Allenfalls schenkte sie ihnen Beachtung, wenn deren Wirken Eingriffe in ihr eigenes Leben bedeuteten.
    Dies war einmal geschehen durch Narion, doch war Ta'shara selbst lediglich ein Produkt der göttlichen Zwistigkeiten. Kein Grund also, sich näher mit Narion zu befassen.


    Was Brennan anbelangte, lagen die Dinge anders. Er war, ebenso wie Sicil - gewollt oder ungewollt - Teil ihres Lebens geworden. Somit gehörte auch seine Göttin mit zu ihrem Leben.
    Denn sie war es, die sich der ungeteilten Verehrung Brennans gewiss sein konnte. Sie war es, die Brennan die Blutsteine Sicils anvertraut hat und sie war die Göttin ihres Vatervolkes.
    Grund genug für Ta'shara, das Wesen der Göttin erkunden zu wollen. Und eben dies erklärte sie der Priesterin. Lediglich Sicils Blutsteine blieben abermals unerwähnt; sie wusste Brennans Vertrauen zu schätzen.
    "Ich wurde zur Hälfte als Valisar in dieses Leben geboren. Dieses Leben hat mich an Brennans Seite geführt, einen Mann, der die Göttin Shirashai verehrt, die wiederum die Göttin jenes Volkes ist, dem mein Vater entstammt." Ta'shara fixierte den Blick der Priesterin, ehe sie fortfuhr. "Ich hatte bisher keine Veranlassung, mich mit dem Wesen der Göttin zu befassen. Dies hat sich nun geändert."


    Ta'sharas Blick lag ruhig auf Sharinoe, während in ihren Gedanken sich die unterschiedlichen Erklärungen Brennans und Sicils zu den Vorkommnissen in diesem Tempel zu einer erklärbaren Form zu fügen versuchten. Doch waren diese schlicht unvereinbar. Für Ta'shara aber musste es eine Wahrheit geben. Die Pristerin würde ihr nicht die Antworten geben können, nach denen sie suchte, dessen war sich die junge Valisar bewusst. Denn Sharinoe würde nur ein Spiegel Brennans sein, sicher stärker noch in ihrer Ausstrahlung und Überzeugung, aber schlussendlich würde die Frau nichts anderes, als ihre eigene Wahrheit zeigen, die auch Brennans Sicht der Dinge spiegelte. Um vielleicht verstehn zu können, würde sie mit Shirashai selbst sprechen müssen.

  • Der Vogelhändler blieb ruhig. Seine Fragen standen hinten an und eigentlich gab es auch für ihn derzeit nichts Wichtigeres, als dass die beiden Schönen das bekamen, weswegen sie ihm hierhin gefolgt waren Antworten.
    Brennan zögerte. Sein Herz schlug für Shirashai und wenn er Sharinoe ansah, dann merkte er, wie auch bei ihrem Antlitz etwas in ihm wach gerufen wurde, was mit bloßen Worten nicht zu beschreiben war.
    Und doch beschloss er, dass es vielleicht besser war, Amelie und Ta'shara allein mit der Hohepriesterin zu lassen. Nicht, dass er glaubte, "unter Frauen" würde es sich einfacher reden - aber er wollte beide nicht beeinflussen. Und nicht fürchten müssen, dass sie ihm nur gefallen wollte.


    Brennan drehte sich zu Amelie um und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
    "Ich werde die Zeit nutzen und ein wenig beten. Ich warte auf euch, sofern ihr später noch ein wenig Zeit mit mir verbringen mögt." Ein Lächeln folgte seinen Worten, bevor er sich von der Nymphe abwandte und sich zu Ta'shara beugte. Auch die Valisar bekam einen Wangenkuss des Shirashai-Jüngers, bevor Brennan Sharinoe ehrfürchtig zunickte und sich langsam aus dem Séparée der Hohepriesterin entfernte.

  • Nachdem Brennan gegangen war, um seine Gebete in Einsamkeit zu sprechen, wandte sich Sharinoe zu den beiden Frauen um und das Lächeln verschwand von ihren Lippen, ließ Ernsthaftigkeit auf ihren Zügen zurück, als sie Amelie anblickte. Sie neigte sich zu der Nymphe und legte ihre Hand sanft auf die ihre, wohl ahnend, wie sehr sie sich nach Bestätigung sehnen musste. Jedes ihrer Worte war von Sehnsucht durchtränkt. Der Sehnsucht nach jemandem, der ihr den Weg weisen konnte. Uns so war Sharinoes Stimme sanft und doch ermunternd, als sie schließlich das Wort an Amelie richtete.


    "Jeder, der reinen Herzens diesen Tempel betritt und aufrichtig um die Hilfe der Königin der Nacht ersucht, ist bei uns willkommen, ganz gleich, welchen Weg er in seiner Vergangenheit beschritten haben mag. Shirashai fragt nicht danach, was ihr getan habt, bevor euer Fuß die Schwelle ihres Palastes übertreten habt."


    Die Ernsthaftigkeit ihrer Miene wandelte sich zu einem sanften Lächeln voller Zuversicht. Dann wanderte ihr Blick zu der anderen Frau, die keinerlei Emotion verströmte. Ihre eigenen Worte lösten das Rätsel ihrer Herkunft und das Rätsel, warum Sharinoe es nicht vermochte, ihre Motive zu spüren. Die Hohepriesterin musterte sie für einen langen Augenblick mit ihren undurchdringlichen Augen, die an den silbernen Stern Shirashais erinnerten. Auch sie suchte, jedoch auf eine andere Weise als Amelie. Eine kühle Weise, die von ihrem Verstand geprägt war. Ihr Mangel an Emotion machte es schwierig, ihre Gedanken zu entschlüsseln und zu verstehen, was sie im Tempel der Shirashai zu finden erhoffte und Sharinoe wusste instinktiv, daß sie ihr nicht würde bieten können, was sie verlangte. Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen, um die Frauen mit ihren Gedanken allein zu lassen.


    "So fühlt euch in ihrem Palast willkommen, wann immer euch eure Wege hierher führen."

  • Amelie spürte Brennans zarten Kuss auf ihren Wangen und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, das jedoch sogleich wieder verschwand, als sie sah, dass auch Ta'shara einen Kuss bekam. Doch blieb sie ruhig, war es ihr doch in diesem Moment viel wichtiger, was Sharinoe ihr antworten würde.


    Sie blickte hinunter auf ihre Hand, als die Hohepriesterin ihre eigene darauflegte. Aufmerksam beobachtete die Nymphe ihr Gegenüber, während sie sprach. Nun konnte Amelie gar nicht mehr verstehen, weshalb jeder so schlecht über Shirashai redete und erwiderte erleichtert Sharinoes Lächeln, als diese geendet hatte. "Ich danke Euch", entgegnete sie. Daraufhin stand auch Amelie auf und ging hinaus. Sie hatte gehört was sie hören wollte und sicherlich würde sie schon bald in den Palast der Nacht zurück kehren.

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